Leitsatz (amtlich)
Die Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung ruht trotz Zusammentreffens mit einer Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung jedenfalls dann nicht, wenn die Leistung aus der Unfallversicherung wegen eines Unfalls gewährt wird, der sich ereignete, nachdem der Versicherte das 65. Lebensjahr vollendet hatte.
Normenkette
RVO § 1279 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 3. März 1967 und das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 10. Mai 1966 sowie der Bescheid der Beklagten vom 2. Juli 1965 werden aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin hatte 1956 das 65. Lebensjahr vollendet. Er blieb - auch als Bezieher von Altersruhegeld - weiterhin beschäftigt und starb an den Folgen eines Arbeitsunfalls im Dezember 1964. Vom Beginn des Jahres 1965 an bezog die Klägerin Witwenrente sowohl aus der Arbeiterrentenversicherung (ArV) als auch aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV).
Mit Bescheid vom 2. Juli 1965 stellte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) fest, daß die von ihr gewährte Witwenrente zum Teil ruhe und daß der Rentenanspruch auf monatlich 261,60 DM nur in Höhe von 143,40 DM zu verwirklichen sei. Die Klägerin hat diesen Bescheid mit der Klage angefochten. Sie hat sich gegen eine Minderung der Rentenzahlungen gewandt, weil der Unfall ihren Ehemann erst nach Erreichen der Altersgrenze ereilt habe (vgl. §§ 1279, 1278 Abs. 3 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Itzehoe vom 10. Mai 1966, Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts - LSG - vom 3. März 1967). Nach der Meinung der Vorinstanzen kommt es im Zusammenhang mit dem Bezug von Witwenrenten aus der ArV und aus der UV nicht auf die zeitliche Reihenfolge der Versicherungsfälle an. Die insoweit für Versichertenrenten in § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO angeordnete Besonderheit sei in § 1279 RVO nicht berücksichtigt.
Die Klägerin hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragt, die angefochtenen Urteile sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zur Gewährung der ungekürzten Witwenrente zu verurteilen. Die Revision führt aus: Nach dem Wortlaut des § 1279 Abs. 1 RVO könne die Witwe sechs Zehntel derjenigen Rentenbezüge fordern, die dem Verstorbenen zur Zeit des Todes aus beiden Versicherungen "zugestanden hätten, wenn er zu diesem Zeitpunkt erwerbsunfähig gewesen wäre". Dem Versicherten hätte bei seinem Tode neben der Unfallrente jedoch das Altersruhegeld aus der Arbeiterrentenversicherung ungekürzt zugestanden; folglich dürfe auch die Witwenrente nicht verringert werden.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist begründet. Der Klägerin ist die Witwenrente aus der Rentenversicherung ungemindert auszuzahlen.
Dieses Ergebnis folgt aus § 1279 Abs. 1 Satz 1 RVO. An dieser Stelle nimmt das Gesetz nicht allein auf Absatz 1 Satz 1 des § 1278 RVO Bezug, sondern auf die Tatbestände dieser Vorschrift im ganzen, jedenfalls in ihren Grundzügen. Denn nach § 1279 Abs. 1 Satz 1 RVO hängt der auszuzahlende Betrag der Witwenrente aus der ArV von den Rentenbezügen ab, die dem Versicherten, wenn er zur Zeit seines Todes erwerbsunfähig gewesen wäre, zugestanden hätten. Für die Höhe dieser letzteren Bezüge ist aber auch Absatz 3 des § 1278 RVO maßgebend. Das bedeutet, daß die Rente dann nicht - teilweise - ruht, wenn der Verstorbene den Anspruch auf die - bei seinem Versicherungsstand - höchstmögliche Rente aus der ArV erworben hatte, bevor der Arbeitsunfall eintrat. Die Berücksichtigung eines solchen Geschehensablaufs ist von der Vorschrift des § 1279 Abs. 1 Satz 1 RVO miterfaßt. Dafür spricht die Gesetzesgeschichte. Im Regierungsentwurf (§ 1283, aus dem § 1279 des Gesetzes hervorging) hieß es noch, daß es auf den Rentenbezug ankomme, der "dem Verstorbenen ... als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zustand oder zugestanden hätte". Der Hinweis auf die wirkliche Rechtslage ("zustand") wurde zwar nicht in das Gesetz aufgenommen; offenbar hielt man diesen Zusatz für überflüssig. Es fehlt aber jeder Anhalt dafür, daß mit dieser Änderung des Wortlauts auch ein Wandel des Sinnes verbunden gewesen wäre. Deshalb ist der Schluß gerechtfertigt, daß die im Entwurf geäußerte Verweisung auf das dem Verstorbenen zuletzt zustehende Rentengesamteinkommen voll erhalten bleiben sollte (vgl. auch Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, § 1279 RVO Anm. V).
Eine Deutung in der von dem Berufungsgericht eingeschlagenen Richtung, daß nämlich § 1279 Abs. 1 Satz 1 RVO nicht an reale Gegebenheiten, sondern an einen nur vorgestellten Sachverhalt (wie es gewesen wäre, wenn ...) anknüpfe, ist zwar möglich; es könnte daran gedacht werden, daß diese Vorschrift eine in jedem Falle gültige Höchstgrenze für den Mehrfachbezug von Witwenrenten aufstellen wollte, losgelöst von dem wirklichen Tatsachenablauf. Das aber wäre mit einem der Prinzipien unvereinbar, von denen die Fälle des Ruhens von Renten durchweg geprägt sind. Die Vorschriften über das Ruhen der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen werden von zwei - teilweise einander entgegenwirkenden - Leitgedanken beherrscht. Das Gesetz will einerseits Vorsorge dagegen treffen, daß eine oder mehrere soziale Leistungen höher sind als das Einkommen, das sie ersetzen sollen. Andererseits sollen mehrere Ansprüche nebeneinander ungekürzt erfüllt werden, wenn der Berechtigte seine Rente aus der Rentenversicherung bereits erworben hatte, bevor ein weiterer Rentenanspruch entstand. Der Erwägung, daß erworbene Ansprüche nicht nachträglich geschmälert werden sollen, hat das Gesetz u.a. in § 1278 Abs. 3 RVO Ausdruck verlieben. Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Grundsatz. Das zeigt § 1280 RVO, also derjenige Rechtssatz, der von dem Zusammentreffen von Versichertenrente und Hinterbliebenenrente handelt. Nach dem Vorschlag der Regierung sollten der Witwe oder dem Witwer beim Zusammentreffen einer Versichertenrente mit einer Hinterbliebenenrente 60 v.H. der Summe zustehen, die die beiden Ehegatten zu Lebzeiten zusammen gehabt hätten, wenn Versichertenrenten an beide gezahlt worden wären (§ 1285 des RegEnt ., Bundestagsdrucks. II/2437). Der Ausschuß des Bundestags für Sozialpolitik rüttelte jedoch nicht an dem Nebeneinander von Hinterbliebenenrente und Versichertenrente, nur Zurechnungszeiten sollten nicht doppelt berücksichtigt werden (§ 1284 der Ausschußfassung, Bundestagsdrucks. II/3080). Hält man sich vor Augen, was die Anrechnung von Zurechnungszeiten bedeutet, dann erhellt, daß der Gesetzgeber nur diejenigen Ansprüche beschneiden wollte, die von einer Solidarleistung der Gemeinschaft beeinflußt werden. Mit der Gutschrift von Zurechnungszeiten wird denjenigen Versicherten zu einer angemessenen Rente verholfen, die in jungen Jahren in ihrer Erwerbsfähigkeit Einbußen erleiden und aus ihren Beiträgen nur eine geringe Rente erreichen können. Die Hilfe der Gemeinschaft soll nur einmal zuteil werden. Im übrigen wird von einem mehrfachen Renteneinkommen nichts einbehalten. Der Witwe oder dem Witwer bleibt also die aus eigener Leistung (mit-) gespeiste Rente ebenso unvermindert erhalten wie die Rente aus der Versicherung des verstorbenen Ehegatten. Das ist um so bemerkenswerter, als sich in beiden Renten nicht bloß Beitragszeiten, sondern auch Zutaten der Gemeinschaft in Gestalt von Ersatz- und Ausfallzeiten niederschlagen können. Mit einem solchen Entgegenkommen des Gesetzes vertrüge es sich nicht, wenn man die in § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO getroffene Regelung nicht wenigstens sinngemäß auf die des § 1279 Abs. 1 RVO erstrecken wollte.
Hinzu kommt schließlich, daß die Vorgeschichte des § 1279 RVO für die vom erkennenden Senat gefundene Lösung spricht. In § 1275 RVO aF, dem Vorläufer des § 1279 RVO, war für die Vereinigung mehrerer Hinterbliebenenrenten die entsprechende Anwendung des § 1274 RVO aF vorgeschrieben; damit war auch vorgesehen, daß bei einem Unfall, der zeitlich auf den Eintritt des Versicherungsfalles der ArV folgte, die Rente aus dieser Versicherung nicht ruhte. Daß der Gesetzgeber der Rentenversicherungsreform von dieser Rechtsgestaltung habe abgehen wollen, tritt an keiner Stelle der Gesetzesmaterialien in Erscheinung. Man hätte aber erwarten dürfen, daß er, wenn er diese Regelung hätte aufgeben wollen, dies auch während der Gesetzesberatungen deutlich erklärt hätte.
Nach allem ist zu folgern, daß die Witwenrente aus der Rentenversicherung der Arbeiter trotz Zusammentreffens mit einer Witwenrente aus der UV nicht ruht, wenn die Leistung der UV wegen eines Unfalls gewährt wird, der sich ereignete, nachdem der Versicherte bereits das 65. Lebensjahr vollendet hatte und das Altersruhegeld bezog.
Die mit dieser Auffassung nicht übereinstimmenden Entscheidungen der Vorinstanzen sowie der angefochtene Bescheid der Beklagten sind daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen