Leitsatz (amtlich)
RVO § 1445b gilt nicht für fehlentrichtete Beiträge freiwillig Versicherter.
Normenkette
RVO § 1445b Fassung: 1934-05-17
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. Februar 1956 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 4. Juli 1955 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die 1906 geborene Klägerin war von 1921 bis Januar 1945 in der Invalidenversicherung (JV) pflichtversichert. Anschließend war sie versicherungsfrei. Sie entrichtete für die restlichen Monate des Jahres 1945 freiwillig Beiträge zur JV und von Juni 1948 an für die Zeit von 1946 bis 1949 freiwillig 34 Monatsbeiträge zur Angestelltenversicherung (AV). Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) R, die damals die Aufgaben der AV wahrnahm, beanstandete im November 1952 die Wirksamkeit der Beiträge zur AV: Die Klägerin sei nicht zur freiwilligen Versicherung in der AV berechtigt. Es seien für sie zu diesem Versicherungszweig keine Pflichtbeiträge entrichtet worden, so daß eine Weiterversicherung nicht in Betracht komme. Eine Selbstversicherung sei unzulässig, weil die Klägerin bei ihrem freiwilligen Eintritt in die AV älter als 40 Jahre gewesen sei (§ 21 AVG, §§ 1243, 1244 RVO). Das Sozialgericht (SG.) Düsseldorf stellte durch Urteil vom 4. Juli 1955 fest, daß die 34 Monatsbeiträge zur AV rechtswirksam entrichtet sind: Die Klägerin sei zwar nicht in der AV, jedoch in der JV berechtigt gewesen, sich freiwillig zu versichern (§ 1244 RVO). Sie habe daher ihre Beiträge nur zu einem unrichtigen Versicherungszweig entrichtet. Solche Beiträge dürften nicht beanstandet werden, wenn ihre Nachentrichtung zu dem richtigen Versicherungszweig unzulässig sei (§ 190 AVG, § 1445 b RVO). Dies sei hier der Fall. Die Klägerin könne für die Zeit von 1946 bis 1949 keine Beiträge mehr zur JV nachentrichten (§ 190 AVG, § 1442 RVO). Ihre zur AV entrichteten Beiträge seien daher rechtswirksam. Das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen bestätigte dieses Urteil am 1. Februar 1956: § 1445 b RVO gelte nicht nur für Pflichtbeiträge, wie die Beklagte annehme, sondern auch für fehlentrichtete Beiträge freiwillig Versicherter. Dies ergebe sich aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn der Vorschrift. Ihr Wortlaut stehe nicht entgegen. Das SG. habe daher richtig entschieden.
Das LSG. ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 19. März 1956 zugestellte Urteil am 11. April 1956 Revision ein und begründete sie am 5. Mai 1956. Sie beantragte, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen: § 1445 b RVO gelte nur für die Pflichtbeiträge. Seine Anwendung auf die Beiträge freiwillig Versicherter führe zu Widersprüchen. Die LVA. R habe die Beiträge der Klägerin zur AV mit Recht beanstandet.
Die LVA. R, die vom SG. beigeladen wurde, schloß sich dem Antrag und den Ausführungen der Beklagten an.
Die Klägerin ließ sich im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Die Klägerin begehrt die Feststellung, daß ihre zur AV entrichteten Beiträge rechtswirksam sind. Sie will damit erreichen, daß diese Beiträge für die Erfüllung der Wartezeit, die Erhaltung der Anwartschaft, die Berechnung der Rente und die Weiterversicherung angerechnet werden. Ihre Klage betrifft demnach die Frage der Anrechnung von Beiträgen, die das Sozialgerichtsgesetz ausdrücklich als ein zur Feststellung geeignetes Rechtsverhältnis bezeichnet hat (§ 55 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 SGG; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 4. Aufl., S. 240 q). An der alsbaldigen Feststellung dieses Rechtsverhältnisses hat die Klägerin ein berechtigtes Interesse. Die Feststellungsklage ist daher zulässig; sie ist aber nicht begründet.
Die Klägerin war in der Zeit von 1946 bis 1949 nicht versicherungspflichtig. Bei ihrem Eintritt in die AV war sie auch nicht berechtigt, sich in diesem Versicherungszweig freiwillig zu versichern. Sie hatte das 40. Lebensjahr bereits vollendet und war deshalb von der Selbstversicherung ausgeschlossen. Zur AV hatte sie keine Pflichtbeiträge entrichtet. Die Weiterversicherung in der AV ist aber nur zulässig, wenn vorher mindestens ein Beitrag auf Grund der Versicherungspflicht zu diesem Versicherungszweig entrichtet worden ist (§ 21 AVG, §§ 1243, 1244 RVO). Ihre Beiträge zur AV sind daher ungültig, es sei denn, daß sie im November 1952 nicht mehr rechtswirksam beanstandet werden konnten. Letzteres ist nicht der Fall. Die Frist zur Beanstandung von Beiträgen zur AV, die von der Aufrechnung der Versicherungskarte an zehn Jahre beträgt (§§ 190 AVG, 1445 Abs. 3 RVO), war im November 1952 noch nicht abgelaufen. Die Sonderfrist des § 1445 b RVO, die nur fehlentrichtete Beiträge betrifft und sich danach richtet, ob eine Nachentrichtung der Beiträge zum richtigen Versicherungszweig noch statthaft ist, kommt nicht zum Zuge, weil sie nur für Pflichtbeiträge, nicht auch für Beiträge freiwillig Versicherter gilt.
Die Beschränkung des § 1445 b RVO auf Pflichtbeiträge ergibt sich aus einer Gesamtbetrachtung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn der Vorschrift. Sie ist ständige Praxis der Versicherungsträger und wird vom Schrifttum einhellig bejaht (vgl. Brackmann a. a. O. S. 656 g; Koch-Hartmann, Angestelltenversicherungsgesetz, 2. Aufl., S. 684 ff; Verbandskommentar zum 4. und 5. Buch der RVO, 5. Aufl., § 1445 b Anm. 2; Allendorf-Haueisen, Angestelltenversicherungsgesetz, S. 280; Malkewitz, Wege zur Sozialversicherung, 1952 S. 206). Die abweichende Auffassung der Vorinstanzen und des Oberversicherungsamts Schleswig (vgl. Breithaupt 1953 S. 425) ist rechtsirrig.
§ 1445 b RVO lautet:
"Sind für einen Versicherten Beiträge entrichtet, obwohl er einem anderen Versicherungszweig angehört, so dürfen die Beiträge nur insoweit beanstandet werden, als die Nachentrichtung von Beiträgen zu dem anderen Versicherungszweig statthaft ist. Bei Streit über die Versicherungszugehörigkeit sind bis zur Entscheidung Beiträge an die bisherigen Versicherungsträger weiter zu entrichten.
Die beanstandeten Beiträge werden dem zuständigen Versicherungszweig überwiesen; sie gelten als zu Recht entrichtete Beiträge dieses Versicherungszweigs. Sind die Beiträge des zuständigen Versicherungszweigs höher, wird der Fehlbetrag, soweit zulässig, eingezogen. Ein etwaiger Überschuß wird von Amts wegen erstattet. Der Versicherte kann jedoch erklären, daß der Überschuß, soweit zulässig, als freiwilliger Höherversicherungsbeitrag gelten soll; er hat in diesem Falle den Beitragsteil des Arbeitgebers zu ersetzen."
Die Vorschrift ist in dem für Pflichtbeiträge üblichen Sprachgebrauch gehalten. Dafür sprechen besonders folgende Sätze: "Bei Streit über die Versicherungszugehörigkeit sind bis zur Entscheidung Beiträge an die bisherigen Versicherungsträger weiter zu entrichten. - Sind die Beiträge des zuständigen Versicherungszweigs höher, wird der Fehlbetrag eingezogen. - Der Versicherte kann erklären, daß der Überschuß als freiwilliger Höherversicherungsbeitrag gelten soll; er hat in diesem Fall den Beitragsteil des Arbeitgebers zu ersetzen." Freiwillige Beiträge "sind" weder zu entrichten, noch können sie ganz oder teilweise "eingezogen" werden; einen Arbeitgeberanteil enthalten sie in der Regel nicht. Auf sie paßt auch das in Abs. 2 geregelte Überweisungs- und Ausgleichsverfahren nicht, weil es dem Wesen der freiwilligen Versicherung widerspricht.
Die Sonderregelung für die Beanstandung fehlentrichteter Beiträge wurde in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten durch das "Gesetz über Ausbau der Angestellten- und Invalidenversicherung und über Gesundheitsfürsorge in der Reichsversicherung" vom 28. Juli 1925 (RGBl. I S. 157) eingeführt. Die Vorschriften hatten folgenden Wortlaut:
"Sind für einen Versicherten Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet, obwohl er invalidenversicherungspflichtig ist, so dürfen die zur Angestelltenversicherung entrichteten Beiträge nur insoweit beanstandet werden, als die Nachentrichtung von Beiträgen zur Invalidenversicherung statthaft ist."
"Sind für einen Versicherten Beiträge zur Invalidenversicherung entrichtet, obwohl er angestelltenversicherungspflichtig ist, so dürfen die zur Invalidenversicherung entrichteten Beiträge nur insoweit beanstandet werden, als die Nachentrichtung von Beiträgen zur Angestelltenversicherung statthaft ist" (A Art. III Nr. 10; B Nr. 11).
Ihre Fassung - invaliden- und angestelltenversicherungspflichtig - läßt keinen Zweifel daran, daß die Vorschriften nur für fehlentrichtete Pflichtbeiträge gegolten haben. Sie sind durch § 21 des "Gesetzes zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Invaliden-, der Angestellten- und der knappschaftlichen Versicherung" vom 7. Dezember 1933 (RGBl. I S. 1039) geändert worden, weil sich bei ihrer Durchführung Schwierigkeiten ergeben haben (vgl. die amtliche Begründung in AN. 1933 Nr. 12 S. 15). Die Vorschriften haben hierbei die heute noch geltende Fassung erhalten und sind durch Art. I Nr. 5 e der "Verordnung über die Änderung, die neue Fassung und die Durchführung von Vorschriften der Reichsversicherungsordnung, des Angestelltenversicherungsgesetzes und des Reichsknappschaftsgesetzes" vom 17. Mai 1934 (RGBl. I S. 419) als § 1445 b in die RVO eingefügt worden. Die neue Fassung hat, wie ein Vergleich der ursprünglichen Vorschriften mit § 21 des Gesetzes vom 7. Dezember 1933 ergibt, im wesentlichen nur eine Regelung der Beitragsentrichtung während des Streits über die Versicherungszugehörigkeit und eine Regelung des Überweisungs- sowie Ausgleichsverfahrens gebracht. Sie hat also den Grundgedanken der ursprünglichen Vorschriften - Beschränkung auf Pflichtbeiträge - nicht geändert. Dem steht nicht entgegen, daß die Neufassung auch den Wortlaut der ursprünglichen Vorschriften etwas veränderte, indem sie die Worte "obwohl er invaliden- (angestellten-) versicherungspflichtig ist" durch die Worte "obwohl er einem anderen Versicherungszweig angehört" ersetzt hat. Dies ist erforderlich gewesen, weil § 21 des Gesetzes vom 7. Dezember 1933 einheitlich für die AV, JV und die knappschaftliche Versicherung gegolten hat.
Die Beschränkung des § 1445 b RVO auf Pflichtbeiträge ist auch sinnvoll. Pflichtbeiträge werden in der Regel vom Arbeitgeber entrichtet. Ihre Zahlung zu einem unrichtigen Versicherungszweig liegt daher nicht im Verantwortungsbereich des Versicherten. Diesen treffen jedoch die Nachteile, wenn Beiträge nicht ordnungsgemäß entrichtet worden sind. In der Pflichtversicherung ist dies leicht möglich, weil die Abgrenzung zwischen den einzelnen Versicherungszweigen oft schwierig ist. In der freiwilligen Versicherung trägt der Versicherte selbst die Verantwortung für seine Versicherung. Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den einzelnen Versicherungszweigen bestehen hier nicht. Es fehlt daher an einem zwingenden Grund, den freiwillig Versicherten besonders zu schützen, wenn er seine Beiträge zu einem anderen Versicherungszweig entrichtet hat.
Die LVA. R hat die Beiträge der Klägerin zur AV mit Recht beanstandet. Die Revision der Beklagten ist daher begründet (§§ 170 Abs. 2, 193 SGG).
Fundstellen