Leitsatz (amtlich)

An der Rechtsprechung, daß NVG vom 1949-08-22 § 4 Abs 3 seit dem 1957-01-01 außer Kraft getreten, § 4 Abs 4 dieses Gesetzes aber weiterhin - sinngemäß - anzuwenden ist (vergleiche BSG 1967-05-31 12 RJ 80/66 = SozR Nr 9 zu VerfolgtenG Allg und BSG 1967-05-09 1 RA 295/65 = SozR Nr 8 zu VerfolgtenG Allg und BSG 1967-06-29 4 RJ 633/64 = SozR Nr 11 zu VerfolgtenG Allg und BSG 1967-07-06 5 RKn 72/64 = SozR Nr 12 zu VerfolgtenG Allg), wird festgehalten.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 3 § 2 Fassung: 1957-02-23; NVG § 4 Abs. 3 Fassung: 1949-08-22, Abs. 4 Fassung: 1949-08-22

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. Dezember 1962 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Weise Zeiten eines auf politische Verfolgung zurückzuführenden Auslandsaufenthalts bei der Berechnung der Versichertenrente zu bewerten sind.

Die Klägerin hatte von 1914 bis 1920 als Schuhfabrikarbeiterin 276 Wochenbeiträge zur deutschen Invalidenversicherung entrichtet. Im November 1933 mußte sie, weil ihr Ehemann vom Nationalsozialismus verfolgt wurde, Deutschland verlassen. Sie lebte zunächst im Elsaß und leistete dort bis 1940 Pflichtbeiträge zur französischen Sozialversicherung. Im Dezember 1940 wurde sie in den unbesetzten Teil Frankreichs "abgeschoben". Am 3. April 1946 kehrte sie nach Zweibrücken zurück.

Durch Bescheid vom 3. Mai 1960 gewährte die beklagte Landesversicherungsanstalt der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Januar 1958 an. Der Rentenberechnung legte sie zunächst nur die 276 Beitragswochen aus der Zeit bis 1920 und eine Ausfallzeitenpauschale von sieben Monaten zugrunde. Nachdem der französische Versicherungsträger der Klägerin die Alterspension bewilligt hatte unter Zuerkennung der anteiligen Leistung nach Art. 13 des Allgemeinen Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die Soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950/18. Oktober 1951, stellte die Beklagte durch Bescheide vom 20. März 1962 die deutschen Leistungen nach diesem Abkommen und den Verordnungen Nr. 3 und 4 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer neu fest. Dabei rechnete sie neben den bereits früher berücksichtigten Beitrags- und Ausfallzeiten die Zeiten vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1939 und vom 1. Juli 1940 bis 3. April 1946 - insgesamt 73 Monate - als Ersatzzeiten i.S. des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - Verfolgungszeiten - an. Danach ergab sich eine Rente von monatlich 48,30 DM.

Mit der hiergegen erhobenen Klage erstrebt die Klägerin eine Erhöhung ihrer Rente mit der Begründung, für die 73 Monate Ersatzzeiten hätten Steigerungsbeträge entsprechend den Versicherungsbeiträgen der Jahre 1934 bis 1940 - in diesem Zeitraum habe sie die höchsten Beiträge entrichtet - angesetzt werden müssen (§§ 3, 4 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung - VerfolgtenG - vom 22. August 1949). Demgegenüber hat die Beklagte ausgeführt: Ersatzzeiten seien seit dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nur noch als Versicherungsjahre zu berücksichtigen. Die entgegenstehenden Vorschriften des VerfolgtenG seien aufgehoben. § 4 VerfolgtenG sei nur noch mit seinem Abs. 5 anzuwenden, nämlich dann, wenn ein Versicherter während der Verfolgung in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis gestanden habe und festgestellt sei, daß er ohne Verfolgungsmaßnahmen höhere Beiträge entrichtet hätte. Ein solcher Sachverhalt liege bei der Klägerin nicht vor.

Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil vom 5. Dezember 1962 ausgeführt: Gemäß Art. 3 § 2 ArVNG seien mit dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze von 1957 die Vorschriften der §§ 3, 4 VerfolgtenG über die Gewährung von Steigerungsbeträgen für die als Ersatzzeiten anzurechnenden Zeiten des Auslandsaufenthalts außer Kraft getreten. Der Klägerin könnten deshalb die Zeiten ihres Auslandsaufenthalts gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO lediglich als - sich nach § 1258 RVO über die Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre rentensteigernd auswirkende - Ersatzzeiten angerechnet werden. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt,

unter teilweiser Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. Dezember 1962 nach dem Klageantrag zu erkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten verbleiben bei den von ihnen in den Vorinstanzen vertretenen Rechtsauffassungen. Sie haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet.

Das nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Rechtsmittel ist allerdings nicht, wie § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG es vorschreibt, binnen eines Monats nach Zustellung des angefochtenen Urteils eingelegt worden. Die Klägerin hat jedoch Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil sie ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsfrist und die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten (§ 67 SGG). Das Hindernis bestand darin, daß ihre ungünstigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse es ihr nicht gestatteten, auf eigene Kosten einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten mit der Einlegung der Revision zu beauftragen; das Hindernis war erst mit der Zustellung des Beschlusses vom 28. Februar 1964, durch den der jetzige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin im Armenrecht beigeordnet wurde, behoben. Die Klägerin hat innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 SGG den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt und die versäumten Rechtshandlungen - die Einlegung der Revision gleichzeitig, deren Begründung innerhalb der vom Vorsitzenden des Senats gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG verlängerten Frist - rechtzeitig nachgeholt. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat zur Folge, daß die angeführten gesetzlichen Verfahrensfristen als gewahrt gelten und die Revision somit zulässig ist.

Die Revision führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz.

Das Begehren der Klägerin auf Erhöhung ihrer Rente läßt sich allerdings nicht, wie sie meint, aus § 4 Abs. 1 und 3 VerfolgtenG rechtfertigen. Diese Vorschriften sind, wie bereits mehrere Senate des Bundessozialgerichts (BSG) insoweit übereinstimmend entschieden haben, durch Art. 3 § 2 ArVNG außer Kraft gesetzt worden und können deshalb auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 - um einen solchen Fall handelt es sich in dem vorliegenden Rechtsstreit - nicht mehr angewandt werden (vgl. SozR Nrn. 8,9, 11 und 12 zu VerfolgtenG Allg.; 4 RJ 317/65 vom 30. August 1967). An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Senat nach abermaliger Prüfung der Rechtslage fest. Ihr steht die von der Bundesrepublik im Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 26. Mai 1952 - Überleitungsvertrag - idF der Bekanntmachung vom 30. März 1955, Vierter Teil Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a (BGBl 1955 II 301, 405, 431) übernommene, durch Zustimmungsgesetz vom 24. März 1955 (BGBl II 213) bestätigte Verpflichtung zur angemessenen Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung nicht entgegen (vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen in RzW 1966, 430). Dieser Verpflichtung wird dadurch Genüge getan, daß § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG , wie das BSG in mehreren Entscheidungen (SozR Nrn. 11 und 12 zu VerfolgtenG Allg. sowie 4 RJ 317/65) aus dem dem VerfolgtenG innewohnenden Wiedergutmachungsgrundsatz gefolgert hat, sinngemäß weiter anzuwenden ist. Auf dem in diesen Entscheidungen aufgezeigten Wege läßt sich ein durch die Berechnungsweise des neuen Rechts nicht gedeckter Schaden des Verfolgten auf dem Gebiet der Rentenversicherungen ausgleichen. Die unbedingte Anrechnung bestimmter Steigerungsbeträge für Verfolgungszeiten - nach den Sätzen der vierten Beitragsklasse oder der Gehaltsklasse D (§ 4 Abs. 3 VerfolgtenG ) - ist, wenn der Verfolgte entsprechende Arbeitsentgelte nicht erreicht hatte und auch ohne die Verfolgung nicht erreicht haben würde, nicht gerechtfertigt; sie würde über die übernommene Verpflichtung zur Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung hinausgehen. Eine volle Entschädigung aber ist der Klägerin durch die Weitergeltung des § 4 Abs. 4 VerfolgtenG gewährleistet.

Der Senat vermag sich nicht von der Berechtigung der im Schrifttum gegen die Rechtsprechung zur Weitergeltung des § 4 Abs. 4 VerfolgtenG vereinzelt zu verzeichnenden Kritik zu überzeugen (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, S. 702 d VII - insoweit ohne Begründung - und darauf Bezug nehmend Krasney, RzW 1967, 481 ff). Krasney verkennt, daß die Regelung des § 4 Abs. 4 VerfolgtenG - Berücksichtigung eines voraussichtlich erzielten Arbeitsentgelts - nur aus der Besonderheit und Eigenständigkeit des Verfolgtenrechts zu erklären ist. Auf dieses Sonderrechtsgebiet erstreckt sich die Aufhebungswirkung des Art. 3 § 2 ArVNG nicht. Im übrigen erheischt die allseits anerkannte Weitergeltung des § 4 Abs. 5 auch die weitere - sinngemäße - Anwendung des § 4 Abs. 4 VerfolgtenG , wenn die gesetzliche Regelung nicht unerträglich widerspruchsvoll sein soll (vergl. Rauschenbach, DAngVers 1967, 277).

Für die Klägerin kann sich aus § 4 Abs. 4 VerfolgtenG eine höhere als die ihr von der Beklagten zugebilligte Rente ergeben. Da das angefochtene Urteil indes nicht die für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlichen tatsächlichen Feststellungen enthält, vermag der Senat in der Sache selbst nicht zu entscheiden. Das Berufungsurteil muß deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG in seinem abschließenden Urteil mit zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2351514

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