Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 06.07.1962) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Juli 1962 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Am 1. Mai 1956 befand sich der Kläger etwa um 23.30 Uhr in Begleitung seiner Ehefrau und seiner Schwiegereltern auf dem Wege von einer Omnibushaltestelle in Dortmund-Wichlinghofen zu seiner 10 Minuten entfernten Wohnung in der Straße „Im Buschholz”. Schon von weitem fiel ihm ein junger Mann auf, der in gebückter Haltung an einem Pfahl vor einem Konsumgeschäft stand; dieses Geschäft liegt schräg gegenüber dem Hause Nr. 13, in dem der Kläger wohnt. Der junge Mann war der damals 19 Jahre alte Arbeiter R. (R.), der sich dort aufhielt, weil er in ein in dem Hause Nr. 14 wohnendes Mädchen verliebt war. Um die Aufmerksamkeit dieses Mädchens auf sich zu lenken, hatte er bereits im vorausgegangenen Winter mit einem Trommelrevolver auf die vor dem Hause Nr. 13 stehende Straßenlaterne geschossen und einige Zeit später durch einen Schuß das Schlafzimmerfenster des Mädchens beschädigt. Als R. den Kläger und seine Begleiter bemerkte, richtete er sich auf und ging an ihnen vorbei. Der Kläger und seine Begleiter begaben sich auf das Grundstück „Im Buschholz” Nr. 13 und beobachteten vom Hinterhof aus das weitere Verhalten des R. Dieser kam wieder zurück und ging am Hause des Klägers vorbei bis zum Hause Nr. 9, wo er sich wieder bückte und seinen Fuß massierte. Sem Kläger kam das Verhalten des R. verdächtig vor; er nahm an, R. plane möglicherweise einen Einbruch in das Konsumgeschäft. Deshalb holte er aus seiner Wohnung eine Taschenlampe, begab sich mit seiner Ehefrau zum Gartentor und leuchtete die Straße ab. R. kam nun wieder die Straße zurück, weil es ihn zum Hause Nr. 14 zog. Als er sich in der Nähe des Klägers befand, leuchtete dieser ihn mit der Taschenlampe an. R. hielt die Hand vor das Gesicht und forderte den Kläger auf, die Lampe auszumachen. Der Kläger kam diesem Verlangen nach und fragte R. zugleich, was er hier wolle, ob er etwas suche. R. erwiderte, er suche die Omnibushaltestelle; in Wirklichkeit war ihn bekannt, wo sich die Haltestelle befand. Der Kläger trat nun auf R. zu, faßte ihn am Rockärmel, drehte ihn in die entgegengesetzte Richtung und sagte, der Weg zur Haltestelle führe dorthin. R. setzte sich in dieser Richtung in Bewegung, während der Kläger auf der Straße stehen blieb und ihm nachschaute. Als R. einige Schritte gegangen war, drehte er sich plötzlich um, zog aus seiner Manteltasche einen Trommelrevolver hervor – diesen führte er bei sich, ohne im Besitz eines Waffenscheins zu sein – und feuerte einen gezielten Schuß auf den Kläger ab, weil er sich in seinem Vorhaben, noch in der Nähe des Hauses Nr. 14 zu bleiben, behindert fühlte. Das Geschoß traf den Kläger zwischen den Augenbrauen, durchschlug das Stirnbein und drang etwa 7 cm in das Gehirn ein; dort hat es sich eingekapselt. Der Kläger leidet noch an Kopfschmerzen und kann deshalb seinen früheren Beruf als Omnibusfahrer nicht mehr nachgehen; er wird im Innendienst der Stadt Dortmund als Zeitkartenverkäufer beschäftigt.
Nachdem die Betriebskrankenkasse der Dortmunder Stadtwerke die Auffassung vertreten hatte, der Vorfall, der zur Gesundheitsschädigung des Klägers geführt hat, stelle sich als ein nach § 537 Nr. 5 Buchst. c der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF unter Versicherungsschutz stehender Unfall dar, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 15. Juli 1957 eine Entschädigung aus Anlaß des Geschehnisses vom 1. Mai 1956 ab, weil der Verletzte keine Veranlassung gehabt habe, R. einer strafbaren Handlung zu verdächtigen, vielmehr aus Neugier eingeschritten sei.
Die hiergegen gerichtete Klage des Verletzten ist in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. In dem klagabweisenden Urteil des Sozialgerichts (SG) Dortmund vom 20. Mai 1958 ist ausgeführt: Unfallversicherungsschutz für den Kläger bestehe schon deshalb nicht, weil es an dem Merkmal der Verfolgung i. S. des § 537 Nr. 5 Buchst. c RVO fehle; der Kläger habe R. nicht verfolgt, sondern ihn lediglich beobachtet. Im übrigen habe der Kläger keine Veranlassung gehabt, anzunehmen, daß R. eine strafbare Handlung nicht nur beabsichtige, sondern bereits begangen gehabt habe.
Das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 6. Juli 1962, durch das die Berufung des Klägers zurückgewiesen worden ist, ist im wesentlichen wie folgt begründet: Ein Arbeitsunfall i. S. des § 542 RVO könne bei den festgestellten Sachverhalt nur vorliegen, wenn die Voraussetzungen des § 537 Nr. 5 Buchst. e RVO erfüllt wären. Dies sei jedoch nicht der Fall. Das Gesetz setze voraus, daß eine Person in dein Verdacht stehe, eine – vollendete oder im strafrechtlich relevanten Versuchsstadium gebliebene – strafbare Handlung begangen zu haben. Das Verhalten des R. habe einen solchen Verdacht nicht gerechtfertigt; der Kläger habe ihn auch nicht gehabt, er habe nur vermutet, daß R. einen Einbruch vorhabe. – R. habe allerdings insofern ein Dauerdelikt begangen, als er ohne Waffenschein einen Revolver bei sich geführt habe. Dies sei jedoch versicherungsrechtlich unerheblich, weil der Kläger es weder gewußt noch auch nur einen dahingehenden Verdacht gehegt habe. Der strafbare Besitz der Pistole müsse deshalb bei der Prüfung, ob R. den Kläger als eine einer strafbaren Handlung verdächtige Person erschienen sei, außer Betracht bleiben. – Selbst wenn man annehme, da der Kläger anfangs den von Gesetz geforderten Verdacht gehabt habe, so sei der Verdacht spätestens in den Augenblick entfallen, als R., nachdem der Kläger in Richtung auf ihn und das Haus Nr. 9 geleuchtet gehabt habe, anstatt zu flüchten, sich dem Kläger genähert, ihn nach der Omnibushaltestelle gefragt und sich dann entfernt habe. – Wollte man aber R. als eine einer strafbaren Handlung verdächtige Person ansehen, so fehle es an dem gesetzlichen Merkmal der Verfolgung des Verdächtigen in Zeitpunkt des Unfalls; der Kläger sei nicht aktiv tätig gewesen, er habe nur untätig hinterhergeschaut. – Jedenfalls habe der Kläger sich aber nicht „persönlich eingesetzt”. Dies habe er zwar getan, als er auf R. zugegangen sei und ihn angefaßt habe, sein persönlicher Einsatz sei aber beendet gewesen, als R. sich widerstandslos in die gewiesene Richtung habe umdrehen lassen und sich in Bewegung gesetzt habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 27. Juli 1962 zugestellt worden. Er hat am 23. August 1962 Revision eingelegt und diese am 30. August 1962 begründet.
Die Revision führt aus: Als Grundlage für den Versicherungsschutz des Klägers komme neben § 537 Nr. 5 Buchst. c RVO aF in erster Linie § 537 Nr. 10 RVO aF in Betracht; denn der Kläger sei gegen R. eingeschritten, um einen Vermögensschaden von dem Konsumgeschäft Ecke Hochwaldstraße/Im Buschholz abzuwenden. Das LSG hätte deshalb den für das Konsumgeschäft zuständigen Versicherungsträger, nämlich die Berufsgenossenschaft „Nahrung und Genußmittel” beiladen müssen. In der Unterlassung dieser Beiladung liege ein wesentlicher Verfahrensmangel. Für den Fall, daß die Anwendbarkeit des § 537 Nr. 10 RVO aF verneint werde, müßten die Voraussetzungen des § 537 Nr. 5 c RVO aF als gegeben angesehen werden. Das LSG habe das Gesetz zu eng ausgelegt und „den Tatbestand nicht vollständig ausgeschöpft”.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheides der Beklagten vom 15. Juli 1957 die Beklagte zu verurteilen, ihm Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Der vorliegende Streitfall ist, soweit ein Entschädigungsanspruch gegen die Beklagte in Frage kommt, auch nach dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (UVNG – BGBl I, 241) nach § 537 Nr. 5 Buchst. c RVO aF zu beurteilen; die entsprechende Vorschrift des § 539 Nr. 9 Buchst. c RVO nF gilt nicht für Arbeitsunfälle, die vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten sind. Nach jener Vorschrift ist gegen Arbeitsunfall versichert, wer ohne besondere rechtliche Verpflichtung sich bei der Verfolgung oder Festnahme einer Person, die einer strafbaren Handlung verdächtig ist, persönlich einsetzt; die zweite Alternative – persönlicher Einsatz zum Schutze eines widerrechtlich Angegriffenen – kommt hier nicht in Betracht. Die Voraussetzungen der angeführten Vorschrift hat das LSG mit Recht als nicht gegeben angesehen, weil es an einer „einer strafbaren Handlung verdächtigen Person” fehlt. Als eine solche Person ist nur anzusehen, wer in dem Verdacht steht, eine – vollendete oder im strafrechtlich relevanten Versuchstadium gebliebene – strafbare Handlung bereits begangen zu haben; der Verdacht, daß eine strafbare Handlung lediglich vorbereitet werde, genügt nicht, denn eine bloße Vorbereitungshandlung ist, wenn sie nicht ausdrücklich als solche unter Strafdrohung gestellt ist, nicht strafbar. Diese Auslegung entspricht nicht nur dem Wortsinn des § 537 Nr. 5 Buchst. c RVO aF, sondern auch der Ausdrucksweise der Strafprozeßordnung (vgl. z. B. §§ 60 Nr. 3, 102, 112 Abs. 1, 130, 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO; hierzu Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung, Teil II, § 102 StPO, Erl. 8). Ferner findet diese Auslegung eine Stütze in dem Vorläufer des § 537 Nr. 5 Buchst. c RVO aF, nämlich dem § 553 a Nr. 3 RVO idF des Fünften Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 17. Februar 1939 (RGBl I, 267); auch darin ist der Versicherungsschutz von der Hilfeleistung nach begangener Straftat abhängig gemacht, nämlich von der Hilfeleistung bei einer „mit dem Tode, mit Zuchthaus oder Gefängnis bedrohten strafbaren Handlung bei Verfolgung oder Festnahme des Täters oder seines Gehilfen”. Da nach den vom LSG getroffenen und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen R. – abgesehen von dem Besitz eines Revolvers ohne Erlaubnis – keine strafbare Handlung begangen hatte und auch nicht einer bereits begangenen strafbaren Handlung verdächtig war – dies weder objektiv noch in der Vorstellung des Klägers –, haben die Voraussetzungen für ein nach § 537 Nr. 5 Buchst. c RVO aF versicherungsrechtlich geschütztes Eingreifen des Klägers nicht vorgelegen. Nach dem Sinn des Gesetzes soll geschützt sein, wer bei der Ermittlung von Straftaten persönlich mithilft (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., § 537 RVO Anm. 34), nicht aber wer zur Verhinderung möglicher Straftaten vorbeugend tätig wird.
In Übereinstimmung mit dem LSG hat der erkennende Senat den Kläger auch nicht deshalb als versicherungsrechtlich geschützt angesehen, weil R., ohne im Besitz eines Waffenscheins zu sein, eine Schußwaffe führte. Dadurch beging er allerdings ein Vergehen nach §§ 14, 26 des Waffengesetzes vom 18. März 1938 idF des Gesetzes vom 20. April 1961 (BGBl I 444). Dieserhalb hatte er sich aber nicht – auch nicht in der Vorstellung des Klägers, der hiervon nichts wußte – verdächtig gemacht und ist auch nicht deswegen, sondern zu einem anderen, jedenfalls nicht durch § 537 Nr. 5 Buchst. c RVO aF als schutzwürdig anerkannten Zweck von dem Kläger „verfolgt” worden.
Da schon aus den angeführten Gründen dem Kläger kein Entschädigungsanspruch gegen die Beklagte zusteht, bedurfte es nicht der Prüfung der – vom LSG verneinten – Frage, ob der Kläger sich „bei der Verfolgung … persönlich eingesetzt” hat.
Soweit die Revision die Verurteilung der Beklagten zur Entschädigungsleistung anstrebt, ist sie daher unbegründet. Ungerechtfertigt ist aber auch die auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz zielende Rüge der Revision, dem LSG sei insofern ein wesentlicher Mangel des Verfahrens unterlaufen, als es den für einen Anspruch aus § 537 Nr. 10 RVO aF als leistungspflichtig in Betracht kommenden Versicherungsträger gemäß § 75 Abs. 2 SGG hätte beiladen müssen. Die Frage, ob das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet, ist vom sachlich-rechtlichen Standpunkt dieses Gerichts aus zu beurteilen (BSG 2, 84, 87). Das LSG hat in dem angefochtenen Urteil ausgeführt, bei dem festgestellten Sachverhalt „könne ein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall im Sinne des § 542 RVO nur dann vorliegen, wenn die Voraussetzungen des § 537 Nr. 5 Buchst. c RVO erfüllt” wären. Dies bedeutet, daß das LSG alle sonst denkbaren Anspruchsgrundlagen als nicht gegeben und infolgedessen andere Versicherungsträger als den für Fälle des § 537 Nr. 5 RVO aF zuständigen von vornherein als nicht leistungspflichtig angesehen hat.
Von diesem Rechtstandpunkt aus war es nicht verpflichtet, den für das Konsumgeschäft zuständigen Versicherungsträger beizuladen. Ein Mangel im Verfahren des LSG, der zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz fuhren müßte, liegt daher nicht vor.
Es bleibt dem Kläger überlassen, vermeintliche Ansprüche gegen einen anderen Versicherungsträger in einem besonderen Verfahren geltend zu machen. Das Bundessozialgericht ist zur Beiladung der von der Revision als leistungspflichtig erachteten Berufsgenossenschaft nicht befugt (§ 168 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Hunger, Schmitt
Fundstellen
Haufe-Index 926742 |
BSGE, 107 |
MDR 1964, 357 |