Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Kausalität. mittelbarer Zusammenhang
Orientierungssatz
Behauptet die Klägerin, der Tod ihres Ehemannes sei mittelbar auf eine unfallbedingte Ohrenverletzung zurückzuführen und vermerkt dies der Sitzungsarzt lapidar und ohne jegliche Begründung, während andere Fachärzte zu diesem Problem überhaupt nicht Stellung nehmen, so muß eine weitere Sachaufklärung versucht werden.
Normenkette
SGG § 103; RVO § 548
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 23.10.1963) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. Oktober 1963 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben, soweit es den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente betrifft.
Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der in einem W Verschrottungsbetrieb als Brenner beschäftigte K B (B.) erkrankte Ende Dezember 1949 an einer rechtsseitigen Mittelohrentzündung und wurde deshalb von dem HNO-Facharzt Dr. E behandelt. Wegen fortschreitender Knochenzerstörung im Bereich des rechten Schläfenbeines wurde im Januar und Februar 1950 dieser Bereich operativ ausgeräumt, wonach ein Knochendefekt hinter dem rechten Ohr zurückblieb. Der - von dem Arbeitgeber und einem Unfallzeugen bestätigten - Angabe des B., die Mittelohrentzündung sei durch einen am 21. Dezember 1949 bei Brennarbeiten in das rechte Ohr geflogenen Funken verursacht worden, schenkte die Beklagte keinen Glauben, nachdem die Universitäts-HNO-Klinik H in einem Gutachten vom 16. Mai 1951 Zweifel an einer traumatischen Verursachung im Hinblick darauf geäußert hatte, daß in dem von Dr. E am 23. Dezember 1949 erhobenen Befund keine Verbrennungsspuren im Gehörgang erwähnt seien. Die von B. gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten eingelegte Berufung (alten Rechts) blieb erfolglos. Erst auf die (weitere) Berufung gemäß § 215 Abs. 8 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), in deren Verlauf der Standpunkt der Beklagten durch fachärztliche Gutachten (Prof. Dr. F und Prof. Dr. K) widerlegt wurde, fand sich die Beklagte im Juli 1958 bereit, ihre Entschädigungspflicht aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom 21. Dezember 1949 anzuerkennen und eine Unfallrente von 40 v. H. zu gewähren.
Zu dieser Zeit war B. schon fast fünf Jahre tot. Er war am 16. September 1953 einem Verkehrsunfall in W zum Opfer gefallen, als er auf einer privaten Radfahrt plötzlich scharf nach links zur Straßenmitte schwenkte und hierbei von einem gerade zum Überholen ansetzenden Kraftwagen erfaßt wurde. Seine Witwe machte geltend, der tödliche Verkehrsunfall sei eine mittelbare Folge des Arbeitsunfalles vom 21. Dezember 1949. Ihr Antrag auf Gewährung der Witwenrente wurde mit Bescheid vom 26. September 1958 abgelehnt, in dem die Beklagte ausführte, die Feststellungen der Staatsanwaltschaft hätten ergeben, daß der Verkehrsunfall des B. auf dessen eigenes vorschriftswidriges Verhalten zurückzuführen sei.
Im Verfahren über die Klage der Witwe hat das Sozialgericht (SG) Oldenburg in der mündlichen Verhandlung am 3. Dezember 1959 als Sachverständigen den Obermedizinalrat Dr. v. R gehört; dieser hat sich lt. Sitzungsniederschrift zur Frage des mittelbaren Kausalzusammenhanges wie folgt geäußert: "Der Annahme, daß der Verkehrsunfall vom 16. September 1953 mittelbare Unfallfolge sein sollte, kann ärztlicherseits nicht gefolgt werden. Die Gehörschädigung hat beim Zustandekommen des Unfalles keine Rolle gespielt." Auf die Frage des Gerichts, ob Schwindelerscheinungen bei dem Unfall am 16. September 1953 eine Rolle gespielt haben können, erklärt der Sachverständige: "Die Schwindelerscheinungen als Ursache des Verkehrsunfalles sind äußerst unwahrscheinlich." Das SG hat hierauf die Klage abgewiesen: Im Hinblick auf die von einem Zeugen beobachtete schlingernde Fahrweise des B. sei es zwar als möglich anzusehen, daß B. an Schwindelanfällen infolge des Arbeitsunfalles gelitten habe. Wenn er sich aber in einem solchen Zustand befunden und mit dem Fahrrad in den Straßenverkehr begeben habe, so habe er sich einer Gefahr ausgesetzt und damit eine wesentliche Ursache für den Verkehrstod heraufbeschworen, so daß der Tod nicht als mittelbare Folge des Arbeitsunfalles anzusehen sei.
Mit ihrer Berufung hat die Klägerin neben dem Witwenrentenanspruch auch Ansprüche auf Gewährung der Unfallvollrente für B. und auf Gewährung der Witwenbeihilfe verfolgt. Bezüglich des Witwenrentenanspruchs hat sie u. a. geltend gemacht, B. sei bis zu seinem Tode wegen seiner Beschwerden am rechten Ohr ständig bei Dr. E in Behandlung gewesen und immer hinfälliger geworden, er habe ständig über Schwindelgefühl sowie Schmerzen im Kopf und Ohr geklagt. Gehörverlust und Schwindelgefühl hätten die hauptsächlichen Ursachen des Verkehrsunfalles gebildet. Dr. E hat bescheinigt, daß bei B. immer mal wieder starke Entzündungen am Ohr aufgetreten seien.
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 23. Oktober 1963 die Berufung, soweit sie sich gegen die Versagung der Unfallvollrente richtete, als unzulässig verworfen, soweit sie die Ablehnung der Hinterbliebenenrente betraf, zurückgewiesen; die Klage wegen Versagung der Witwenbeihilfe ist abgewiesen worden. Bezüglich der Ablehnung des Hinterbliebenenrentenanspruchs wird in den Entscheidungsgründen ausgeführt: Das zum Verkehrsunfall führende Fehlverhalten des B. bei seiner Radfahrt am 16. September 1953 sei nicht ursächlich auf arbeitsunfallbedingte Gesundheitsstörungen zurückzuführen. B. habe nur auf dem rechten Ohr das Hörvermögen weitgehend eingebüßt gehabt, ein Gehörverlust könne also beim Zustandekommen des Verkehrsunfalles nicht erheblich mitgewirkt haben. Auch die Annahme der Klägerin, zum Verkehrsunfall sei es durch Auftreten plötzlicher arbeitsunfallbedingter Schwindelerscheinungen gekommen, sei nicht hinreichend wahrscheinlich; denn nach den vorliegenden Gutachten seien objektive krankhafte Veränderungen, die für die von B. geklagten Schwindelerscheinungen und Gleichgewichtsstörungen verantwortlich zu machen wären, nicht festgestellt worden, insbesondere auch nicht bei der Untersuchung durch Dr. E am 5. Oktober 1950 und bei der Untersuchung am 16. Mai 1951 in der Universitäts-HNO-Klinik H; die in dieser Klinik durchgeführte Drehprüfung habe vielmehr einen beiderseits normalen Nachnystagmus ergeben, wodurch eine unfallbedingte Labyrinthschädigung als Ursache für Schwindelanfälle ausgeschlossen sei. Da mithin nach den eingehenden und mit allen neuzeitlichen Untersuchungsmethoden erhobenen ärztlichen Befunden kein Anhaltspunkt dafür bestehe, daß die von der Klägerin behaupteten Gleichgewichtsstörungen des B. auf die Folgen des Arbeitsunfalles zurückzuführen seien, stehe der tödliche Verkehrsunfall in keinem mittelbaren ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall. Dem Hilfsantrag der Klägerin auf Einholung eines weiteren Gutachtens werde nicht stattgegeben, da Untersuchungsbefunde ohnehin nicht mehr erhoben werden könnten und die Zusammenhangsfrage medizinisch ausreichend geklärt erscheine. - Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Gegen das am 1. Dezember 1963 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18. Dezember 1963 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 2. März 1964 verlängerten Frist wie folgt begründet: Das LSG habe den Sachverhalt nicht hinreichend erforscht. Es hätte sich auf Grund der aus den Akten ersichtlichen Anhaltspunkte über den Hergang des Verkehrsunfalles sowie über die von B. ständig geäußerten Schwindelbeschwerden gedrängt fühlen müssen, weitere Beweise zu erheben. Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen die Beklagte zur Gewährung der Witwenrente zu verurteilen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt
Verwerfung der Revision.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und das Berufungsverfahren für einwandfrei.
II
Die form- und fristgerecht eingelegte Revision der Klägerin ist statthaft auf Grund des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, da sie einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens zutreffend gerügt hat.
Die Auffassung des LSG, die Frage des ursächlichen Zusammenhanges zwischen den von der Klägerin behaupteten Folgen des Arbeitsunfalles vom 21. Dezember 1949 und dem Zustandekommen des nicht unter Versicherungsschutz stehenden Verkehrsunfalles vom 16. Dezember 1953 sei medizinisch ausreichend geklärt, ist nicht frei von Bedenken. Zwar hat das LSG diese Auffassung eingehend unter Bezugnahme auf HNO-ärztliche Befunde aus den Jahren 1950 und 1951 begründet. Hierbei hat es jedoch nicht genügend beachtet, daß dieses Beweismaterial für eine abschließende Beurteilung allzu dürftig ist. Über Schwindelerscheinungen als Folge seines Arbeitsunfalles und der darauf notwendigen tiefgreifenden Operationen hat B. nicht nur subjektiv gegenüber den ihn untersuchenden Ärzten und seinen Angehörigen geklagt, vielmehr sind Schwindelzustände auch im Gutachten der Universitäts-Nerven-Klinik H vom 16. Mai 1951 von Prof. Dr. P und Dr. Z als vorliegend erachtet worden (vgl. den Schluß der Beurteilung in diesem Gutachten Bl. 98 der Unfallakte). Nun trifft es zwar zu, daß nach dem gleichzeitig erstatteten Gutachten der Hamburg-Eppendorfer HNO-Klinik durch Drehprüfung eine normale Erregbarkeit des peripheren Vestibularisapparates ermittelt wurde. Hier erhebt sich jedoch sogleich die Frage, welchen Beweiswert eine solche einmalige Spezialuntersuchung besitzt, insbesondere ob aus ihr mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit gefolgert werden kann, in den folgenden zwei Jahren bis zu seinem Tode habe B. nicht in nennenswertem Maße an Schwindelanfällen und Gleichgewichtsstörungen gelitten. Zweifel in dieser Richtung erscheinen umsomehr am Platze, als nach der Auskunft des behandelnden Arztes Dr. E der Krankheitsprozeß am rechten Ohr bis zum Tode des B. offenbar nicht abgeschlossen war, sondern immer wieder neue Entzündungen aufgetreten sein sollen. Das LSG hat indessen allein aus den alten HNO-ärztlichen Befunden einen für die Klägerin ungünstigen Schluß gezogen, ohne anzugeben, woher es die hierfür erforderlichen medizinischen Kenntnisse gewonnen habe. Die Äußerung des Sitzungsarztes Dr. v. R in der Verhandlung vor dem SG kann hierfür kaum in Betracht kommen, da sie nur aus einer lapidaren Erklärung ohne jegliche Begründung besteht. Dieser ärztliche Sachverständige ist aber der einzige, der überhaupt in dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit zur strittigen Frage des mittelbaren Unfallzusammenhanges gehört worden ist. Die zu Lebzeiten des B. eingeholten fachärztlichen Gutachten sowie die Gutachten der Prof. Dr. F und Dr. K enthalten nichts Verwertbares zur Frage des mittelbaren Zusammenhanges, da diese Frage seinerzeit noch gar nicht aufgetaucht war. Das Vorgehen des LSG läuft also praktisch darauf hinaus, daß es eine schwierige medizinische Frage ohne ausreichende Anhörung fachärztlicher Sachverständiger beurteilt und nicht dargelegt hat, worauf seine in den Entscheidungsgründen vorgetragene eigene Sachkunde beruht; diesen wesentlichen Verfahrensmangel (vgl. SozR SGG § 103 Nr. 33) hat die Revision mit Recht gerügt.
Die hiernach statthafte Revision ist auch begründet, da möglicherweise eine weitere Erforschung des Sachverhalts in der aufgezeigten Richtung zu einer der Klägerin günstigeren Entscheidung führen könnte. Insofern erscheint übrigens die Erwägung des LSG, Untersuchungsbefunde seien jetzt ohnehin nicht mehr zu erlangen, nicht überzeugend. Denn das LSG hat hierbei übersehen, daß es von dem HNO-Facharzt Dr. E, der den B. bis zuletzt regelmäßig behandelt hat, sehr wohl nähere Auskünfte darüber hätte einholen können, ob B. über Schwindelanfälle und Gleichgewichtsstörungen in der letzten Zeit vor seinem Tode klagte und ob etwa solche Symptome im Verlauf der Behandlungen auch objektiv zu beobachten waren.
Da eine Entscheidung des Senats in der Sache selbst auf Grund der bisher getroffenen Feststellungen nicht möglich ist, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dem LSG obliegt dann auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens.
Fundstellen