Leitsatz (amtlich)
Die Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts ist nach SGG § 146 auch dann ausgeschlossen, wenn es sich um einen Streit über die Berechnung der Rente für bereits abgelaufene Zeiträume handelt.
Bei der Frage, ob es sich um den Streit über eine Rente für bereits "abgelaufene" Zeiträume handelt, ist auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das Urteil erster Instanz erlassen worden ist.
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Oktober 1954 wird zurückgewiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger war von 1900 bis 1945 als Kartograph beim Reichsamt für Landesaufnahme in Berlin tätig. Am 2. August 1945 wurde er 65 Jahre alt. Mit Bescheid vom 16. Juli 1946 bewilligte ihm die Versicherungsanstalt Berlin ab 1. Mai 1946 eine "Rente aus der Sozialversicherung" in Höhe von 106,20 RM. Am 20. August 1947 bewilligte sie ihm auf Grund seiner früheren Tätigkeit als Beamter auch noch Versorgungsbezüge im Betrage von monatlich 150,- RM. Diese Versorgungsbezüge führten zur Kürzung der Rente um den auf die Pflichtbeiträge entfallenden Rententeil entsprechend der Anweisung des Magistrats von Groß-Berlin vom 9. April 1948 (Verordnungsblatt S. 219). Wegen dieser Kürzung entstand zwischen dem Kläger und der Versicherungsanstalt Berlin ein Rechtsstreit, der durch Urteil des Spruchausschusses des Sozialversicherungsamts Berlin vom 20. Dezember 1951 beendet wurde.
Mit Schreiben vom 28. Mai 1951 und 5. Juli 1951 legte der Kläger der Versicherungsanstalt Berlin Unterlagen darüber vor, daß auch noch in den Jahren 1945 und 1947 für ihn Beiträge zur Versicherungsanstalt Berlin entrichtet wurden. Seine Rente wurde deshalb von der Versicherungsanstalt Berlin in dem Bescheid vom 13. Oktober 1951 neu festgesetzt. Für die Zeit vom 1. Mai 1946 bis 31. März 1950 wurde ihm die Tabellenrente von 150,- RM bezw. DM bewilligt, für die Zeit ab 1. April 1950 wurde die Rente aus Grund- und Steigerungsbetrag auf 107,30 DM errechnet; dazu kamen ab 1. Januar 1951 ein Zuschlag von monatlich 15,- DM und ab 1. Juni 1951 ein weiterer Zuschlag von monatlich 30,- DM. Den auf die freiwilligen Beiträge entfallenden Rententeil errechnete die Versicherungsanstalt Berlin für die Zeit bis 31. Dezember 1950 mit 47,60 DM, für die Zeit bis 31. Mai 1951 mit 62,60 DM und für die Zeit ab 1. Juni 1951 mit 77,60 DM. Diese Errechnung war notwendig, weil ab 1. April 1950 nach einer Vereinbarung zwischen dem Magistrat von Groß-Berlin und der Versicherungsanstalt Berlin vom 12. August 1950 nicht mehr die Rente, sondern die Versorgungsbezüge um den auf Pflichtbeiträge entfallenden Rententeil gekürzt wurden. Was der Kläger hiernach von dem Magistrat Berlin an Versorgungsbezügen zu viel erhalten hatte, verrechnete die Versicherungsanstalt Berlin mit seinen Rentenansprüchen.
Am 8. Dezember 1951 beschwerte sich der Kläger gegen den Bescheid vom 13. Oktober 1951; er führte aus, die Versicherungsanstalt Berlin habe den auf freiwillige Beiträge entfallenden Rententeil der Tabellenrente mit 47,60 DM zu niedrig errechnet, auch sei ein Beitrag der Klasse J für März 1920 nicht voll berücksichtigt worden; mit Schreiben vom 8. Juni 1952 erklärte er außerdem, er verlange die Tabellenrente von 150,- DM nicht nur bis 31. März 1950, sondern bis 30. Juni 1951. Diese Beschwerde wies der Beschwerdeausschuß am 20. November 1952 zurück, die weitere Beschwerde des Klägers wurde vom Bezirksberufungsausschuß am 14. Juli 1953 zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung legte der Kläger beim Spruchausschuß des Sozialversicherungsamts Berlin Beschwerde ein. Die Beschwerde ging nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes als Berufung auf das Landessozialgericht Berlin über. Vor dem Landessozialgericht stellte der Kläger den Antrag, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, auf die inzwischen die Aufgaben der Angestelltenversicherung übergegangen waren, zur Zahlung der Tabellenrente bis 30. Juni 1951 zu verurteilen und zur Zahlung des "Differenzbetrages, der sich aus der anderweitigen Errechnung des Anteils der Tabellenrente ergibt, der auf freiwilligen Beiträgen beruht, und zwar für die Zeit vom 1. Januar 1947 bis 30. Juni 1951"; den Antrag, bei Berechnung des Steigerungsbetrages aus der Angestelltenversicherung auch noch einen halben Beitrag der Klasse J zu berücksichtigen, nahm er gleichzeitig zurück. Durch Urteil vom 8. Oktober 1954 verwarf das Landessozialgericht die Berufung als unzulässig. Es führte dazu aus, der Rechtsstreit betreffe eine Rente für bereits abgelaufene Zeiträume, die Berufung sei deshalb nach § 146 SGG nicht statthaft; die Revision werde jedoch zugelassen, damit auch das Bundessozialgericht zu der grundsätzlichen Frage der Zulässigkeit der Berufung Stellung nehmen könne. Von dieser Möglichkeit machte der Kläger Gebrauch; am 20. November 1954 legte er gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin Revision ein und beantragte, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 735,20 DM an den Kläger zu verurteilen. Zur Begründung führte er aus, das Urteil des Landessozialgerichts beruhe auf unrichtiger Anwendung der §§ 146, 215 und 218 SGG und des Artikel 103 Abs. 1 GG. Die Berufung sei nicht unzulässig gewesen; nur für die Überleitungsfälle des § 215 Abs. 7 bis 9 richte sich die Zulässigkeit der Berufung nach dem neuen Verfahrensrecht des Sozialgerichtsgesetzes, für den hier vorliegenden Fall des § 218 Abs. 6 SGG dagegen sei noch das alte Verfahrensrecht maßgebend. Wenn man sich dieser Auffassung nicht anschließe, so sei die Berufung trotzdem zulässig gewesen, weil vor dem Landessozialgericht nicht eine Rente für bereits abgelaufene Zeiträume, sondern die Höhe der zur Aufrechnung gestellten Gegenansprüche des Magistrats streitig gewesen sei. Im übrigen sei ihm durch die Verwerfung der Berufung das rechtliche Gehör in der Sache versagt worden, da zuvor eine mündliche Verhandlung nicht stattgefunden habe. Er habe Anspruch auf die Zahlung des von ihm beantragten Betrages. Aus § 56 des Gesetzes zur Anpassung des Rechts der Sozialversicherung in Berlin an das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht vom 3. Dezember 1950 (BSVAG) ergebe sich, daß ihm die Tabellenrente bis 30. Juni 1951 zustehe; die Festsetzung des seinen freiwilligen Beiträgen entsprechenden Anteils an der Rente auf monatlich 47,60 DM sei unrichtig, weil sie von der nach Grund- und Steigerungsbetrag errechneten Gesamtrente von 106,50 DM ausgehe und die Erhöhung dieser Rente auf 150,- DM Tabellenrente unberücksichtigt lasse; der Anteil an der Tabellenrente, der auf seine freiwilligen Beiträge entfalle, betrage 67,05 DM, weil die Tabellenrente 150,- DM ausmache und etwa 45 % der Gesamtbeiträge freiwillige Beiträge gewesen seien. Vom 1. Januar 1947 bis 30. Juni 1951 habe er hiernach jeden Monat 19,45 RM bzw. DM zu wenig bekommen, sein Anspruch betrage deshalb für die Zeit vom 1. Januar 1947 bis 30. Juni 1948 18 x 19,45 RM = 350,10 RM = 35,- DM und für die Zeit vom 1. Juli 1948 bis 30. Juni 1951 36 x 19,45 DM = 700,20 DM, zusammen 735,20 DM.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen; sie erklärte dazu, sie halte die Begründung, die das Landessozialgericht Berlin dem angefochtenen Urteil gegeben habe, für durchaus zutreffend.
II.
Die Revision, die vom Landessozialgericht zugelassen ist, ist form- und fristgerecht eingelegt; sie ist auch rechtzeitig begründet; sie ist deshalb zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG).
Die Revision ist aber nicht begründet.
Die Beschwerde, die beim Spruchausschuß des Sozialversicherungsamts anhängig gewesen ist, ist mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes am 1. Januar 1954 nach § 218 Abs. 6 dieses Gesetzes als Berufung auf das Landessozialgericht Berlin übergegangen (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 16.6.1955, 8 RV 223/54). Die Frage, ob diese Berufung zulässig ist, ist nach dem Sozialgerichtsgesetz zu beurteilen. Es ist ein allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz, daß neues Prozeßrecht sofort und unmittelbar alle schwebenden Prozesse ergreift, soweit in der Neuregelung selbst nichts anderes bestimmt ist (ebenso Urteil des RG. vom 31.3.1925, RGZ. Bd. 110 S. 370; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 6. Aufl. S. 23 § 6 unter I; Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 1954 S. 209). Dies gilt aber nicht für Rechtsmittel. Für sie besteht der Grundsatz, daß die neuen Verfahrensvorschriften nur auf solche Rechtsmittel anzuwenden sind, die nach Inkrafttreten des neuen Verfahrensrechts eingelegt werden; für die vorher eingelegten Rechtsmittel aber gilt das alte Verfahrensrecht, falls die Neuregelung nichts anderes bestimmt (ebenso die Beschlüsse des RG. vom 3.2.1932, RGZ. Bd. 135 S. 123 und vom 10.12.1941, RGZ. Bd. 168 S. 355 ff; Rosenberg aaO; Stein-Jonas-Schönke, ZPO-Kommentar, 18. Aufl. Einleitung zu § 511 Anm. II 2). Zwar ist nun in § 218 Abs. 6 SGG nicht ausdrücklich gesagt, daß sich die Zulässigkeit der Berufung nach dem Sozialgerichtsgesetz richtet. Dies ergibt sich aber daraus, daß das Sozialgerichtsgesetz für die Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung eine neue Gerichtsverfassung und ein von völlig neuen Voraussetzungen ausgehendes Verfahren gebracht hat; das Verfahren vor den Sozialgerichten ist rechtlich keine Fortsetzung des Verfahrens vor den Spruchbehörden, sondern ein neues Verfahren; es ist mit dem Verfahren vor den Spruchbehörden nur durch die Überleitungsvorschriften verbunden. Die Zulässigkeit des Verfahrens vor den Sozialgerichten aller Instanzen richtet sich deshalb auch bei den Überleitungsfällen nach den neuen Verfahrensvorschriften, sofern nicht das Sozialgerichtsgesetz ausdrücklich auf die alten, aufgehobenen Verfahrensvorschriften verweist (wie z.B. in § 214 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 S. 2 SGG). Da § 218 SGG eine solche Verweisung nicht enthält, ist die Berufung des Klägers grundsätzlich nur statthaft, wenn keine Ausschließungsgründe nach den §§ 144 bis 149 SGG vorliegen. Dieses Ergebnis stimmt auch überein mit § 215 Abs. 7 bis 9 SGG; danach richtet sich die Zulässigkeit der bei den allgemeinen Verwaltungsgerichten eingelegten Rechtsmittel nach dem Sozialgerichtsgesetz; daß dies dort besonders zum Ausdruck gebracht ist, ist damit zu erklären, daß die allgemeinen Verwaltungsgerichte und ihr Prozeßrecht fortbestehen und die Sozialgerichte nicht ebenso an deren Stelle getreten sind, wie sie jetzt die Stelle der bisherigen Spruchbehörden der Sozialversicherung einnehmen (ebenso im Ergebnis die Urteile des Bundessozialgerichts vom 16.6.1955, 8 RV 223/54 und vom 20.9.1955, 9 RV 78/54; für den gleichgelagerten Fall des § 215 Abs. 3 SGG auch die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24.2.1954, Breithaupt 1954 S. 447 ff und vom 13.4.1954, Breithaupt 1954 S. 753 ff, sowie des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2.6.1954, Breithaupt 1954 S. 1089 ff; ferner Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 215 Anm. 1; Sauerwein, Das Sozialgerichtsgesetz, § 215, Erläuterungen zu Abs. 3; Miesbach-Ankenbrank, Sozialgerichtsgesetz, § 215 Anm. 9; ebenso im Ergebnis und in der Begründung Thannheiser-Wende-Zech, Handbuch des Bundesversorgungsrechts, Bd. II, Erläuterung zu § 215; Rohwer-Kahlmann, Die Zulässigkeit von Berufung und Revision in Altfällen in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1955 S. 193 bis 195, 225 bis 227).
Im vorliegenden Fall ist die Berufung des Klägers nach § 146 SGG unzulässig. Nach dieser Vorschrift können in Angelegenheiten der Rentenversicherung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, die nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen. Hierbei kommt es nicht darauf an, welcher Rechtssatz oder welches Gesetz umstritten ist, ob der Streit die ganze Rente oder nur einen Rententeil betrifft; es kommt allein auf den Zeitraum an, für den der Anspruch auf Rente streitig ist (ebenso Peters-Sautter-Wolff aaO § 145 Anm. 2 und Anm. zu § 146; Hastler aaO § 145 Anm. 2 c und Anm. zu § 146; Miesbach-Ankenbrank aaO § 146 Anm. 2). Bei der Feststellung dieses Zeitraumes ist das Landessozialgericht mit Recht von dem Zeitpunkt ausgegangen, in dem die Entscheidung des Berufungsausschusses vom 4. Juli 1953 getroffen worden ist, denn diese Entscheidung ist mit der Berufung angegriffen. Dabei ist aber zu berücksichtigen gewesen, daß der Kläger vor dem Landessozialgericht den Antrag, bei der Berechnung des Steigerungsbetrages auch noch einen halben Beitrag der Klasse J zu berücksichtigen, zurückgenommen hat. Nach Rücknahme dieses Antrages sind nur noch die Ansprüche des Klägers auf Zahlung der Tabellenrente für die Zeit vom 1. April 1950 bis 30. Juni 1951 und auf Erhöhung seines auf die freiwilligen Beiträge entfallenden Anteils an der Tabellenrente für die Zeit vom 1. Januar 1947 bis 30. Juni 1951 im Streit gewesen. Hierbei hat es sich aber ausschließlich um Rententeile für bereits abgelaufene Zeiträume und deren Berechnung gehandelt. Daß der Streit um diese Rententeile auch die Höhe der Gegenansprüche des Magistrats wegen zu viel gezahlten Ruhegehalts beeinflußt, steht dem Umstand nicht entgegen, daß nur Rententeile für bereits abgelaufene Zeiträume im Sinne des § 146 SGG im Streit gewesen sind. Nach dieser Vorschrift ist aber in solchen Fällen die Berufung ausgeschlossen; die Berufung könnte allerdings trotzdem nach § 150 Nr. 1 SGG zulässig sein, wenn das Sozialgericht sie im Urteil zuließe, weil es sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung handelt. Da zur Zeit der Entscheidung des Berufungsausschusses die Sozialgerichte noch nicht errichtet waren und auch keine dem § 150 Nr. 1 SGG entsprechende Vorschrift in Kraft gewesen ist, ist vom Landessozialgericht selbst zu entscheiden gewesen, ob die Berufung zuzulassen ist, weil es sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung handelt (vgl. die Urteile des Bundessozialgerichts vom 16.6.1955, 8 RV 461/54, vom 20.9.1955, 9 RV 78/54 und vom 13.10.1955, 1 RA 17/54 und den Beschluß vom 20.10.1955, 1 RA 40/54). Mit Recht hat das Landessozialgericht angenommen, daß der Fall des § 150 Nr. 1 SGG nicht gegeben ist; die Rechtssache berührt nur Ansprüche des Klägers und hat keine darüber hinausgehende Bedeutung. Wenn das Landessozialgericht deshalb die Berufung als unzulässig verworfen hat, so hat es damit auch nicht Artikel 103 Abs. 1 GG verletzt; in dem Verfahren vor dem Landessozialgericht hat der Kläger, wie schon die von ihm gestellten Anträge zeigen, Gelegenheit zur sachlichen Äußerung gehabt. Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts ist hiernach unbegründet; sie ist nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§ 193 SGG).
Fundstellen