Entscheidungsstichwort (Thema)

Bildung von Gefahrklassen für Arbeitsplätze mit geringerer Unfallgefahr

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Unfallversicherungsträger ist grundsätzlich nicht verpflichtet, abgrenzbare Unternehmensteile in gesonderte Gefahrtarifstellen zu veranlagen (§§ 730, 734 RVO). In der Satzung kann er ohne Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art 3 GG) nach der Unternehmensgröße differenzieren (Fortentwicklung von BSG 1977-04-26 8 RU 74/76 = BSGE 43, 289).

 

Orientierungssatz

Bei der Bildung von Gefahrklassen kommt es grundsätzlich auf die geringere Unfallgefahr auf bestimmten Arbeitsplätzen, die aber nicht gewerbetypisch sind, nicht an. In die vom Gewerbe und seinen typischen Gefahren geprägten Gefahrklassen sind demnach auch solche Personen oder Personengruppen, die gegenüber der typischen Gewerbegefahr objektiv geringer gefährliche Arbeiten verrichten, einzuordnen.

 

Normenkette

RVO § 730 Fassung: 1963-04-30, § 734 Abs 1 Fassung: 1963-04-30; GG Art 3 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 27.02.1980; Aktenzeichen L 2 Ua 2026/77)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 17.08.1977; Aktenzeichen S 12 U 919/78)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 17.08.1977; Aktenzeichen S 12 U 1544/76)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Gefahrtarifstelle des Gefahrtarifs der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) die Hauptverwaltung der Klägerin ab 1. Januar 1974 und ab 1. Januar 1977 zu veranlagen ist.

Die Klägerin betreibt, räumlich getrennt von ihrer Hauptverwaltung, an verschiedenen Orten zwei Wasserkraftwerke und fünf Betriebsstellen. Sie beschäftigte von 1972 bis 1977 nie mehr als 381 Mitarbeiter. Die Beklagte sah in dem von der Vertreterversammlung 1972 beschlossenen, vom Bundesversicherungsamt genehmigten, ab 1972 anzuwendenden Gefahrtarif für Energieversorgungsunternehmen (Gefahrtarifstelle 110) die Gefahrklasse 7,0 und für Verwaltungszentren (Gefahrtarifstelle 132) die Gefahrklasse 1,0 vor. Nach dem vorhergehenden Gefahrtarif von 1967 waren letztere noch (Gefahrtarifstelle L 35) in der Gefahrklasse 1,5 mit näherer Erläuterung eingestuft.

Mit bindendem Bescheid vom 27. Oktober 1972 veranlagte die Beklagte die Klägerin mit ihrem gesamten Unternehmen nach der Gefahrtarifstelle 110 in Gefahrklasse 7,0, worauf diese mehrfach, jedoch erfolglos (Bescheid vom 28. Februar 1975) die Zuordnung ihrer Hauptverwaltung zur Gefahrtarifstelle 132 mit der Gefahrklasse 1,0 verlangte.

Durch Beschluß des Vorstandes vom März 1974 bestimmte die Beklagte den Begriff des Verwaltungszentrums (Gefahrtarifstelle 132) rückwirkend für den Gefahrtarif 1972 näher, indem sie auf Großunternehmen im Energieversorgungsbereich mit mindestens 1500 Beschäftigten abhob. In dem ab 1. Januar 1977 geltenden und genehmigten Gefahrtarif definierte die Vertreterversammlung den Begriff des Verwaltungszentrums unmittelbar und verlangte für Energieversorgungsunternehmen eine Mindestbeschäftigtenzahl von 1000.

Mit den Beitragsbescheiden vom 1. April 1974 und 2. April 1975 stellte die Beklagte die Beitragsschuld der Klägerin für 1972 und 1974 fest, wobei sie wiederum die Gefahrtarifstelle 110 (Gefahrklasse 7,0) für das ganze Unternehmen zugrunde legte. Das gegen die zurückweisenden Widerspruchsbescheide angestrengte Klageverfahren endete durch Vergleich, in dem sich die Beklagte verpflichtete, einen Widerspruchsbescheid darüber zu erteilen, ob an der Bindungswirkung des Bescheides vom 27. Oktober 1972 festgehalten oder - auch rückwirkend - eine neue Einstufung vorgenommen werde. Sie wies sodann den Widerspruch "gegen den Veranlagungsbescheid vom 27. Oktober 1972" zurück (Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 1976).

Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat diesen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Verwaltungszentrum der Klägerin ab 1. Januar 1974 der Gefahrtarifstelle 132 (Gefahrklasse 1,0) zuzuordnen (Urteil vom 17. August 1977).

Sodann veranlagte die Beklagte die Klägerin nach dem Gefahrtarif 1977 wiederum einheitlich zur Gefahrtarifstelle 110 (Gefahrklasse 6,0) und wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 18. Oktober 1977; Widerspruchsbescheid vom 7. April 1978).

Die dagegen erhobene Klage hat das SG Freiburg abgewiesen (Urteil vom 14. November 1978).

Die Beklagte hat gegen das erstgenannte Urteil des SG Freiburg, die Klägerin gegen das letztgenannte Urteil des SG Freiburg Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat beide Berufungen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden. Es hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 17. August 1977 zurückgewiesen und auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG vom 14. November 1978 und den Veranlagungsbescheid der Beklagten vom 18. Oktober 1977 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. April 1978 aufgehoben sowie die Beklagte verurteilt, die Hauptverwaltung der Klägerin auch für die Zeit ab 1. Januar 1977 zur Gefahrtarifstelle 132 ihres Gefahrtarifs 1977 zu veranlagen (Urteil vom 27. Februar 1980).

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 27. Februar 1980

aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil

des SG Freiburg vom 14. November 1978 zurückzuweisen,

die Urteile des SG Freiburg vom 17. August 1977

und des LSG Baden-Württemberg vom 27. Februar 1980

aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Urteile des LSG vom 27. Februar 1980 und des SG vom 17. August 1977 sind aufzuheben. Die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 1976 ist abzuweisen. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 14. November 1978 ist zurückzuweisen.

Die streitigen Veranlagungsbescheide der Beklagten vom 28. Februar 1975 und 18. Oktober 1977 sind entgegen der Auffassung der Klägerin und des Berufungsgerichts rechtmäßig. In diesen Bescheiden hat die Beklagte zutreffend die Klägerin zur Gefahrtarifstelle 110 mit der Gefahrklasse 7,0 des Gefahrtarifs 1972 und der Gefahrtarifstelle 110 mit der Gefahrklasse 6,0 des Gefahrtarifs 1977 veranlagt. Die Gefahrtarife 1972 und 1977 ordnen die Gefahrtarifstelle übereinstimmend folgendem Gewerbezweig zu: "Bau und Betrieb elektrischer Anlagen zur Erzeugung und Verteilung elektrischer Energie, auch Erweiterung, Instandhaltung und Wartung (Energieversorgungsunternehmen). Nach II Nr 2 Satz 1 "Sonstige Bestimmungen" der Gefahrtarife 1972 und 1977 erfolgt die Veranlagung eines Unternehmens grundsätzlich zu einer Gefahrtarifstelle.

Daran hat sich die Beklagte gehalten, indem sie die Klägerin tarifgemäß als ein Energieversorgungsunternehmen angesehen und danach zur Beitragsberechnung veranlagt hat (§ 734 Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Diese Veranlagungsgrundlage stimmt mit dem Gesetz überein. Es obliegt nämlich der Vertreterversammlung der Beklagten, zur Abstufung der Beiträge nach dem Grad der Unfallgefahr durch einen Gefahrtarif Gefahrklassen zu bilden (§ 730 RVO). Soweit die Beiträge sich nach dem Grad der Unfallgefahr richten, ist hierfür indes nicht die Gefahr des jeweiligen Arbeitsplatzes oder bestimmter Verrichtungen und Arbeitsvorgänge innerhalb eines Unternehmens maßgebend. Eine derartig weitgehende Differenzierung der Unfallgefahr verlangt das Gesetz entgegen der Auffassung der Klägerin nicht. Die Höhe der Beiträge richtet sich ua nach dem Grad der Unfallgefahr "in dem Unternehmen" (§ 725 Abs 1 RVO) und "das Unternehmen" wird zu den Gefahrklassen veranlagt (§ 734 Abs 1 RVO). Die Gefahrklasse ist nach der Art des Gewerbes eines Unternehmens zu bilden. Auf solche Weise werden die gewerbetypischen Gefahren im Gefahrtarif des Unfallversicherungsträgers durch Gefahrklassen erfaßt. Dabei bleibt unberücksichtigt, ob es innerhalb eines zu einem bestimmten Gewerbe gehörenden Unternehmen nicht nur ausschließlich gewerbeverbundene Arbeitsplätze und daneben auch an sich dem jeweiligen Gewerbe fremde Arbeitsplätze wie zB in einer Unternehmensverwaltung gibt. Es wird vielmehr grundsätzlich in solchen Fällen hingenommen, daß gewerbefremde Arbeitsplätze weniger gefährdet sind als solche die dem Gewerbe unmittelbar zuzuordnen sind. Daher kommt es bei der Bildung von Gefahrklassen grundsätzlich auf die geringere Unfallgefahr auf bestimmten Arbeitsplätzen, die aber nicht gewerbetypisch sind, nicht an. In die vom Gewerbe und seinen typischen Gefahren geprägten Gefahrklassen sind demnach auch solche Personen oder Personengruppen, die gegenüber der typischen Gewerbegefahr objektiv geringer gefährliche Arbeiten verrichten, einzuordnen.

Diese Gefahrenbeurteilung erscheint auch sachgerecht. Denn für diese gesetzlich mit der Einstufung in eine Gefahrklasse verbundene Gefahrvorhersage gibt es mehrere Korrekturmöglichkeiten: Nach § 734 Abs 2 RVO kann der Unfallversicherungsträger ein Unternehmen für die Tarifzeit neu veranlagen, wenn sich herausstellt, daß die Angaben des Unternehmens unrichtig waren oder wenn eine Änderung im Unternehmen eingetreten ist (vgl auch § 749 RVO). Zum anderen sind nach § 725 Abs 2 RVO Zuschläge zu erheben oder Nachlässe zu gewähren, um die Beitragslast möglichst gerecht der tatsächlichen Unfallgefahr in einem Unternehmen anzupassen. Schließlich verlangt § 731 Abs 1 RVO als weitere Korrektur von dem Vorstand der BG, den Gefahrtarif mindestens alle fünf Jahre mit Rücksicht auf die eingetretenen Arbeitsunfälle nachzuprüfen.

Die Angriffe der Klägerin gegen die beiden Veranlagungen, die - wie oben ausgeführt - auf der mit dem Gesetz übereinstimmenden Satzung der Beklagten beruhen, müssen scheitern. Die Klägerin möchte die Hauptverwaltung ihres Unternehmens als "Verwaltungszentrum" angesehen wissen. Sie möchte damit erreichen, daß dieser Teil ihres Unternehmens in die Gefahrtarifstelle 132 eingestuft und mit der Gefahrklasse 1,0 zu den Beiträgen veranlagt wird. Sie verweist darauf, die örtlich von ihrer Hauptverwaltung getrennten Kraftwerke und Betriebsstellen seien für ihre Aufgaben mit eigenem technischen und kaufmännischen Personal ausgestattet, ihre Hauptverwaltung sei für die zentralen Aufgaben sowie die allgemeine kaufmännische Verwaltung zuständig.

Die Klägerin verkennt in erster Hinsicht, daß die Beklagte nach II Nr 2 Satz 1 der "Sonstigen Bestimmungen" ihrer Gefahrtarife 1972 und 1977 ein Unternehmen grundsätzlich zu einer Gefahrtarifstelle zu veranlagen hat. Wenn die Beklagte in ihren Gefahrtarifen in bestimmten Fällen die Veranlagung von Unternehmen zu zusätzlichen Tarifstellen vorsieht, ist sie nach dem Gesetz dazu zwar nicht verpflichtet, innerhalb ihrer Satzungsautonomie aber berechtigt. Solche gegenüber dem allgemeinen Grundsatz der §§ 725 Abs 1 und 734 Abs 1 RVO differenzierenden Regelungen müssen jedoch sachgerecht und dürfen - gemessen an dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG - nicht willkürlich sein. Die Klägerin kann sich insoweit nicht auf II Nr 2 Satz 2 aaO berufen, wo bestimmt ist: "Zu zusätzlichen Gefahrtarifstellen werden nur solche Unternehmen veranlagt, in denen mehr als 10 % der Versicherten, mindestens jedoch 10 Versicherte Tätigkeiten nach anderen Tarifstellen verrichten". Denn die Gefahrtarife für 1972 und 1977 enthalten keine allgemein gültige Tarifstelle etwa für "Verwaltungstätigkeiten" oder "Verwaltungsabteilungen". Auch bei vielfach gegliederten Großunternehmen können daher in Unternehmen, die zum Zuständigkeitsbereich der Beklagten gehören, Verwaltungsangestellte allgemein nicht einer zusätzlichen Tarifstelle zugeordnet werden.

Auch die vom LSG entwickelte Lösung, wonach die Gefahrtarife 1972 und 1977 ermessensfehlerhaft seien und insoweit gegen das höherrangige Recht des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art 3 Abs 1 GG verstoßen sollen, weil in diesen Gefahrtarifen der Begriff des Verwaltungszentrums zahlenmäßig begrenzt worden ist, läßt sich nicht halten. Gewiß gilt nach dem Gefahrtarif 1972 für "Verwaltungszentren" die Gefahrtarifstelle 132 mit der Gefahrklasse 1,0, wenn auch in diesem Tarif über die Größe des Verwaltungszentrums nichts bestimmt ist. Es durfte indes das früher von der Beklagten insoweit Geregelte nicht übersehen werden. Bereits der voraufgehende Gefahrtarif 1967 hatte in seinen Erläuterungen zur damaligen Gefahrtarifstelle "L 35 Forschungsinstitute und Verwaltungszentren" die notwendige Klärung vorgenommen. "In Betracht kommen nur übergeordnete Verwaltungsspitzen größerer Unternehmen". Daß für die Gefahrtarife 1972 und 1977 insoweit etwas anderes gelten sollte, ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist zur Erläuterung des Begriffs des Verwaltungszentrums in beiden Gefahrtarifen (Gefahrklasse 132) auf die Begriffserklärung des Gefahrtarifs 1967 zurückzugreifen. Danach kann das Unternehmen der Klägerin eine derartige Gewerbezweigstruktur nicht für sich in Anspruch nehmen. Damit steht auch der Klammerzusatz bei dem Gewerbezweig "Verwaltungszentren" in dem Gefahrtarif 1977 (Gefahrtarifstelle 132) in Einklang: "Verwaltungszentrum ist die für ein vielfach gegliedertes Großunternehmen typische oberste Firmenzentrale, der Produktionsstätten organisatorisch nicht unmittelbar angeschlossen sind; als Großunternehmen sind nur anzusehen im Fertigungsbereich Betriebe mit mindestens 2000 Beschäftigten, im Energieversorgungsbereich Betriebe mit mindestens 1000 Beschäftigten". Wenn die Beklagte hiermit für Energieversorgungsunternehmen mindestens 1000 Beschäftigte fordert, um die Einstufung in die niedrigere Gefahrtarifstelle 132 mit der Gefahrklasse 1,0 vornehmen zu können, ist dies sachgerecht und verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 GG, weil ersichtlich nur an selbständige Verwaltungszentren gedacht ist, die den besonderen Strukturen der Energiewirtschaft eigentümlich sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661309

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