Leitsatz (amtlich)
1. Hat das Gesetz (hier: RRG Art 6 § 8; ArVNG Art 2 § 26a) eindeutig den Geltungsbereich und das Inkrafttreten einer für den Versicherten nachteiligen Vorschrift (hier: RVO § 1295 Fassung: 1972-10-16) geregelt, ist der an Gesetz und Recht gebundene Richter (GG Art 20 Abs 3) nicht befugt, kraft Richterrechts den Zeitpunkt des Inkrafttretens unter Berufung auf die Zwecke und Ziele des Gesetzes vorzuverlegen.
2. Auch aus einem einzigen nach der am 1972-10-18 erfolgten Verkündung des RRG bis zum Inkrafttreten des RVO § 1295 Fassung: 1972-10-16 am 1973-01-01 entrichteten Beitrag zur Höherversicherung ist dem Versicherten Rente zu gewähren, wenn der Versicherungsfall vor dem 1973-01-01 eingetreten ist (Anschluß an BSG 1975-07-31 5 RJ 91/74).
Normenkette
RVO § 381 Abs. 4 Fassung: 1970-12-21, § 1234 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 1 Fassung: 1972-10-16, § 1233 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16, Abs. 1 Fassung: 1965-06-09, § 1295 Fassung: 1957-02-23, § 1295 Fassung: 1972-10-16; RRG Art. 6 § 8 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 26a Fassung: 1972-10-16; GG Art. 20 Abs. 3 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Mai 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Altersruhegeld aus einem im Dezember 1972 entrichteten Beitrag zur Höherversicherung (HV).
Die 1901 geborene Klägerin, eine Ordensschwester, entrichtete im Dezember 1972 erstmalig Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, und zwar einen freiwilligen Beitrag zu 17,- DM und einen HV-Beitrag in derselben Höhe. Gleichzeitig beantragte sie Altersruhegeld aus der HV ab 1. Januar 1973 sowie die Zahlung eines Beitragszuschusses zur Krankenversicherung gemäß § 381 Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Beklagte lehnte den Antrag auf Altersruhegeld mit Bescheid vom 20. Juli 1973 ab, weil kein Anspruch aus Grundbeiträgen bestehe. Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Duisburg durch Urteil vom 10. Dezember 1973 die Beklagte verurteilt, der Klägerin aufgrund des entrichteten HV-Beitrags ab 1. Januar 1973 Altersruhegeld zu zahlen. Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil vom 10. Mai 1975 ausgeführt: Der Versicherungsfall des Alters sei spätestens im Dezember 1972 eingetreten. Dem Anspruch der Klägerin stehe nicht entgegen, daß seit 1. Januar 1973 ein Anspruch auf Versichertenrente allein aus Beiträgen der HV nicht mehr erworben werden könne. Das Inkrafttreten der beiden insoweit bedeutsamen, durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S. 1965) neu gefaßten Vorschriften - § 1233 und § 1295 RVO - sei vom Gesetzgeber ausdrücklich unterschiedlich geregelt worden. Dem Gesetz sei nicht zu entnehmen, daß dies nur zu dem Zweck geschehen sei, die Entrichtung freiwilliger Beiträge noch nach den Beitragssätzen des Jahres 1972 zu ermöglichen.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 1233, 1295 RVO idF des RRG (RVO nF), § 26 a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG), Art. 6 § 8 Abs. 1 und 2 RRG. Sie führt dazu aus: Auch die neue Fassung des § 1233 RVO habe ursprünglich erst am 1. Januar 1973 in Kraft treten sollen. Das Inkrafttreten sei nur deshalb auf den 19. Oktober 1972 vorgezogen worden, um die Beitragsentrichtung noch im Jahre 1972 zu den damals niedrigeren Beitragssätzen zu ermöglichen. Es könne deshalb nicht davon ausgegangen werden, der Gesetzgeber habe die Absicht gehabt, einem größeren Personenkreis die Möglichkeit zu eröffnen, Ansprüche auf reine HV-Renten zu erwerben. Im Hinblick auf die Zielsetzung der Änderung des § 1295 RVO und das unterschiedliche Inkrafttreten der beiden Vorschriften bestehe eine offensichtliche Gesetzeslücke. Denn diese Zielsetzung verbiete es, den Erwerb von Rentenansprüchen auf dem Wege über eine nach der erweiterten Fassung des § 1233 RVO mögliche Beitragsentrichtung zuzulassen. Deshalb sei auch bei vor dem 1. Januar 1973 eingetretenen Versicherungsfällen die Gewährung einer reinen HV-Rente auszuschließen, wenn die Entrichtung des Grundbeitrags auf dem Recht zur freiwilligen Versicherung nach § 1233 Abs. 1 RVO n.F. beruhe.
Die Beklagte beantragt,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG ist zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, daß der Klägerin ein Anspruch auf Altersruhegeld aus dem einen von ihr im Dezember 1972 entrichteten Beitrag zur HV zusteht.
Das RRG (Art. 1 § 1 Nrn. 4 u. 5) hat die §§ 1233, 1234 RVO neu gefaßt. Danach ist das Recht, freiwillige Beiträge und daneben auch HV-Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung zu entrichten, auf bestimmte, dort näher bezeichnete Personen ausgedehnt worden. Die Klägerin gehört zu diesem Personenkreis. Sie war im Dezember 1972 weder nach der RVO, dem Angestelltenversicherungsgesetz, dem Reichsknappschaftsgesetz oder dem Handwerkerversicherungsgesetz versicherungspflichtig und hat ihren Wohnsitz im Geltungsbereich der RVO (§ 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO nF). Die neue Fassung der beiden Vorschriften ist am 19. Oktober 1972 in Kraft getreten (Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG). Die Klägerin war mithin im Dezember 1972 berechtigt, freiwillige Beiträge zu entrichten; die von ihr damals entrichteten beiden Beiträge (Grundbeitrag und HV-Beitrag) sind wirksam entrichtet. Der Erfüllung einer Wartezeit bedarf es für die Gewährung des Altersruhegeldes aus Beiträgen der HV nicht (§ 1248 Abs. 5 RVO in seiner bis zum 31. Dezember 1972 gültigen Fassung; vgl. auch § 1248 Abs. 7 Satz 3 RVO in der nach Art. 6 § 8 Abs. 1 RRG am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen Fassung). Nach den nicht angegriffenen und deshalb für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist der Versicherungsfall des Alters spätestens im Dezember 1972 eingetreten. Die Beklagte ist somit verpflichtet, der Klägerin auf Grund des von dieser entrichteten einzigen HV-Beitrags ab 1. Januar 1973 (§ 1290 Abs. 1 RVO aF) Altersruhegeld zu gewähren.
Dem Rentenanspruch der Klägerin steht § 1295 RVO in seiner durch Art. 1 § 1 Nr. 21 RRG geschaffenen Fassung nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift besteht ein Anspruch auf Versichertenrente aus Beiträgen der HV allerdings nur neben einem Anspruch auf eine entsprechende Rente aus anderen Beiträgen. Eine Rentengewährung allein auf Grund von zur HV geleisteten Beiträgen ist danach ausgeschlossen. Die genannte Vorschrift ist aber erst am 1. Januar 1973 in Kraft getreten (Art. 6 § 8 Abs. 1 RRG). Sie gilt nach dem durch das RRG (Art. 2 § 1 Nr. 7) neu geschaffenen und ebenfalls erst am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen § 26 a ArVNG (Art. 6 § 8 Abs. 1 RRG), "nur für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1972".
Die Regelung des § 1295 RVO nF ist daher auf den im Dezember 1972 eingetretenen Versicherungsfall der Klägerin nicht anzuwenden. Das hat der erkennende Senat bereits grundsätzlich in seinem Urteil vom 6. Februar 1974 - 12 RJ 270/73 - (BSGE 37, 124, 126 = SozR 2200 § 1248 Nr. 2) entschieden. Dem hat sich der 5. Senat des BSG in seinem - zur Veröffentlichung bestimmten - Urteil vom 31. Juli 1975 - 5 RJ 91/74 - insoweit angeschlossen.
Es kann hier dahinstehen, ob es sich mit der Zielsetzung des RRG, reine HV-Renten zu beseitigen, vereinbaren läßt, wenn dieses Gesetz zugleich dazu zwingt, unter gegenüber der Zeit vor seiner Verkündung erleichterten Bedingungen an Personen, die früher keine HV-Beiträge entrichten konnten, aus erst nach dem 19. Oktober 1972 entrichteten derartigen Beiträgen HV-Renten zu gewähren und damit die Zahl solcher Renten noch zu vergrößern (vgl. BSG, Urteil vom 31. Juli 1975 - 5 RJ 91/74 -). Selbst wenn dies der Gesetzgeber bei der beschleunigten Verabschiedung und den mehrfachen Änderungen der Gesetzentwürfe (vgl. BT-Drucks. VI/2916 Art. 1 § 1 Nr. 4; VI/3767 Art. 1 § 1 Nr. 5; VI/2916 Art. 4 § 4; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 15. September 1972 zu BT-Drucks. VI/3767 S. 22 Art. 5 zu § 10) übersehen haben sollte, bestehe hier keine Gesetzeslücke - wie die Revision meint -, die der Senat berechtigt wäre, im Wege der Lückenfüllung zu schließen. Das Gesetz bestimmt ausdrücklich, daß § 1295 RVO nF mit den verschärften Voraussetzungen für die Gewährung einer HV-Rente erst am 1. Januar 1973 in Kraft tritt (Art. 6 § 8 Abs. 1 RRG) und auch nur für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1972 gemäß § 26 a ArVNG (Art. 2 § 1 Nr. 7 RRG) angewendet werden soll. Angesichts dieser klaren und eindeutigen Regelung des Gesetzes über das Inkrafttreten einer Vorschrift, ist der an Gesetz und Recht gebundene Richter (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes - GG -) nicht befugt, kraft Richterrechts - gegen das Gesetz - den Zeitpunkt des Inkrafttretens einer für den Versicherten insoweit nachteiligen Vorschrift vorzuverlegen. Dem steht auch entgegen, daß sich der Bürger auf die im Gesetz eindeutig festgelegten Zeitpunkte des Inkrafttretens für ihn belastende Regelungen verlassen können muß. Sein Vertrauen in die Richtigkeit des Gesetzes verdient besonderen Schutz. Selbst wenn man ein Versehen des Gesetzgebers annehmen wollte, kann dies nicht zum Ausschluß des nach dem Gesetz bestehenden Rentenanspruchs der Klägerin führen.
Ein Vorverlegen des Inkrafttretens des § 1295 RVO nF auf den 19. Oktober 1972 und seine Anwendung auf Versicherungsfälle, die zwischen dem 19. Oktober und 31. Dezember 1972 eingetreten sind, würde zudem zu Ergebnissen führen, die vom Gesetzgeber selbst nicht bezweckt waren. Das übersieht die Revision. Es würden nämlich dann auch alle die Fälle von der schärferen Regelung des § 1295 RVO nF erfaßt, in denen ein Pflichtversicherter einen Pflichtbeitrag und einen HV-Beitrag entrichtet hat, bei dem der Versicherungsfall in dem genannten Zeitraum eingetreten ist. Das würde aber dem erkennbaren Willen des Gesetzes widersprechen, das für diese Fälle von vornherein die Verschärfung nicht vor dem 1. Januar 1973 beabsichtigte.
Nach § 1295 RVO aF kann der von der Klägerin erworbene Anspruch auf Rente aus der HV mit einem dem Werte der zustehenden Leistung entsprechenden Kapital abgefunden werden, wenn die Klägerin zustimmt. Der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in dem bereits mehrfach genannten und zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 31. Juli 1975 - 5 RJ 91/74 - allerdings die Auffassung vertreten, die Abfindung derartiger Rentenansprüche sei auch ohne die Zustimmung des Versicherten möglich, weil in Fällen dieser Art die Verweigerung der Zustimmung zur Beseitigung unangemessener Folgen eines offensichtlichen Versehens des Gesetzgebers eine unzulässige Rechtsausübung sei und die angestrebte Art der Beseitigung dieser Folgen dem Versicherten keinen unzumutbaren Schaden zufüge. Ob dieser Auffassung beigetreten werden kann oder eine unzulässige Rechtsausübung schon deshalb nicht vorliegt, weil der Bürger in seinem Vertrauen auf die Richtigkeit des im Gesetz eindeutig festgelegten Zeitpunkts des Inkrafttretens einer Regelung in jedem Fall zu schützen ist, kann hier dahingestellt bleiben. Die Frage der Rentenabfindung ist nämlich nicht Gegenstand des Rechtsstreits.
Ebensowenig ist die Frage Streitgegenstand, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin einen Beitragszuschuß zur Krankenversicherung der Rentner nach § 381 Abs. 4 RVO zu zahlen. Der Senat braucht deshalb auch nicht zu entscheiden, ob eine Rente aus der HV, die als Zusatzversicherung gegenüber der eigentlichen Rentenversicherung eine Sonderstellung einnimmt und mehr privatrechtliche Züge einer Lebensversicherung aufweist (vgl. BSG SozR Nr. 19 zu § 183 RVO; BSG, Urteil vom 31. Juli 1975 - 5 RJ 91/74 -; Tietz, BABl 1951, 166, 167), überhaupt "eine Rente" im Sinne des § 165 Abs. 1 Nr. 2 iVm § 381 Abs. 4 RVO darstellt, die geeignet ist, gegenüber dem Träger der Rentenversicherung einen Anspruch des Versicherten auf Zahlung eines Beitragszuschusses zur Krankenversicherung auszulösen.
Nach allem ist somit die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Da die Klägerin in allen drei Rechtszügen obsiegt hat, war es angemessen, der Beklagten unter Aufhebung der Kostenentscheidung des LSG aufzuerlegen, der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Fundstellen