Entscheidungsstichwort (Thema)
Prüfung der Erwerbsfähigkeit bei Oberschenkelamputierten
Leitsatz (amtlich)
Die Verletzung der dem Gericht obliegenden Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (SGG § 103), wird nicht dadurch nach ZPO § 295 Abs 1 iVm SGG § 202 geheilt, daß der Revisionskläger es unterlassen hat, mangelnde Sachaufklärung schon im Berufungsverfahren zu rügen.
Leitsatz (redaktionell)
Die Beurteilung der Invalidität ist weder von der Unmöglichkeit der Arbeitsvermittlung noch vom Beweis der Erwerbsfähigkeit durch tatsächliche Verrichtung entsprechender Arbeiten abhängig. Vielmehr muß in erster Linie vom Gesundheitszustand des Versicherten ausgegangen werden, mithin von der objektiven, die Gesundheit des Versicherten bedingenden Lage.
Da Oberschenkelamputierte schwere körperliche Arbeiten oder Arbeiten, die mit längerem Stehen verbunden sind, kaum noch verrichten können, muß die Prüfung der Invalidität besonders sorgfältig sein. Aus der Tatsache allein, daß ein Versicherter vom Arbeitsamt nicht vermittelt werden konnte, können nicht schlechthin Schlüsse über seine Erwerbsfähigkeit gezogen werden.
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 295 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12; RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 27. Juni 1955 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Dem im Jahre 1907 geborenen Kläger, der bis zu seinem 17. Lebensjahr als Arbeiter und Kutscher in der Landwirtschaft und danach bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst (August 1939) als Bauhilfsarbeiter tätig war, ist im Jahre 1944 infolge einer Unterschenkelverwundung das rechte Bein zwei Finger breit oberhalb der Kniescheibe amputiert worden. Der Kläger, der sich der Notwendigkeit, eine Prothese zu tragen, angepaßt hat, ist seit 1945 nicht mehr versicherungspflichtig beschäftigt gewesen; er lebt von einer Versorgungsrente (auf Grund einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 70 v.H.), von Unterhaltshilfe nach dem Lastenausgleichsgesetz sowie von Arbeitslosenfürsorge. Die beklagte Landesversicherungsanstalt bewilligte dem Kläger zunächst im Jahre 1947 Invalidenrente vom 1. Juli 1945 an; mit Bescheid vom 6. Januar 1953 entzog sie ihm diese Rente. Nach dem Nachuntersuchungsgutachten des Facharztes für Chirurgie J... Flensburg, vom 10. September 1952 hatte sich der Kläger an den Verlust des rechten Unterschenkels gewöhnt und angepaßt; er sei frei von inneren Leiden, könne im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung arbeiten und sei daher nicht mehr invalide. Der Kläger nahm das gegen den Rentenentziehungsbescheid eingelegte Rechtsmittel zwar zurück, beantragte aber im Juni 1953 erneut die Invalidenrente. Nachdem dieser Antrag unter Hinweis auf § 1635 Reichsversicherungsordnung (RVO) abgelehnt worden war, wiederholte ihn der Kläger im Januar 1954. Dabei berief er sich auf eine Bescheinigung seines behandelnden Arztes Dr. med. S... vom 13. Januar 1954, der die Invalidität wegen der Amputation des rechten Beines, wegen Herzmuskel- und Kreislaufschwäche sowie eines leichten Lungenemphysems bejahte. Die Beklagte ließ den Kläger durch Dr. R... Facharzt für innere Krankheiten, untersuchen, der die Invalidität verneinte. Nach den Gutachten dieses Arztes vom 13. März 1954 ist seit der Untersuchung vom 10. September 1952 eine gewisse Beeinträchtigung des Gesamtbefindens durch eine leichte Kreislaufschwäche und Neigung zu Bronchitis eingetreten; entscheidend habe sich aber nichts verändert, die Fähigkeit zur Arbeitsleistung sei gleichgeblieben. Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 5. April 1954 ab.
Das Sozialgericht (SG.) hob den Ablehnungsbescheid auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger vom 1. Februar 1954 an die Rente zu gewähren. Der vom SG. gehörte Sachverständige, Medizinaldirektor Dr. H..., hatte auf Grund des Verlustes des rechten Beines sowie der leichten Kreislaufschwäche und Neigung des Klägers zu Bronchitis einen Grenzfall angenommen. Das SG. schloß sich diesem Gutachten an, es berücksichtigte ferner, daß für den Kläger in seiner ländlichen Wohngegend kaum noch eine Arbeitsmöglichkeit bestehe. Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG.) nach Anhörung des Sachverständigen Professor G... Facharzt für innere Krankheiten, zurück: Mit diesem Gutachter sei anzunehmen, daß die Atembeschwerden des Klägers, eine leichte Kreislaufschwäche und seine Neigung zu Bronchitis für die Beurteilung der Invalidität nicht ins Gewicht fielen. Der Kläger sei ein großer kräftiger Mann, der seit früher Jugend im Baugewerbe als Stein- und Kalkträger gearbeitet habe. In diesem Arbeitsbereich sei er unzweifelhaft nicht mehr verwendbar. Mit der Prothese bewege er sich dank seiner beträchtlichen Energie ziemlich rasch und verhältnismäßig gewandt. Er habe sich auch, wie die Akten des Arbeitsamtes ergäben, stets als arbeitsfähig bezeichnet und sich ausdrücklich für Arbeiten als Bote, ja sogar als Eisenbieger und als Arbeiter an der Mischmaschine für geeignet erklärt. Wenn er trotzdem seit dem Jahre 1945 in kein Arbeitsverhältnis habe vermittelt werden können, so liege das offenbar nicht an seinem mangelnden Arbeitswillen. Es sei vielmehr der unmittelbare Beweis dafür, daß dem Kläger wegen seiner Amputation leistungsfähigere Bewerber vorgezogen worden seien.
Dadurch ergebe sich eindeutig, daß der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsfeld nur sehr bedingt wettbewerbsfähig sei. Dies bestätige die Auffassung des Berufungsgerichts, daß ein Arbeiter, dem ein Bein im Oberschenkel, abgesetzt worden ist, regelmäßig als invalide anzusehen sei, weil seine Erwerbsfähigkeit auf mehr als die Hälfte herabgesetzt sei. Daher falle nicht erheblich ins Gewicht, daß der auf dem für eine Arbeitsvermittlung sehr ungünstigen flachen Lande wohnende Kläger auch nicht in die Stadt habe vermittelt werden können, obwohl er sich dem Arbeitsamt gegenüber dazu bereit erklärt habe, mit dem Omnibus zur Arbeit zu fahren. Mangels eines Beweises, daß der Kläger trotz seiner Prothese in dem gesetzlich erforderlichen Umfang zumutbare Arbeiten verrichten könne, dürfe nicht allein aus seiner mehr oder weniger großen Beweglichkeit gefolgert werden, daß er trotz der Oberschenkelamputation nicht invalide sei. Er könne auch nicht, wie die Beklagte offenbar annehme, einem Unterschenkelamputierten gleichgestellt werden; denn ein Unterschenkelamputierter mit funktionstüchtigem Kniegelenk habe arbeitsmäßig einen erheblichen Vorteil.
Das Urteil des LSG., in dem die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen ist, wurde der Beklagten am 19. August 1955 zugestellt. Sie beantragt mit ihrer beim Bundessozialgericht (BSG.) am 13. September 1955 eingegangenen Revision,
die Urteile des Landessozialgerichts vom 27. Juni 1955 sowie des Sozialgerichts vom 24. Februar 1955 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Mit der am 7. Oktober 1955 beim BSG. eingereichten Begründung der Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 103 SGG und des § 1254 RVO a.F.. Das LSG. habe keine Ermittlungen darüber angestellt, welche Arbeiten dem Kläger noch zugemutet werden könnten und ob er damit noch die in § 1254 RVO a.F. geforderte Lohnhälfte verdienen könne.
Die Angaben des Versicherten hierüber sowie die Untersuchung durch einen Arzt allein könnten die angefochtene Entscheidung nicht stützen. Das LSG. hätte die Invalidität des Klägers unter Zugrundelegung seines bisherigen Berufes und seines Lebensalters prüfen müssen und hätte nicht unter Hinweis auf sein Urteil vom 29. April 1954 (Breithaupt 1954 S. 1038) von der allgemeinen Annahme ausgehen dürfen, ein Amputierter sei mindestens um 60 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Ein Arbeiter, der bisher nur Tätigkeiten im Sitzen ausgeführt habe, zu denen er auch nach der Amputation in der Lage sei, sei in seiner Erwerbsfähigkeit überhaupt nicht eingeschränkt. Es komme darauf an, wie ein Versicherter seine beruflichen Kenntnisse nach dem Verlust eines Körpergliedes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkte noch wettbewerbsfähig einsetzen könne. Das LSG. hätte auch prüfen müssen, ob dem im Jahre 1907 geborenen Kläger nicht eine Umschulung zugemutet werden könne. Die Invalidität könne nicht nur dann verneint werden, wenn der Versicherte über einen längeren Zeitraum durch tatsächliche, wirtschaftlich nutzbringende Arbeit bewiesen habe, daß er sich auf dem allgemeinen Arbeitsfeld behaupten könne. Eine solche Arbeitsleistung biete bestenfalls einen nützlichen Hinweis. Maßgebend sei allein, was der Versicherte objektiv leisten könne, nicht was er geleistet habe; sonst würde der Arbeitsscheue belohnt werden. Auf Grund der bekannt schlechten Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt an der Westküste Schleswig-Holsteins dürfe nicht gefolgert werden, der Kläger sei invalide.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Nach der Ansicht des Klägers scheitert die Rüge der Verletzung des § 103 SGG schon daran, daß die Beklagte das Rügerecht nach § 202 SGG i.V. mit § 558 Zivilprozeßordnung (ZPO) verloren habe, weil sie die Gelegenheit, die Rüge der mangelnden Sachaufklärung vorzubringen, im Verfahren vor dem LSG. nicht wahrgenommen habe. Im übrigen hätte sie, wenn sie diese Rüge dort vorgebracht hätte, ihr eigenes Verhalten gerügt; denn sie habe vor Erlaß des hier angefochtenen Ablehnungsbescheides selbst nicht geprüft, welche Arbeiten der Kläger in seiner Wohngegend noch verrichten könne. Die Rüge der Verletzung des § 1254 RVO a.F. gehe fehl. Wenn der Versicherte, wie das LSG. festgestellt habe, seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben könne und wenn er die von ihm erlangten Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkte nicht mehr wettbewerbsfähig einsetzen könne, so liege Invalidität vor. Finde der Kläger trotz seines Arbeitswillens keine Arbeit, so sei daraus nicht mit der Beklagten der Schluß zu ziehen, daß dies allein an der schlechten Arbeitsmarktlage in der Wohngegend des Klägers liege, sondern - wie das LSG. entschieden habe - daß dem Kläger leistungsfähigere Bewerber vorgezogen würden und daß er deshalb nur sehr bedingt wettbewerbsfähig sei. Eine Verweisung des Klägers auf Tätigkeiten als Pförtner, Fahrstuhlführer, Bote und dergleichen sei ausgeschlossen, weil es nicht genügend entsprechende Tätigkeiten gebe. Er könne nur auf ihm zumutbare Arbeiten verwiesen werden. Tätigkeiten in der Landwirtschaft oder als Bauhilfsarbeiter, die er vor seiner Amputation ausgeübt habe, schieden von vornherein aus.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte und auch rechtzeitig begründete Revision ist statthaft, weil sie das LSG. zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch begründet.
Das LSG. hat sein Urteil zwar nicht - wie dies von der Beklagten gerügt wird - in erster Linie auf einen Erfahrungssatz des Inhalts gestützt, ein Oberschenkelamputierter sei, falls kein besonderer Ausnahmefall vorliege, trotz ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung und längerer Anpassung an seinen Zustand grundsätzlich invalide im Sinne des Gesetzes; auf einer solchen Beurteilung beruht im wesentlichen das Urteil des SG. Das LSG., auf dessen Beurteilung es im jetzigen Revisionsverfahren allein ankommt, erwähnt den angeführten Erfahrungssatz nur beiläufig, indem es nach Darlegung des Arbeitswillens des Klägers und nach der auf Grund der Akten des Arbeitsamts getroffenen Feststellung, daß der Kläger seit 1945 in kein Arbeitsverhältnis habe vermittelt werden können, zusätzlich ausführt: "Der Senat findet dadurch seine im Urteil vom 29. April 1954 (vgl. Sammlung Breithaupt 1954 S. 1038) begründete grundsätzliche Auffassung bestätigt, daß ein Arbeiter, dem ein Bein im Oberschenkel amputiert worden ist, regelmäßig als invalide anzusehen ist, seitdem die Grenze der "Invalidität" von 2/3 auf 1/2 Verdienst- und Erwerbsfähigkeit herabgesetzt worden ist". Ein Erfahrungssatz dieses Inhalts besteht allerdings nicht (BSG. 2 S. 127).
Das angefochtene Urteil unterliegt jedoch anderen rechtlichen Bedenken. Das LSG. ist nach Wiedergabe der vor dem Beinverlust vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten bei der Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit im wesentlichen davon ausgegangen, der Kläger habe sich dem Arbeitsamt gegenüber sogar bereit erklärt, als Eisenbieger oder als Arbeiter an der Betonmischmaschine tätig zu sein; er habe jedoch nicht einmal für eine Tätigkeit als Bote, für die er sich auch bereit erklärt habe, vermittelt werden können. Sodann hat das LSG. aus der Feststellung, der Kläger habe bisher vom Arbeitsamt nicht vermittelt werden können, gefolgert, er habe keine Gelegenheit gehabt, den Beweis zu führen, daß er im erforderlichen Maße arbeiten könne, und mangels dieses Beweises könne - trotz der verhältnismäßig guten Beweglichkeit des Klägers - nicht geschlossen werden, er sei nicht invalide. Der Schluß des LSG., die Tatsache seiner Nichtvermittlung beweise, daß er invalide sei, geht jedoch fehl. Denn § 1254 RVO a.F., der für die Entscheidung über den Rentenanspruch bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (ArVNG) maßgebend ist, hat die Beurteilung der Invalidität weder von der Unmöglichkeit der Arbeitsvermittlung noch vom Beweis der Erwerbsfähigkeit durch tatsächliche Verrichtung entsprechender Arbeiten abhängig gemacht. Nach § 1254 RVO a.F. muß bei Prüfung der Erwerbsfähigkeit vielmehr in erster Linie vom Gesundheitszustand des Versicherten ausgegangen werden, mithin von der objektiven, die Gesundheit des Versicherten bedingenden Lage. Sodann ist zu prüfen, welche Arbeiten der Versicherte noch verrichten kann, d.h. welche Fähigkeiten zur Verrichtung von Arbeiten er tatsächlich noch besitzt und ob er durch eine seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit, die ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufs zugemutet werden kann, imstande ist, die für ihn maßgebende Lohnhälfte zu verdienen. Da Oberschenkelamputierte schwere körperliche Arbeiten oder Arbeiten, die mit längerem Stehen verbunden sind, kaum noch verrichten können, muß diese Prüfung besonders sorgfältig sein. Z.B. kann der tatsächlich erzielte Verdienst dann nicht als Maßstab für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit herangezogen werden, wenn der Versicherte den Lohn nur unter besonders günstigen Umständen erreicht, oder wenn der Lohn nur aus sozialem Entgegenkommen gezahlt wird. Andererseits können aus der Tatsache allein, daß ein Versicherter vom Arbeitsamt nicht vermittelt werden konnte, nicht schlechthin Schlüsse über seine Erwerbsfähigkeit gezogen werden. Dafür, daß der Kläger bisher vom Arbeitsamt nicht vermittelt werden konnte, können die verschiedensten Gründe maßgebend sein. Das angefochtene Urteil enthält aber, ohne auf diese Gründe einzugehen, keinerlei Feststellungen darüber, welche Arbeiten ihm noch zuzumuten sind und ob Arbeitsplätze dieser Art in dem hier in Betracht kommenden Wirtschaftsgebiet oder in einer für den Kläger erreichbaren Nähe vorhanden sind. Wenn der Kläger bisher weder eine leichte Beschäftigung - das LSG. erwähnt den Dienst als Bote, der ohnehin wegen der vermutlich nur geringen Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze ausscheiden dürfte - noch schwere Arbeiten finden konnte - das LSG. erwähnt die Tätigkeiten als Eisenbieger oder als Arbeiter an der Mischmaschine, die jedoch einem Oberschenkelamputierten kaum zuzumuten sind -, so schließt dies nicht aus, daß er etwa fähig war, mittelschwere Arbeiten, z.B. als Magazinverwalter, Platzaufseher oder Geräteverwalter einer größeren Baufirma oder im wesentlichen im Sitzen auszuübende Tätigkeiten, etwa in einer größeren Fabrik, zu verrichten. Die beklagte Landesversicherungsanstalt hat zwar, worauf der Kläger zutreffend hinweist, ihrerseits keine Angaben darüber gemacht, auf welche Tätigkeiten der Kläger etwa verwiesen werden könnte. Wenn sie dadurch auch wenig zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen hat, so enthob dies doch das Gericht nicht der Pflicht, unter Berücksichtigung der Vorschriften des materiellen Rechts den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG). Die Verletzung dieser Pflicht kann nicht etwa - wie der Kläger meint - dadurch nach § 295 Abs. 1 ZPO i.V. mit § 202 SGG als geheilt angesehen werden, daß die Beklagte nicht schon vor dem LSG. mangelnde Sachaufklärung gerügt hat. Denn die Beteiligten können auf die Befolgung des Grundsatzes der Amtsermittlungspflicht, der im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit gilt und vorwiegend im öffentlichen Interesse aufgestellt ist, nicht wirksam verzichten (202 SGG i.V.m. § 295 Abs. 2 ZPO). Im übrigen setzt die Heilung eines Verfahrensmangels durch Unterlassen einer Rüge nach § 295 Abs. 1 ZPO voraus, daß der Beteiligte den Mangel kennt oder daß er ihm bekannt sein mußte. Die Aufklärungspflicht hängt aber wesentlich von der sachlich-rechtlichen Auffassung des Gerichts ab, die die Beteiligten mit Sicherheit erst durch die Urteilsgründe erfahren. Auch deshalb kann ein Verzicht auf die Befolgung des Grundsatzes der Amtsermittlungspflicht nicht in Betracht kommen. Da somit das LSG. die Invalidität des Klägers unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht des § 103 SGG bejaht hat, war sein Urteil aufzuheben. Mangels entsprechender Feststellungen des Berufungsgerichts konnte der erkennende Senat keine Entscheidung in der Sache selbst treffen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das LSG. wird nunmehr - gegebenenfalls im Benehmen mit dem Arbeitsamt - prüfen müssen, welche Tätigkeiten dem Kläger noch zugemutet werden konnten und ob er durch eine ihm zumutbare Tätigkeit in seiner Wohngegend oder in erreichbarer Nähe die für ihn maßgebende Lohnhälfte hätte verdienen können. Hierbei ist zu beachten, daß der Kläger sich auch auf Arbeiten verweisen lassen muß, die er - ohne eigentliche Umschulung - nach kurzer Anlernzeit verrichten kann. Es kommt bei der Prüfung der Erwerbsfähigkeit des Klägers darauf an, ob er auch ohne die Hilfe und den Schutz des Schwerbeschädigtengesetzes imstande wäre, eine ihm zuzumutende Tätigkeit zu verrichten und damit die sogenannte gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen (BSG. 1 S. 82, hier: 89,90). Soweit der Kläger nach dem ArVNG Rente für die Zeit vom 1. Januar 1957 an begehrt, wird der beklagten Landesversicherungsanstalt erforderlichenfalls noch Gelegenheit zur Prüfung zu geben sein, ob die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Maßnahmen der Berufsförderung wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann (§§ 1236, 1237 RVO n.F.).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen