Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter, der als Analphabet nicht befähigt ist, über die vorgeschriebene Ausbildung einen Beruf zu erlernen, kann bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit grundsätzlich auch nicht durch längere Erfahrung im praktischen Berufsleben einem gelernten Facharbeiter gleichgestellt werden.
Leitsatz (redaktionell)
1. Erlernt jemand den Beruf des Betonbauers über den Weg der Ausbildung und legt anschließend die Prüfung ab, so muß er lesen, schreiben und rechnen können.
2. Eignet sich jemand die erforderlichen Fertigkeiten durch praktische Berufserfahrung an, ohne lesen, schreiben und rechnen zu können, so steht diese Diskrepanz nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG zu den Voraussetzungen, unter denen ein Versicherter ohne die an sich erforderliche Ausbildung die Qualifikation eines Facharbeiters erlangen kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; BBiG § 25
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit gemäß § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der im Jahre 1927 geborene Kläger hat einen Beruf nicht erlernt. Von 1941 bis 1961 war er nach seinen Angaben als Bauarbeiter und anschließend bis zu seiner im Juni 1978 beginnenden Arbeitsunfähigkeit als Baufacharbeiter tätig. Seinen am 1. Juni 1979 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 31. Oktober 1979 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Juni 1979 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 14. Mai 1981). Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 16. Dezember 1983). Es hat ausgeführt, der Kläger habe keine Ausbildung für einen anerkannten Ausbildungsberuf durchlaufen. Er sei jedoch seit Juli 1966 einem gelernten Betonbauer gleichzustellen. Von da ab sei ihm der entsprechende Facharbeiterlohn gezahlt worden. Er habe sich durch langjährige praktische Arbeit Kenntnisse angeeignet, die ihn in die Lage versetzt hätten, vom Hochbauhelfer zum Facharbeiter (Betonbauer) aufzusteigen. Zwar sei er als Analphabet unfähig, schriftliche Arbeiten auszuführen, diese würden aber in der Praxis von einem Betonbauer auch nicht verlangt. Die zuletzt verrichtete Tätigkeit könne er wegen des Zustandes nach im Juni 1978 erlittenen Herzinfarktes und der danach durchgeführten Bypassoperation nicht mehr ausführen. Seine Verweisbarkeit sei stark eingeschränkt, da alle Tätigkeiten ausscheiden müßten, die Lesen, Schreiben und Rechnen erforderten. Als Analphabet könne er nicht auf Anlernberufe oder auf ungelernte Tätigkeiten mit besonderen Qualitätsmerkmalen, die für ihn als ehemaligen Facharbeiter zumutbar seien, verwiesen werden.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 1246 RVO.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 1983 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Mai 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen ermöglichen noch nicht die abschließende Entscheidung des Rechtsstreits.
Grundlage der Prüfung des Rentenanspruchs aus § 1246 Abs 2 RVO ist zunächst der bisherige Beruf des Versicherten. Eine für einen Ausbildungsberuf vorgesehene Ausbildung hat der Kläger nicht absolviert und auch keine entsprechende Prüfung abgelegt. Gleichwohl ist er nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG von 1966 bis zu seiner Erkrankung im Jahre 1978 als Facharbeiter (Betonbauer) beschäftigt und entlohnt worden. Das rechtfertigt es jedoch noch nicht, ihn in die Gruppe der Facharbeiter einzuordnen. Dafür ist vielmehr nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erforderlich, daß der Beruf "vollwertig" ausgeübt worden ist (vgl BSG in SozR 2200 Nr 68 mwN). Zwar ist die tarifliche Einstufung ein zuverlässiges Indiz, die Qualität einer Tätigkeit zu beurteilen. Zu unterscheiden sind dabei jedoch zwei verschiedene Fallgruppen. Wird eine Tätigkeit in der tariflichen Einstufung aufgrund ihres qualitativen Wertes einem anderen Beruf, und zwar einem anerkannten Ausbildungsberuf, gleichgestellt, so kommt darin zuverlässig zum Ausdruck, welchen qualitativen Wert die Tarifpartner dieser Berufstätigkeit generell und losgelöst von der konkreten Entlohnung eines bestimmten Arbeitnehmers beimessen. Geht es dagegen darum, ob ein Versicherter ohne die für einen Beruf vorgesehene Ausbildung und Prüfung dennoch vollwertig als Facharbeiter tätig gewesen ist, so kann allein aus der Entlohnung wie ein solcher nicht auf eine entsprechende Qualifikation geschlossen werden. Dann handelt es sich nicht um die tarifliche Gleichstellung einer - anderen - Tätigkeit mit einer Facharbeitertätigkeit, sondern um die Frage, ob ein bestimmter Versicherter die an einen tariflich erfaßten Arbeiter zu stellenden Anforderungen erfüllt hat (zu alledem vgl das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 11. Juli 1985 - 5b RJ 88/84 - mwN). Zweifel an der Facharbeiterqualifikation des Klägers ergeben sich daraus, daß er nach den Feststellungen des LSG Analphabet ist, deshalb nicht schreiben und lesen kann und auch zum Rechnen nur unzureichend befähigt ist. Bei dieser Sachlage bedurfte es einer Prüfung der Kenntnisse und Fertigkeiten des Klägers im Beruf des Betonbauers.
Auch ohne die dafür vorgesehene Ausbildung hat das LSG dem Kläger die Facharbeiterqualifikation eines Betonbauers zuerkannt. Dazu hat es ausgeführt, er habe sich durch langjährige praktische Arbeit Kenntnisse angeeignet, die ihn in die Lage versetzt hätten, vom Hochbauhelfer zum Facharbeiter (Betonbauer) aufzusteigen. Nicht nur die individuell auf seinem letzten Arbeitsplatz geforderte Leistung habe er erbracht; seine Kenntnisse hätten vielmehr ausgereicht, um in jedem anderen vergleichbaren Betrieb als Betonbauer eingesetzt zu werden. Der zwischen der Fachgemeinschaft Bau von Groß-Berlin und der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden, Landesverband Berlin, abgeschlossene Bezirkslohntarifvertrag vom 31. August 1978 verlange von einem gehobenen Facharbeiter wie dem Betonbauer (Berufsgruppe IV), daß er Baupläne lesen, Leistungsbeschreibungen erstellen, Bauleistungen aufmessen sowie Tagesberichte und Rapportzettel fertigen könne. Als Analphabet sei der Kläger allerdings nicht in der Lage, derartige schriftliche Arbeiten auszuführen. Diese Unfähigkeit hindere die Gleichstellung mit einem gelernten Facharbeiter jedoch nicht. Entgegen der Berufsgruppenbeschreibung im Bezirkslohntarifvertrag würden derartige Fähigkeiten von Betonbauern in der Praxis generell nicht verlangt.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG sind bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit die qualitativen Anforderungen an die bisherige Berufstätigkeit maßgebend. Von geringerem Gewicht ist dagegen die Berufsausbildung; sie kennzeichnet nur den Weg, auf dem die den Beruf qualifizierenden Kenntnisse und Fähigkeiten regelmäßig erworben werden. Deshalb kann die bisher vom Versicherten verrichtete Tätigkeit sein "bisheriger Beruf" iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO auch ohne die dafür vorgesehene Ausbildung sein, wenn er ihn zuletzt nicht nur vorübergehend und vollwertig ausgeübt hat (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 94, 116 mwN). Fehlt die an sich erforderliche Ausbildung zum Facharbeiter einschließlich Prüfung, dann ist es im Interesse einer klaren und sachgerechten Abgrenzung geboten, eingehend zu prüfen, ob die abweichend vom "normalen" Ausbildungsweg erlangte berufliche Position tatsächlich in voller Breite derjenigen des vergleichbaren Versicherten bzw Facharbeiters entspricht, der die üblichen Stadien der Entwicklung durchlaufen hat. Neben der tariflichen Einstufung und Entlohnung ist zu verlangen, daß der Versicherte nicht nur eine seinem individuellen Arbeitsplatz entsprechende Leistung erbringt, sondern auch über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten verfügt, die in seiner Berufsgruppe im allgemeinen erwartet werden. In diesem Sinne muß eine "Wettbewerbsfähigkeit" im Vergleich zu anderen Versicherten derselben Berufsgruppe bestehen (so BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 53, 61, 68 und 70).
Welche Kenntnisse und Fertigkeiten eine Facharbeitertätigkeit im allgemeinen erfordert, ist grundsätzlich - soweit vorhanden - der dafür bestimmten Ausbildungsordnung zu entnehmen, die im Rahmen der Ermächtigung des § 25 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) vom 14. August 1969 (BGBl I 1112) vom zuständigen Bundesminister erlassen worden ist. Für den anerkannten Ausbildungsberuf des Beton- und Stahlbauers, ist diese in der Verordnung über die Berufsausbildung in der Bauwirtschaft vom 8. Mai 1974 (BGBl I 1073) enthalten. Nach § 13 dieser Verordnung und deren Anlage 5 (Ausbildungsrahmenplan) sind Gegenstand der Berufsausbildung für den Beton- und Stahlbauer mindestens die folgenden Fertigkeiten und Kenntnisse: 1. Lesen und Anfertigen einfacher Zeichnungsskizzen und Verlegepläne; 2. Grundkenntnisse der Leistungsbeschreibung und Arbeitsplanung sowie der Baustoffbedarfsermittlung und Massenberechnungen; 3. Arbeitsschutz und Unfallverhütung; 4. Aufstellen von Arbeits- und Schutzgerüsten; 5. Herstellen und Verarbeiten von Betonmischungen; 6. Bearbeiten von Bauholz; 7. Herstellen von Betonschalungen aus Holz, Zusammenbauen von Schalungen aus Stahl und Kunststoff; 8. Herstellen, Transportieren und Einbauen von Stahlbetonfertigteilen.
Das LSG hat es in seiner Entscheidung hauptsächlich auf die "praktischen Kenntnisse" des Klägers, also auf die Fertigkeiten abgestellt. Darüber hinaus fordert die oben wiedergegebene Rechtsprechung des BSG aber auch, daß der Versicherte über die theoretischen Kenntnisse verfügt, die in seiner Berufsgruppe allgemein erwartet werden. Die Prüfungsanforderungen für den Beton- und Stahlbauer (§ 45 der Verordnung vom 8. Mai 1974) verlangen den Nachweis der Kenntnisse in den Prüfungsfächern Technologie, technische Mathematik, technisches Zeichnen sowie Wirtschafts- und Sozialkunde, die schriftlich geprüft werden. Für die Zeit vor Inkrafttreten der genannten Ausbildungsverordnung kann nichts anderes gelten, weil die den Beteiligten zur Kenntnis gegebenen "Fachlichen Vorschriften zur Regelung des Lehrlingswesens und der Gesellenprüfung im Beton- und Stahlbetonbauer-Handwerk", Stand Juli 1962 ebenfalls einen schriftlichen Nachweis im wesentlichen gleichartiger Kenntnisse erforderten.
Derartige Kenntnisse des Klägers hat das LSG nicht für erforderlich gehalten, weil sie in der Praxis nicht verlangt würden. In diesem Zusammenhang hat der Senat nicht darüber zu entscheiden, ob sich das Berufungsgericht zu einer weiteren Sachaufklärung hätte gedrängt fühlen müssen. Immerhin werden derartige Kenntnisse nicht nur nach der Ausbildungsordnung verlangt, sie sind auch in der Berufsgruppenbeschreibung des einschlägigen, vom LSG zitierten Tarifvertrages aufgeführt (vgl auch Blätter zur Berufskunde, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeit 1-2 C 109 - Beton- und Stahlbauer -). Da die Ausbildungsordnung gemeinsam vom Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden entworfen worden ist (so Weber, Kommentar zum BBiG, § 26 Anm 10), wären unter Umständen Rückfragen bei diesen Organisationen angezeigt gewesen. Die Beklagte hat jedoch das angefochtene Urteil insoweit nicht mit Verfahrensrügen angegriffen, so daß der Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an die Feststellungen des LSG gebunden ist.
Geht man mit den bindenden Feststellungen des LSG davon aus, daß in der Praxis vom Betonbauer keine Kenntnisse verlangt werden, die Lesen, Schreiben oder Rechnen in einem Umfang erfordern, wie es bei Facharbeitern im allgemeinen vorausgesetzt werden kann, so ergibt sich indes folgende Diskrepanz: Erlernt jemand den Beruf des Betonbauers über den Weg der Ausbildung und legt anschließend die Prüfung ab, so muß er lesen, schreiben und rechnen können. Eignet sich der Betreffende dagegen die erforderlichen Fertigkeiten durch praktische Berufserfahrung an, kann - so jedenfalls das LSG - auf die Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen weitgehend verzichtet werden. Diese Diskrepanz, zu der die Entscheidung des Berufungsgerichts führt, steht nicht im Einklang mit der genannten Rechtsprechung des BSG zu den Voraussetzungen, unter denen ein Versicherter ohne die an sich erforderliche Ausbildung die Qualifikation eines Facharbeiters erlangen kann. Wer nicht befähigt ist, über die vorgeschriebene Ausbildung einen Beruf zu erlernen, kann grundsätzlich auch nicht durch längere Erfahrung im praktischen Berufsleben einen vergleichbaren Qualitätsstandard erreichen, der allein die Gleichstellung mit dem Facharbeiter bei der Prüfung seiner Berufsunfähigkeit rechtfertigt. Daher kann der Kläger nicht der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet werden. Auszugehen ist vielmehr im Rahmen des sog Mehrstufenschemas von einem "bisherigen Beruf", der durch den Leitberuf des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf) charakterisiert wird.
Das LSG wird nunmehr festzustellen haben, ob der Kläger gesundheitlich noch in der Lage ist, Tätigkeiten zu verrichten, auf die ein bisheriger angelernter Arbeiter zumutbar im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO verwiesen werden kann.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1663540 |
BSGE, 72 |