Orientierungssatz
Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG:
Ist die in das Wissen des ärztlichen Sachverständigen gestellte Beweisfrage für die Entscheidung rechtserheblich, so kann ein Antrag auf § 109 SGG vom Tatrichter nicht deshalb abgelehnt werden, weil das Gutachten die Entscheidung nicht mehr beeinflussen könne (vgl BSG 1956-03-14 9 RV 226/54 = BSGE 2, 255).
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, § 109
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 10.11.1960) |
SG Kassel (Entscheidung vom 27.06.1957) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 10. November 1960 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Durch Umanerkennungsbescheid des Versorgungsamts (VersorgA) F... vom 4. Dezember 1951 wurden beim Kläger "rheumatische Beschwerden, chronischer Magen- und Darmkatarrh mit Verlust der freien Magensalzsäure, Zustand nach leichter Gehirnerschütterung, Bombensplitterverletzung des linken Auges mit Verlust des Augapfels" als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. anerkannt. Dieser Bescheid ist bindend geworden. Auf Veranlassung der Barmer Ersatzkasse erstattete die Chirurgische Universitätsklinik F... ein Gutachten vom 4. Februar 1954 zu der Frage, ob bei dem Kläger eine Trigeminusneuralgie vorliegt, die mit den anerkannten Schädigungsfolgen (rheumatische Beschwerden) in Zusammenhang gebracht werden kann. Die Universitätsklinik hielt es für äußerst unwahrscheinlich, daß die Trigeminusneuralgie rheumatischer Genese sei, so daß diese nicht auf eine Wehrdienstbeschädigung zurückzuführen sei. Am 10. April 1954 stellte der Kläger Antrag auf Anerkennung der Gesundheitsstörungen, die in einer gleichzeitig überreichten Bescheinigung seines Hausarztes Dr. Sch... vom 24. März 1954 aufgeführt waren. In dieser Bescheinigung gab Dr. Sch... an, daß der Kläger wegen einer Trigeminusneuralgie, die zur fast völligen Erblindung des rechten Auges geführt habe, und wegen Schluck- und Geschmacksstörungen sowie wegen Verlustes des Gehörs rechts in Behandlung stehe. Durch Bescheid vom 10. September 1954 lehnte das VersorgA F... den Antrag des Klägers vom 10. April 1954 mit der Begründung ab, daß in den anerkannten Schädigungsfolgen eine wesentliche Verschlimmerung nicht eingetreten sei; die Trigeminusneuralgie sei keine Schädigungsfolge. Der Widerspruch gegen diesen Bescheid hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid des LVersorgA Hessen vom 15.3.1955).
Mit der Klage hat der Kläger die zusätzliche Anerkennung einer Trigeminusneuralgie, der Verminderung der Sehkraft des rechten Auges und eines Anfallsleidens geltend gemacht sowie eine höhere Versorgungsrente beantragt. Das Sozialgericht (SG) hat zunächst die Zeugen B..., G... und M... gehört und dann ein Gutachten von der Universitäts-Nervenklinik M... vom 6. April 1957 mit Zusatzgutachten der Universitäts-Augenklinik Marburg vom 2. April 1957, der Medizinischen Universitätsklinik M... vom 21. Februar 1957 und der Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik M... vom 11. Februar 1957 eingeholt. Die Sachverständigen sind zu der Auffassung gelangt, daß die Trigeminusneuralgie nicht als Schädigungsfolge anerkannt werden könne und das Anfallsleiden nach den vorliegenden Befunden nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf Einwirkungen des Wehrdienstes zurückzuführen sei. Durch die Folgen nach leichter Gehirnerschütterung werde eine MdE nicht bedingt. Von internistischer Seite aus lägen rheumatische Beschwerden und eine chronische Magenschleimhautentzündung bei einer MdE um 30 v.H., von augenfachärztlicher Seite der Verlust des linken Auges bei einer MdE um 30 v.H. als Schädigungsfolgen vor. Die Beurteilung der Gesamt-MdE müsse dem SG überlassen bleiben. Die neuroparalytische Hornhautentzündung des rechten Auges könne nicht als Schädigungsfolge anerkannt werden, da sie eine Folge der Trigeminusausschaltung sei, die Trigeminusneuralgie aber nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schädigungsfolge sei. Durch Urteil vom 27. Juni 1957 hat das SG Kassel die Klage im Hinblick auf die erhobenen Gutachten abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) noch Dr. C... und Dr. P..., die den Kläger im Reservelazarett E... behandelt hatten, als Zeugen gehört. In der mündlichen Verhandlung am 6. Oktober 1960 hat der Kläger erklärt, daß er das Anfallsleiden nicht mehr als Schädigungsfolge geltend mache. In der mündlichen Verhandlung am 10. November 1960 hat er nur noch die zusätzliche Anerkennung der Trigeminusneuralgie mit Verminderung der Sehkraft des rechten Auges und eine Rente nach einer MdE um 100 v.H. sowie Pflegezulage der Stufe I beantragt, hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, für die mit Bescheid vom 4. Dezember 1951 anerkannten Schädigungsfolgen Rente nach einer MdE um 70 v.H. und Pflegezulage zu zahlen. Ferner hat er bereits in der mündlichen Verhandlung am 6. Oktober 1960 die Einholung eines Gutachtens nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Dr. H... in E... beantragt und diesen Antrag in der letzten mündlichen Verhandlung am 10. November 1960 wiederholt.
Das LSG hat durch Urteil vom 10. November 1960 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Kassel vom 27. Juni 1957 zurückgewiesen; es hat die Revision nicht zugelassen. In den Entscheidungsgründen wird im wesentlichen ausgeführt, die Beweiserhebung habe nicht ergeben, daß die Trigeminusneuralgie und die Verminderung der Sehschärfe des rechten Auges noch auf Verwundungsfolgen zurückzuführen seien. Ein schädigendes Ereignis für diese Leiden könne nicht als erwiesen angesehen werden; eine Anerkennung dieser Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen komme daher nicht in Betracht. Es sei auch nicht möglich, für die anerkannten Schädigungsfolgen eine höhere Rente als bisher und Pflegezulage zu gewähren, da eine Verschlimmerung nicht dargetan sei. Dem Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG von Dr. H... könne nicht stattgegeben werden, weil Voraussetzung für die Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Ereignis sei, daß dieses nachgewiesen ist. Ein Nachweis darüber, daß die Trigeminusneuralgie durch die Bombensplitterverletzung am 19. Juli 1941 verursacht wurde, sei aber nicht erbracht.
Gegen das am 17. Januar 1961 zugestellte Urteil des LSG hat der Kläger mit Schriftsatz vom 2. Februar 1961, eingegangen am 3. Februar 1961. Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis 17. April 1961 mit einem beim Bundessozialgericht am 11. April 1961 eingegangenen Schriftsatz begründet. Er beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Mit der Revision rügt der Kläger als wesentlichen Mangel des Verfahrens (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) lediglich eine Verletzung des § 109 SGG, weil das Berufungsgericht seinem Antrag auf gutachtliche Anhörung des Dr. H... in E... nicht entsprochen habe. Im vorliegenden Verfahren sei streitig, ob die bei ihm bestehende Trigeminusneuralgie im ursächlichen Zusammenhang mit schädigenden Einwirkungen des Wehrdienstes, insbesondere mit den anerkannten Schädigungsfolgen stehe. Er habe den Antrag nach § 109 SGG gestellt, um auf diese Weise den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zu erbringen. Die von Dr. H... zu beurteilende medizinische Frage sei daher beweiserheblich, so daß das LSG den Antrag nicht mit der Begründung habe ablehnen dürfen, ein Nachweis darüber, daß die Trigeminusneuralgie durch die Bombensplitterverletzung am 19. Juli 1941 versursacht wurde, sei nicht erbracht und ein schädigendes Ereignis nicht nachgewiesen.
Der Beklagte hat, eine Äußerung nicht abgegeben und einen Antrag nicht gestellt.
Der Kläger hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 164, 166 SGG). Sie findet - da nicht zugelassen - nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
Der Kläger rügt mit der Revision lediglich eine Verletzung des § 109 SGG durch das Berufungsgericht. Nach dieser Vorschrift muß auf Antrag des Versorgungsberechtigten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Der Kläger hat in den mündlichen Verhandlungen vor dem Berufungsgericht am 6. Oktober und 10. November 1960 die Anhörung des Dr. H... in E... nach § 109 SGG beantragt. Die formalen Voraussetzungen dieser Vorschrift - Antrag des Versorgungsberechtigten, Benennung eines bestimmten Arztes - liegen somit vor. Das LSG hat den Antrag des Klägers deswegen abgelehnt, weil Voraussetzung für die Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Ereignis sei, daß dieses nachgewiesen ist. Ein Nachweis darüber, daß die Trigeminusneuralgie durch die Bombensplitterverletzung vom 19. Juli 1941 verursacht wurde, sei jedoch nicht erbracht.
Die Pflicht, nach § 109 SGG einen bestimmten Arzt gutachtlich zu hören, besteht nur dann, wenn die Frage, über die der beantragte Sachverständigenbeweis erhoben werden soll, für die Entscheidung rechtserheblich ist (vgl. BSG 2, 255; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 2 zu § 109 SGG). Im vorliegenden Falle begehrt der Kläger zusätzlich zu den bereits anerkannten Schädigungsfolgen (rheumatische Beschwerden, chronischer Magen- und Darmkatarrh mit Verlust der freien Magensalzsäure, Zustand nach leichter Gehirnerschütterung und Bombensplitterverletzung des linken Auges mit Verlust des Augapfels) die Anerkennung einer Trigeminusneuralgie mit Verminderung der Sehkraft des rechten Auges sowie eine höhere Versorgungsrente. Er ist der Auffassung, daß die Trigeminusneuralgie auf die am 19. Juli 1941 erlittene Bombensplitterverletzung zurückzuführen ist oder mit einer bereits anerkannten Schädigungsfolge (rheumatische Beschwerden) in ursächlichem Zusammenhang steht. Es ist hiernach zwischen den Parteien streitig, ob der Kläger durch im Wehrdienst erlittene Schädigungen eine Gesundheitsstörung - Trigeminusneuralgie - erlitten hat. In einem solchen Falle kann aus der Art und dem Verlauf der Krankheit auf Grund ärztlich-wissenschaftlicher Erfahrung geschlossen werden, welche ursächliche Bedeutung den wehrdienstlichen Einflüssen beizumessen ist. Die Beurteilung der Frage, wie die Trigeminusneuralgie ursächlich zu erklären ist, hat somit für die Entscheidung, ob hinsichtlich dieser Gesundheitsstörung ein Versorgungsanspruch begründet ist, rechtliche Bedeutung (vgl. hierzu das Urteil des erkennenden Senats vom 16.12.1958 in SozR SGG § 109 Bl. Da 17 Nr. 25). Im übrigen hat das LSG in dem angefochtenen Urteil bei der Beurteilung der Frage, ob die Trigeminusneuralgie auf die Bombensplitterverletzung oder die als Schädigungsfolge anerkannten rheumatischen Beschwerden zurückzuführen ist, den ursächlichen Zusammenhang unter Würdigung der Zeugenaussagen und der Gutachten der Universitätskliniken in Marburg eingehend geprüft. Es hat also selbst die insoweit in Betracht kommenden medizinischen Fragen, zu denen der von dem Kläger benannte Arzt Dr. H... nach § 109 SGG gehört werden sollte, für beweiserheblich gehalten. Es ist somit auch nach seiner eigenen sachlich-rechtlichen Auffassung. auf diese Fragen angekommen. Das Berufungsgericht durfte daher den Beweisantrag nach § 109 SGG nicht deswegen ablehnen, weil ein schädigendes Ereignis nicht nachgewiesen sei, bzw. der Nachweis darüber, daß die Trigeminusneuralgie durch die Bombensplitterverletzung vom 19. Juli 1941 verursacht wurde, nicht erbracht sei. Das Verfahren des LSG leidet hiernach an einem wesentlichen Mangel, der die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft macht.
Die Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das Berufungsgericht zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn es dem Antrag des Klägers, Dr. H... nach § 109 SGG zu hören, stattgegeben hätte (vgl. BSG 2, 197). Da der Senat nicht selbst entscheiden kann, weil noch die Anhörung eines Sachverständigen nach § 109 SGG zu erfolgen hat, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen