Leitsatz (amtlich)
Wer aus einer Tätigkeit eines ungelernten Arbeiters, die nicht geeignet ist, besondere Kenntnisse, Fähigkeiten oder Fertigkeiten zu vermitteln, in eine andere gleich zu wertende Beschäftigung übertritt, nimmt keinen Wechsel des Berufs im Sinne der 3. BKVO Anl Nr 19 Fassung: 1952-07-26 vor; dies ist auch dann nicht der Fall, wenn der Versicherte die frühere Tätigkeit jahrelang ausgeübt hat.
Leitsatz (redaktionell)
Wird ein versicherter Hilfsarbeiter durch eine schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankung außer Stand gesetzt, seine besonders erworbenen Fähigkeiten künftig zu verwerten, so genießt er nach dem Zweck der 3. BKVO Anl Nr 19 Versicherungsschutz.
Normenkette
BKVO 3 Anl 1 Nr. 19 Fassung: 1952-07-26; BKVO 5
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Januar 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der im Jahre 1905 geborene Kläger ist gelernter Kaufmann. Von 1940 bis 1945 war er Soldat. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft betrieb er - ebenso wie vor dem Kriege - einen Großhandel, mußte diesen aber wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten wieder aufgeben. Vom 19. Oktober 1950 bis 31. Mai 1954 war er als Hilfsarbeiter in der Wäscherei der Textilwerke P & Z AG. in V beschäftigt. Hier zog der Kläger sich durch den Umgang mit Essigsäure, Natronlauge, Schwefelsäure und chrombehandelten Stoffen eine Hauterkrankung zu. Die ersten ekzemartigen Erscheinungen an beiden Händen in Form stark juckender Bläschen traten im Februar 1953 auf; deswegen war der Kläger vorübergehend arbeitsunfähig. Nach ärztlicher Behandlung konnte er die Arbeit fortsetzen, erlitt jedoch immer wieder Rückfälle, sobald er mit Säuren und Laugen in Berührung kam. Deshalb gab er mit Ablauf des Monats Mai 1954 seine Tätigkeit bei der Firma P & Z auf. Nach fast einjähriger Arbeitslosigkeit war er zunächst als Hausmeister in einem Kindererholungsheim des Deutschen Roten Kreuzes beschäftigt; dann nahm er eine Stelle als Hilfsarbeiter bei einer englischen Dienststelle in V an.
Den auf Grund der Nr. 19 der Anlage zur Dritten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten (3. BKVO) in der Fassung der 5. BKVO erhobenen Entschädigungsanspruch des Klägers lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 6. Dezember 1954 ab. Zur Begründung führte sie aus: Nach den ärztlichen Gutachten stehe zwar fest, daß die Hauterkrankung eine Folge der Tätigkeit in der Färberei und Wäscherei der Textilwerke P & Z sei und daß die Erkrankung den Kläger zur Aufgabe dieser Tätigkeit gezwungen habe; dabei habe es sich jedoch um eine reine Hilfsarbeitertätigkeit und nicht um einen Beruf gehandelt. Deshalb liege in der Aufgabe der Tätigkeit kein Wechsel des Berufs.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG.) Düsseldorf durch Urteil vom 9. November 1956 abgewiesen, weil es an der Anspruchsvoraussetzung des Berufswechsels oder der Aufgabe jeder Erwerbstätigkeit fehle. Das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung des Klägers nach Beweiserhebung durch Urteil vom 7. Januar 1958 zurückgewiesen.
Über die Art der Beschäftigung, auf welche die Hauterkrankung des Klägers zurückzuführen ist, hat das LSG. folgende Feststellungen getroffen: Der Kläger sei bei der Firma P & Z stets als Hilfsarbeiter eingesetzt gewesen und auch als solcher entlohnt worden. Die von ihm verrichteten Tätigkeiten seien verschiedener Art gewesen; er sei von Fall zu Fall eingesetzt worden, wo eine Hilfskraft gefehlt habe. Im wesentlichen habe er den Lauf der Stoffe durch die Waschmaschine beobachtet und sie später auf einen Transportwagen geladen. Zeitweise sei er an der Zentrifuge und an der Schleudermaschine eingesetzt gewesen. Nach August 1953 habe er die Kräuselmaschine, eine einfache Waschmaschine, zu bedienen gehabt. Alle diese Tätigkeiten hätten keine besondere Vorbildung oder Kenntnisse vorausgesetzt; sie hätten von jedem durchschnittlich veranlagten Hilfsarbeiter nach einer Einweisung von wenigen Tagen ausgeübt werden können.
Diese Beschäftigung des Klägers hat das LSG. als eine von keinen besonderen Kenntnissen und keiner nur durch langdauernde Beschäftigung zu erwerbenden Geschicklichkeit abhängende Hilfsarbeitertätigkeit angesehen. Es hat ausgeführt: Wer eine solche Arbeit aufgebe, um eine andere gleichermaßen unqualifizierte - wenn auch geringer entlohnte - Tätigkeit auszuüben, nehme keinen "Wechsel des Berufs" vor, sondern wechsele lediglich seinen Arbeitsplatz. Nach Sinn und Zweck der unter Nr. 19 der Anlage zur 5. BKVO getroffenen Regelung solle Versicherungsschutz genießen, wer wegen eines vorzunehmenden Berufswechsels nicht mehr in der Lage sei, seine Geschicklichkeit, Kenntnisse und Fähigkeiten, die er durch besondere Ausbildung, Anlernung oder durch langdauernde fachliche Tätigkeit erworben habe, bei einer neu aufzunehmenden Beschäftigung in gleicher Weise nutzbringend zu verwerten. Eine solche wirtschaftliche Schlechterstellung habe den Kläger nicht getroffen; denn seine zeitweilige Arbeitslosigkeit und - möglicherweise eingetretene - niedrigere Entlohnung seien nicht auf die Unmöglichkeit zurückzuführen, früher erworbene Fähigkeiten anzuwenden und zu verwerten.
Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 4. Februar 1958 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 26. Februar 1958 Revision eingelegt, und diese am 24. März 1958 im wesentlichen wie folgt begründet: Das LSG. habe den Begriff des Berufswechsels verkannt; dieser setze nicht voraus, daß ein erlernter Beruf oder eine qualifizierte Hilfsarbeitertätigkeit aufgegeben werde. Die Berufskrankheit sei ein Sonderfall des Arbeitsunfalls. Da der Kläger eine der in §§ 537 bis 540 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufgeführten Tätigkeiten ausgeübt und sich dabei eine Erkrankung nach Nr. 19 der Anlage zur 5. BKVO zugezogen habe, die ihn zum Aufgeben seiner langjährigen Arbeitstätigkeit bei der Firma P & Z gezwungen habe, liege ein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall im Sinne des § 545 in Verbindung mit § 542 RVO vor. Entgegen der Auffassung des LSG. sei für den Begriff des Berufswechsels wesentlich und ausreichend, daß als Folge der durch die Hauterkrankung beendeten bisherigen Erwerbstätigkeit des Klägers ein sozialer Abstieg, verbunden mit erheblichen wirtschaftlichen Folgen und Verlusten an Arbeitseinkommen, eingetreten sei. Während der Kläger bei der Firma P & Z monatlich 420,- DM verdient habe, habe sein Arbeitseinkommen als Hausmeister nur rund 280,- DM und bei der englischen Dienststelle in V: 310,- DM betragen. Unter weiterer Berücksichtigung der Zeiten seiner Arbeitslosigkeit habe er einen Gesamtverlust an Arbeitseinkommen in Höhe von 7.831,50 DM gehabt. Da der Kläger noch immer an der Hautkrankheit leide, seien ihm viele Stellen des Arbeitsmarktes verschlossen, namentlich in den Betrieben der Textil- und der Nahrungsmittelindustrie. Außerdem sei ihm die nahe liegende Möglichkeit einer berufsmäßigen Besserstellung und eines sozialen Aufstiegs in dem Betrieb, in dem er dreieinhalb Jahre tätig gewesen sei, genommen worden. Unter "Beruf" seien nicht nur die Tätigkeiten zu verstehen, die der Versicherte zur Zeit der durch die Berufskrankheit erzwungenen Aufgabe seiner Arbeit ausgeübt habe, sondern auch die Entwicklungsmöglichkeiten und der berufliche Aufstieg, die dem Versicherten bei ungestörter Fortdauer seiner Erwerbstätigkeit zugefallen wären.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, seine Hauterkrankung als entschädigungspflichtige Berufskrankheit anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Hinsichtlich der Auslegung des Begriffs Berufswechsel tritt sie der Auffassung des LSG. bei. Im übrigen hält sie den Klageanspruch schon deswegen für unbegründet, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) des Klägers nach der vom LSG. getroffenen Feststellung nur 10 v. H. betrage, also den zum Bezug einer Rente berechtigenden Grad nicht erreiche.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Von dieser Befugnis (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) hat das Bundessozialgericht (BSG.) Gebrauch gemacht.
II
Die Revision ist kraft Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthaft, sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, sachlich hatte sie jedoch keinen Erfolg.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Revision allerdings nicht schon deswegen unbegründet, weil nach den Ausführungen des LSG. der Sachverständige Prof. Dr. G die krankheitsbedingte MdE. des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit 10 v. H. bewertet hat und dieser Grad der MdE. nicht zum Bezug einer Rente berechtigt (§ 559 a Abs. 3 RVO). Das LSG. hat sich diese Bewertung nicht zu eigen gemacht, vielmehr die Frage offen gelassen und ausgeführt, es komme auf den Grad der MdE. des Klägers nicht an, weil er nicht zum Wechsel des Berufs gezwungen gewesen sei.
Der Auffassung des LSG., im vorliegenden Falle fehle es an der Anspruchsvoraussetzung des Zwangs zum "Wechsel des Berufs", ist der erkennende Senat beigetreten. Das LSG. ist mit Recht davon ausgegangen, daß unter Nr. 19 der Anlage zur 5. BKVO nicht nur der Wechsel eines erlernten Berufs fällt, sondern unter gewissen Voraussetzungen auch der Wechsel einer ungelernten Tätigkeit. In der Regel liegt, wenn ein den Beruf eines Gelegenheits- oder Hilfsarbeiters ausübender Versicherter sein Betätigungsfeld wechselt, indem er von einer ungelernten Arbeit zu einer anderen ungelernten Arbeit übergeht, kein Wechsel des Berufs vor, sondern lediglich ein Wechsel des Arbeitsplatzes. Eine andere Beurteilung ist geboten, wenn eine Hilfsarbeitertätigkeit zu besonderen, durch Anlernung oder langdauernde Arbeit erworbenen Kenntnissen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten führt, die das Unterkommen des Versicherten in Betrieben gleicher Art begünstigen und deshalb den Wert seiner Arbeitskraft auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erhöhen. Wird ein solcher Versicherter durch eine schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankung außer Stand gesetzt, seine durch die frühere Beschäftigung erworbenen Kenntnisse oder Fähigkeiten künftig zu verwerten, so genießt er nach dem der Regelung der Nr. 19 der Anlage zur 5. BKVO zugrunde liegenden Zweck Versicherungsschutz, weil er in der Ausnutzung seiner Arbeitskraft erheblich beeinträchtigt ist. Mit dieser Auffassung befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA.) und der herrschenden Meinung im Schrifttum (vgl. RVA., EuM. 44 S. 131 und S. 133, Fußnote, sowie EuM. 46 S. 125; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 15. Februar 1959, Bd II S. 490 k, l; Homey, BG. 1950 S. 147 und 169; Wende, Berufsdermatosen 1953 S. 156 (159)). Der weitergehenden Auffassung von Schulte-Holthausen (BG. 1939 S. 285 (287); ähnlich Koelsch , Die meldepflichtigen Berufskrankheiten 1952 S. 41), daß bei einem Hilfsarbeiter nur auf die Dauer der Tätigkeit abzustellen und bei langdauernder Tätigkeit nicht zu fragen sei, ob der Versicherte besondere Kenntnisse oder Fähigkeiten erlangt habe, hat sich der Senat nicht angeschlossen. Wer - wenn auch jahrelang - als Hilfsarbeiter nur Tätigkeiten ausübt, die ebensogut von jedem ungelernten Arbeiter aufgrund einer einfachen Anweisung verrichtet werden können, verschlechtert seine Verdienstmöglichkeiten nicht in meßbarer Weise und ist deshalb in seinem beruflichen Fortkommen nicht beeinträchtigt, wenn er infolge einer Hauterkrankung seine bisherige Arbeit mit einer anderen ungelernten Arbeit vertauscht.
Unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung hat das LSG. in der Hauterkrankung des Klägers mit Recht keine zur Entschädigung nach den Vorschriften des Dritten Buches der RVO verpflichtende Berufskrankheit gesehen. Nach den im Berufungsurteil getroffenen, das BSG. bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen hat der Kläger während seiner dreieinhalbjährigen Tätigkeit in der Wäscherei der Textilwerke P & Z alle möglichen einfachen Arbeiten verrichtet. Er war zwar meistens mit ein und derselben Verrichtung befaßt, indem er den Lauf der Stoffe durch die Waschmaschine beobachtete und später die Verladung auf einen Transportwagen vornahm, jedoch handelte es sich hierbei - ebenso wie bei der Bedienung der Kräuselmaschine - um einfache Tätigkeiten, die keine besondere Vorbildung oder Kenntnisse voraussetzten und von einem Hilfsarbeiter nach kurzer Einweisung ausgeübt werden konnten. Die Feststellungen des LSG. geben keinen Anhalt, daß diese Tätigkeiten geeignet gewesen wären, dem Kläger irgendwelche besonderen, die Verdienstaussichten in einem gleichartigen Betriebe erhöhenden Kenntnisse, Fähigkeiten oder Fertigkeiten zu vermitteln. Infolgedessen kann der Kläger nicht als ein zum Wechsel des Berufs gezwungener Versicherter angesehen oder einem solchen gleichgestellt werden.
Diese Betrachtungsweise erfährt keine Änderung dadurch, daß der Kläger seine Tätigkeit bei der Firma P & Z zunächst mit einer längeren Arbeitslosigkeit und dann mit geringer entlohnten Beschäftigungen vertauschen mußte. Diese wirtschaftliche Schlechterstellung beruht nicht auf der Unmöglichkeit, Gelerntes oder Angelerntes in einem gleichartigen Betrieb lohnfördernd zu verwerten, und ist deshalb nicht geeignet, einen Wechsel des Arbeitsplatzes als Wechsel des Berufs erscheinen zu lassen. Aus demselben Grunde ist es rechtlich unerheblich, daß dem Kläger infolge seiner Hauterkrankung möglicherweise ein sozialer Aufstieg bei der Firma P & Z verschlossen geblieben ist. § 1 in Verbindung mit Nr. 19 der Anlage zur 5. BKVO bietet keine Garantie für ein der Lebenserfahrung entsprechendes Fortkommen in ein und demselben Berufe, vielmehr sieht die getroffene Regelung nur eine Entschädigung für die mit einem erzwungenen Berufswechsel in der Regel verbundene Einbuße an Betätigungs- und damit an Verdienstmöglichkeiten vor.
Der Hinweis des Klägers, ihm seien infolge seiner Hauterkrankung viele Stellen des Arbeitsmarktes verschlossen, könnte allenfalls für die Bewertung der MdE. des Klägers von Bedeutung sein; für die Beantwortung der Frage, ob in dem Übergang von einer Hilfsarbeitertätigkeit zur anderen ein Wechsel des Berufs zu sehen ist, kommt es hierauf nicht an.
Da es sich bei der durch die Hauterkrankung veranlaßten Veränderung in der Erwerbstätigkeit des Klägers somit nicht um einen Wechsel des Berufs handelt und der Kläger, wie feststeht, auch nicht zu jeder Erwerbsarbeit außerstande ist, hat er keinen Anspruch auf Entschädigung nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 545 RVO in Verbindung mit § 1 und Nr. 19 der Anlage zur 5. BKVO).
Die Revision mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen