Leitsatz (amtlich)

Die Vorschrift, daß als Wert der eigenen Arbeitsleistung in einer selbständigen Tätigkeit das vergleichbare Arbeitnehmerentgelt zu berücksichtigen ist, bezieht sich auch auf freiberuflich Tätige (hier: niedergelassenen Facharzt).

 

Normenkette

BVG§30Abs3u4u5DV § 9 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1977-01-18

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 12.09.1979; Aktenzeichen IV KOBf 47/77)

SG Hamburg (Entscheidung vom 27.07.1977; Aktenzeichen 28 KO 22/77)

 

Tatbestand

Der Kläger ist Facharzt für innere Krankheiten. Er übt seine Praxis selbständig aus. Als Folgen seiner Wehrdienstbeschädigung sind Hirnfunktionsstörungen nach einer Kopfverletzung durch Kolbenschlag anerkannt worden. Er leidet an Kopfschmerzen und allgemeiner Leistungsbeeinträchtigung. Ferner ist eine Rippenfellverschwartung erheblichen Grades nach Teilresektion der siebten linken Rippe als kriegsbedingte Gesundheitsstörung bestätigt worden. Die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde auf 90 vH geschätzt. Darin wurde ein besonderes berufliches Betroffensein berücksichtigt. Von Juli 1971 an hält der Kläger wegen Verschlechterung seines Hirnleidens nur noch vormittags von 9.00 bis 11.00 Uhr ärztliche Sprechstunden ab.

Den Antrag des Klägers auf Berufsschadensausgleich lehnte die Versorgungsverwaltung ab (Bescheid vom 5. Dezember 1972; Widerspruchsbescheid vom 7. Januar 1977). Dem Einkommensteuerbescheid 1971 entnahm die Behörde Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit von monatlich 7.170,67 DM (jährlich: 86.048,-- DM). Mit diesem Betrag werde - so die Behörde - das in Betracht kommende Vergleichseinkommen, nämlich das Einkommen nach der Besoldungsgruppe A 16 des Bundesbesoldungsgesetzes weit überschritten. Daran ändere sich auch nichts, wenn man von den Einkünften des Klägers zugunsten seiner Ehefrau einen Betrag abziehe; die Ehefrau hatte wöchentlich maximal drei Stunden in der Praxis ihres Mannes Buchhaltungsarbeiten erledigt.

Mit der Klage beanstandete der Kläger die vorgenommene Berechnung. Er hielt ihr § 9 Abs 1 Nr 2 der Durchführungsverordnung (DV) zu § 30 Abs 3 bis 5 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) entgegen. Nach dieser Vorschrift hätten nicht die steuerlich ausgewiesenen Einkünfte als derzeitiges Bruttoeinkommen zu gelten. Vielmehr sei als Wert seiner selbständigen Arbeitsleistung dasjenige Arbeitsentgelt maßgebend, das einem Arbeitnehmer in vergleichbarer Stellung zu zahlen wäre. Hiervon müsse ferner ein seiner verminderten zeitlichen Arbeitsbelastung entsprechender Anteil abgezogen werden.

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil des SG Hamburg vom 27. April 1977), die Berufung das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil des LSG Hamburg vom 12. September 1979). Den Rückgriff auf das Arbeitsentgelt eines vergleichbaren Arbeitnehmers hält das Berufungsgericht nicht für angebracht. Darauf sei bei selbständigen Gewerbetreibenden abzuheben, bei denen der Wert der eigentlichen Arbeitsleistung sich von sonstigen Gewinnanteilen der Unternehmertätigkeit nur schwer zu sondern sei. Bei niedergelassenen Ärzten könne hiergegen in der Regel unterstellt werden, daß der erzielte Gewinn in vollem Umfange auf die Tätigkeit des Beschädigten zurückgehe (ebenso Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 5. November 1963, BVBl 1963, 130 Nr 58). Die Tatsache, daß der Kläger mehrere Hilfskräfte beschäftige und entgelten müsse, sei bereits bei Ermittlung seines Gewinns beachtet worden. Die von ihm gezahlten Löhne und Gehälter stellten Betriebsausgaben dar, die bei der Höhe des ausgewiesenen Gewinns abgezogen würden.

Der Kläger hat Revision eingelegt. Seines Erachtens ist in seinem Falle nach der Bestimmung des § 9 Abs 1 DV von dem Arbeitsentgelt eines Klinikarztes als dem derzeitigen Bruttoeinkommen auszugehen. Er beanstandet die unterschiedliche Behandlung des Erwerbseinkommens je nachdem, ob es sich bei dem Beschädigten um einen Gewerbetreibenden oder einen freiberuflich Tätigen handelt. In dieser unterschiedlichen Behandlung erblickt er einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes -GG-). Schließlich dürfe, meint er, nicht übersehen werden, daß auch die Arbeit fachlich vorgebildeter Hilfskräfte und der Einsatz medizinischer Geräte einen Gewinn abwerfe, der nicht der eigentliche Arbeitsertrag des praktizierenden Arztes selbst sei.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Berufungsurteils

und des erstinstanzlichen Urteils sowie der

angegriffenen Bescheide zu verurteilen, ihm vom

1. April 1971 an Berufsschadensausgleich

zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg.

Bei der Ermittlung eines Einkommensverlustes (§ 30 Abs 3 und 4 BVG) durfte das Berufungsgericht nicht den Jahresgewinn zugrunde legen, wie er bei der Steuerveranlagung des Klägers ausgewiesen worden war. Nach § 9 Abs 1 Buchst b DV zu § 30 Abs 3 und 4 BVG - hier in der Fassung vom 28. Februar 1968 (BGBl I 194) - gelten - von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - als derzeitiges Bruttoeinkommen der Wert der eigenen Arbeitsleistung in einer gegenwärtigen selbständigen Tätigkeit und Einnahmen aus seiner früheren selbständigen Tätigkeit. Was als Wert der eigenen Arbeitsleistung anzusehen ist, wird an der angeführten Stelle zusätzlich erläutert. Danach ist "das Arbeitsentgelt zu berücksichtigen, das einem Arbeitnehmer in vergleichbarer Stellung zu zahlen wäre". In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist diese Erläuterung dahin verstanden worden, daß der Ertrag selbständiger Tätigkeit durch eine Gegenüberstellung mit dem Verdienst eines Arbeitnehmers in vergleichbarer Position zu bestimmen ist. Dagegen haben nach dieser Judikatur ein erzielter Jahresgewinn und damit der steuerrechtliche Gewinn außer Betracht zu bleiben (BSG, Urteil vom 31. Oktober 1979 - 10/9/10 RV 75/77; SozR Nr 3 zu § 9 DV zu § 30 Abs 3 und 4 BVG vom 28. Februar 1968; SozR Nr 59 zu § 30 BVG).

Die Regelung des § 9 Abs 1 DV und ihre Interpretation scheinen sich allerdings an der Absicht des Gesetzes zu stoßen. Diese Absicht geht dahin, das derzeitige Bruttoeinkommen entsprechend den nachgewiesenen wirklichen "individuellen Einkommensverhältnissen" des Beschädigten und eine möglichst weitgehende Annäherung an die Gegebenheiten des Einzelfalls zu erreichen (BT-Drucks V/1012 S 21; BSG SozR Nr 3 zu § 9 DV zu § 30 Abs 3 und 4 BVG; SozR Nr 59 zu § 30 BVG). Der Weg der Generalisierung und Typisierung wie er hier im Gegensatz zum Trend einer verstärkten individuelleren Behandlung der Kriegsopfer (Schönleiter; hierüber auch: Leisner KOV 1972, 49, 53) beschritten wird, erscheint in Verbindung mit der Feststellung des derzeitigen Bruttoeinkommens Selbständiger an sich nicht vorgezeichnet. Die Pauschalierung ist wohl für die Bemessung des Vergleichseinkommens als Durchschnittseinkommen angezeigt und vorgegeben. Hingegen fordert die Bestimmung des derzeitigen Bruttoeinkommens schon von der Natur der Sache her die Blickrichtung auf die im Einzelfall vorzufindende Gegebenheit. Dem gesetzgeberischen Vorhaben wird § 9 Abs 1 Buchst b DV mit der Verweisung auf die Parallele im Bereich unselbständiger Tätigkeiten nur schwer gerecht, zumal dann notwendigerweise auf übliche Arbeitsverdienste in ähnlicher Lage Bezug zu nehmen ist. Es ließe sich die Frage aufwerfen, ob § 9 Abs 1 DV noch durch die Ermächtigung gedeckt ist, welche zur Definition des derzeitigen Bruttoeinkommens dem Verordnungsgeber durch § 30 Abs 8 Buchst c BVG erteilt worden ist. Immerhin wird der Einzelfall nicht real erschlossen. Jedoch wird das hier geäußerte Bedenken entkräftet, wenn man sich die Geschichte der fraglichen Rechtssetzung vergegenwärtigt. Die den Berufsschadensausgleich konkretisierende Rechtsverordnung wurde in ihrer Entstehung und in ihrer weiteren Ausgestaltung jeweils bewußt mit der Entwicklung des Gesetzes selbst abgestimmt (vgl BR-Drucks 192/59; insbesondere zu § 9 der Verordnung: DV vom 30. Juli 1964, BGBl I 574). Die einschlägige Formulierung des § 9 Abs 1 Buchst b DV blieb seit 1968 im wesentlichen unverändert. Obgleich der Gesetzgeber sich danach immer wieder mit Einzelheiten des Berufsschadensausgleichs befaßt hat, hat er keinen Anlaß gesehen, die in Rede stehende Vorschrift der DV anzutasten. Er hat sie damit, wenn nicht gebilligt, so doch als rechtsgültige Interpretation seines Willens hingenommen (vgl BSG SozR Nr 59 zu § 30 BVG).

Daß mit der erwähnten Regelung das Ziel individueller Einkommensbetrachtung verlassen wird, findet seine Rechtfertigung in dem Gesichtspunkt einer Rationalisierung der Verwaltung. Es war zu besorgen, daß die gesetzliche Vollzugsaufgabe nicht zeitgerecht, gleichmäßig und einfach zu erfüllen wäre, wenn zur Erforschung des Arbeitseinkommens Selbständiger der Mannigfaltigkeit schwer durchschaubarer Einzelfallumstände nachgegangen werden müßte. Das berufliche Einkommen von Selbständigen richtet sich vielfach nicht ausschließlich oder jedenfalls nicht wesentlich nach dem Aufwand an Arbeitsleistung, dessen Beeinträchtigung durch den Berufsschadensausgleich ausgeglichen werden soll. Zum einen können trotz regulärer Arbeitsleistung erhebliche Verluste eintreten, zB auch betriebswirtschaftlich oder steuerlich allein durch hohe Investitionen. Zum anderen kann der Ertrag der Berufstätigkeit zu einem beträchtlichen Anteil auf reinen Kapitaleinsatz zurückzuführen sein (vgl Wulfhorst in KOV 1969, 129, der allerdings gerade nicht die Bemessung des Bruttoeinkommens, sondern die Ermittlung des Vergleichseinkommens in dem besonderen Fall des § 6 DV behandelt). Das tatsächliche Bruttoeinkommen erlaubt also keine unmittelbar zuverlässige Aussage darüber, ob und in welchem Umfang es durch die Schädigungsfolgen gemindert ist. Als Notlösung bot sich an, das Arbeitnehmereinkommen grundsätzlich und auch für Selbständige zum Maßstab für den Wert der Arbeitsleistung zu erheben. Das ist sogar durch die Regelung des Gesetzes selbst in § 30 Abs 4 Satz 4 BVG nF nahegelegt. Nach dieser Vorschrift ist das Vergleichseinkommen ausschließlich nach Arbeitnehmereinkunftsarten zu bestimmen, und zwar auch für Selbständige (vgl § 5 DV), soweit die Beschädigten in eine Berufs- oder Wirtschaftsgruppe von Selbständigen nach Satz 2 einzuordnen sind. Wenn aber einem solchen Vergleichseinkommen das Bruttoeinkommen nach Satz 1 gegenüberzustellen ist, dann drängt sich für einen sachgemäßen Vergleich auf, auch dieses nach der Typik von Arbeitnehmereinkommen zu bestimmen.

So wird die Verwaltung von umständlicher Sachaufklärung entlastet. Aus dieser Überlegung heraus durfte die an sich angebrachte Besonderheit und Differenzierung im Tatbestand des § 9 Abs 1 DV unterbleiben. Das Gebot des Gesetzesvorrangs und Gesetzesvorbehalts ist dadurch nicht verletzt (dazu jüngst: Schwarze, DÖV 1980, 581 ff).

Der Hinweis des Berufungsgerichts auf das Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 5. November 1963, BVBl 1963, 130 Nr 58, vermag an der Auslegung des § 9 Abs 1 DV nichts zu ändern. In diesem Rundschreiben wird zur Ermittlung des Wertes der eigenen Arbeitsleistung die Ansicht vertreten, für die sogenannten freien Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte, selbständige Ingenieure, Architekten, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Künstler, Journalisten, Schriftsteller, Wissenschaftler) könne in der Regel unterstellt werden, daß der erzielte Gewinn in vollem Umfange auf die Tätigkeit des Beschädigten selbst zurückzuführen sei. Diese Interpretation des § 9 Abs 1 Buchst b DV (jetzt § 9 Abs 1 Nr 3 DV) ist jedoch mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht vereinbar. Dort wird unmißverständlich und ohne Einschränkung die Berücksichtigung desjenigen Arbeitsentgelts vorgeschrieben, das einem Arbeitnehmer in vergleichbarer Stellung zu zahlen wäre. Würde man der von dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung vorgeschlagenen Lösung folgen, wäre innerhalb der Gruppe selbständig Tätiger mit gravierenden Ungleichbehandlungen zu rechnen. Damit könnte man sich nicht abfinden. Hinzu kommt, daß der aus einer Arztpraxis erzielte Gewinn nicht selten wohl auch stärkerer Mitwirkung von Fachpersonal und der Indienstnahme apparativer Einrichtungen zuzuschreiben ist. Dadurch wächst nicht nur die Kapazität ärztlicher Leistungen über das Arbeitsprodukt des Arztes selbst hinaus, sondern es stellt sich auch die Schwierigkeit ein, aus dem erzielten Gewinn das finanzielle Resultat herauszufiltern, das auf dem Einsatz der eigenen Arbeitskraft beruht.

Von der hier vertretenen Rechtsauffassung her wird zu klären sein, welche berufliche Position eines Arztes in abhängiger Beschäftigung mit der Stellung des Klägers korrespondiert. Sodann wird das entsprechende Bruttoeinkommen festzulegen sein. Zu diesen Nachforschungen sah sich das LSG nach seiner Ansicht nicht veranlaßt. Damit die noch erforderliche Sachaufklärung vorgenommen werden kann, ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Das Berufungsgericht wird nunmehr das Einkommen desjenigen Arbeitnehmers zu ermitteln haben, der nach seiner Funktion dem maßgebenden Selbständigen-Beruf am nächsten steht. In ähnlicher Weise hat das in den Fällen des § 6 DV auf der Seite des Vergleichseinkommens zu geschehen. Als Leitfigur eines solchen Vergleichs ist jeweils ein Arbeitnehmer zu bestimmen, der unternehmerähnliche, geschäftsleitende Funktionen hat. Hier bietet sich als Gegenüberstellung der Typ des Arztvertreters an (dazu BSGE 10, 41). Selbstverständlich ist auch an den Chefarzt in einem Krankenhaus zu denken, obgleich er nicht freiberuflich tätig zu sein braucht, sondern in einem Beamten- oder in einem sonstigen Beschäftigungsverhältnis stehen kann (vgl BSGE 24, 29, 32; 32, 38). Wichtig wird ua sein, daß der zum Vergleich herangezogene Arbeitnehmer nicht nur ein hohes Maß von Unabhängigkeit und Freiheit in der Ausübung seines Berufes hat, sondern zugleich Vorgesetztenfunktionen ausübt. Über Einzelheiten wird sich das Berufungsgericht durch fachkundige Auskünfte der Ärztekammern, Kassenärztlichen Vereinigungen und sonstiger Ärzteorganisationen beraten lassen müssen.

Die Entscheidung über die Kostenerstattungspflicht für das Revisionsverfahren bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1654615

Breith. 1981, 714

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