Entscheidungsstichwort (Thema)

Inhalt des Urteils. verkürzte Darstellung. Verfahrensmangel

 

Orientierungssatz

Nach SGG § 136 Abs 1 Nr 5 und 6 und Abs 2 enthält das Urteil eine gedrängte Darstellung des Tatbestands, die Entscheidungsgründe sowie eine genügende Kennzeichnung der erhobenen Ansprüche mit Hervorhebung der dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel. Eine "entsprechende" Anwendung des ZPO § 543 idF des Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (VereinfNovGerVf) vom 1976-12-03 über SGG § 202 ist nicht zulässig.

 

Normenkette

SGG § 136 Abs 1 Nr 5 Fassung: 1953-09-03, § 136 Abs 1 Nr 6 Fassung: 1953-09-03, § 136 Abs 2 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 543 Fassung: 1976-12-03, § 313 Abs 2 Fassung: 1976-12-03

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19.10.1978; Aktenzeichen L 11 V 177/77)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 06.10.1977; Aktenzeichen S 28 V 187/75)

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin begehrt Geschiedenenwitwenrente.

Ihr im Jahre 1975 verstorbener geschiedener Ehemann (der Verstorbene) hatte von 1947 an Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH bezogen. Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenversorgung lehnte die Versorgungsverwaltung ab, da der Tod nicht schädigungsbedingt verursacht sei (Bescheid vom 25. August 1975, Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 1975). Das Sozialgericht (SG) hat nach Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen die Klage abgewiesen. Es hat ua ausgeführt, Todesursache sei ein akutes Linksherzversagen bei Herzinfarkt gewesen. Dieser Herzinfarkt sei infolge einer Verkalkung der Herzkranzgefäße, wie auch in der Todesbescheinigung erwähnt, aufgetreten. Das anerkannte Schädigungsleiden habe keinen auslösenden oder verschlimmernden Einfluß auf diese Erkrankung ausgeübt.

Die Klägerin hat ihre Berufung ua damit begründet, der Verstorbene habe - wie schon im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragen - seit der Kriegsverwundung bzw seit Kriegsende unter Herzstörungen und Kreislaufstörungen gelitten. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Es hat in den Entscheidungsgründen ausdrücklich von der Darstellung des Tatbestandes abgesehen und festgestellt, daß es den Gründen des angefochtenen Urteils in vollem Umfang folge.

Die Klägerin rügt mit der Revision die Verletzung des § 136 Abs 1 Nr 5 und Nr 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG); § 543 der Zivilprozeßordnung (ZPO) sei nicht entsprechend anwendbar. Zudem habe sich das LSG mit dem Sachvortrag der Klägerin nicht auseinandergesetzt.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte sah von einer Antragstellung ab.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin hat einen wesentlichen Verfahrensmangel, nämlich die Verletzung des § 136 Abs 1 Nr 5 und 6 SGG zutreffend gerügt. Das Berufungsurteil beruht auch hierauf (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG); es nimmt lediglich auf Tatbestand und Gründe des SG-Urteils Bezug.

Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 5. Juli 1979 - 9 RV 72/77 - (BSG SozR 1750 § 543 Nr 2; DRiZ 1979, 316, 317) ausgeführt hat, entspricht dieser Urteilsinhalt nicht § 136 Abs 1 Nr 5 und 6 und Abs 2 SGG. Danach enthält das Urteil eine gedrängte Darstellung des Tatbestands (Nr 5), die Entscheidungsgründe (Nr 6) sowie eine genügende Kennzeichnung der erhobenen Ansprüche mit Hervorhebung der dazu vorgebrachten Angriffsmittel und Verteidigungsmittel (Abs 2). Eine "entsprechende" Anwendung des § 543 ZPO idF des Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom 3. Dezember 1976 (Bundesgesetzblatt I 3281) über § 202 SGG ist nicht zulässig. Der gegenteiligen Ansicht des LSG vermag der erkennende Senat (BSG SozR aaO) nicht zu folgen.

Nach dem Wortlaut des § 202 SGG, der die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) und der ZPO für entsprechend anwendbar erklärt, "soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält", ist der subsidiäre Charakter der anderen Verfahrensregelungen klar gekennzeichnet. Folglich können bei abschließender Regelung im SGG die Vorschriften des GVG oder der ZPO keine Anwendung finden. Eine solche "lex specialis" enthält § 136 SGG, der den Inhalt des Urteils im sozialgerichtlichen Verfahren regelt. Entgegen Stöver (SGB 1978, 225, 226) trifft § 136 SGG eine Inhaltsbestimmung für die Urteile aller Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit, wie der erkennende Senat in dem genannten Urteil (BSG SozR aaO) hierzu näher ausgeführt hat. Hierauf wird verwiesen.

Das LSG meint, für seine Auffassung in der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ein Argument zu finden. Dem ist nicht beizupflichten. §§ 117 Abs 1 und 2, 173 VwGO sowie die §§ 136 Abs 1 und 2 und § 202 SGG enthalten zwar eine nahezu wortgleiche Fassung. Eyermann-Fröhler, VwGO, 7. Aufl meinen auch (Rnr 6), beim Tatbestand seien Bezugnahmen auf vorbereitende Schriftsätze sowie auf das Urteil der Vorinstanz im Rahmen des § 313 Abs 2 ZPO und des § 543 ZPO zulässig; sie fügen aber hinzu, daß auch dann der Tatbestand eine klare, vollständige und richtige Grundlage der Entscheidung geben müsse. Ihre weiteren Ausführungen, insbesondere auch zum Umfang der Entscheidungsgründe (Rnr 10) lassen erkennen, daß jedenfalls eine ausschließliche Bezugnahme auf die Begründung der Vorinstanz nicht der Verfahrensvorschrift des § 117 VwGO entspricht; so darf nämlich wesentliches Parteivorbringen nicht unberücksichtigt bleiben,und neues Vorbringen muß besonders gewürdigt werden. Also selbst wenn die Sachlage nach der VwGO für die hier zu entscheidende Frage bedeutsam sein könnte, wäre die Abfassung des Berufungsurteils nicht zu billigen.

Die Gesetzesmaterialien bestätigen die vom Senat vertretene Rechtsauffassung. Nach dem Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages zur Vereinfachungsnovelle schließt der in § 117 VwGO eingefügte Abs 3 als Sonderregelung die Anwendung des neuen § 313 Abs 2 ZPO für das verwaltungsgerichtliche Verfahren aus (BT-Drucks 7/5250, S. 18, Art 4 zu Nr 3a - VwGO -). Bestätigt wird dies noch dadurch, daß nach Art 2 § 6 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Finanzgerichtsbarkeit vom 31. März 1978 (Bundesgesetzblatt I S. 446) das Oberverwaltungsgericht im Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen kann, soweit es die Berufung aus Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist. Durch dieses Gesetz ist aber für die Verwaltungsgerichtsordnung der stark gekürzte Tatbestand, wie ihn § 313 Abs 2 ZPO in der Neufassung ermöglicht, gerade nicht eingeführt worden. Im übrigen ist bemerkenswert, daß der Rechtsausschuß eine dem § 117 Abs 3 VwGO vergleichbare Sondervorschrift für das sozialgerichtliche Verfahren für entbehrlich ansah, weil § 136 SGG bereits eine eigenständige Regelung über den Urteilstatbestand enthalte (BT-Drucks aaO).

Im Urteil des LSG sind weder die Ansprüche der Klägerin genügend gekennzeichnet noch die dazu vorgebrachten Angriffsmittel und Verteidigungsmittel in ihrem Wesen hervorgehoben. Insbesondere ist das LSG nicht auf das bereits im erstinstanzlichen Verfahren und sodann im Berufungsverfahren wiederholte Vorbringen der Klägerin, der Verstorbene habe seit seiner Kriegsverwundung bzw seit Kriegsende über Herzstörungen und Kreislaufstörungen gelitten, eingegangen. Mit diesen Ausführungen wollte die Klägerin ganz off - sichtlich zum Ausdruck bringen, diese Gesundheitsstörungen seien aus schädigungsbedingten Gründen verursacht worden und seien letztlich für den Tod verantwortlich. Demgemäß hätte das LSG Ermittlungen anstellen müssen, zumal nicht von vornherein und zudem nicht ohne Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen auszuschließen ist, daß der Tod nicht doch schädigungsbedingt verursacht ist. Die Klägerin hatte auch - im Gegensatz zu der Tochter des Verstorbenen - auf hausärztliche Behandlungen hingewiesen. Infolgedessen hätten entsprechende Nachforschungen angestellt werden müssen. Erst danach kann zu der Frage, ob der Tod Schädigungsfolge ist, eine abschließende Feststellung getroffen werden.

Demzufolge war das Urteil des LSG aufzuheben und zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665696

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