Entscheidungsstichwort (Thema)
Inhalt des Honorarverteilungsmaßstabes einer KÄV. Beteiligung leitender Krankenhausärzte an der kassenärztlichen Versorgung. Zusammenwirken von Krankenkassen und KÄV im Zulassungswesen
Leitsatz (amtlich)
Inhalt des Honorarverteilungsmaßstabes einer KÄV - Beteiligung leitender Krankenhausärzte an der kassenärztlichen Versorgung - Zusammenwirken von Krankenkassen und KÄV im Zulassungswesen:
Vorschriften, nach denen bestimmte Gruppen von Kassenärzten (hier: Röntgenfachärzte) Kassenpatienten grundsätzlich nicht unmittelbar auf Krankenschein, sondern nur auf Überweisung durch einen anderen Arzt behandeln dürfen, betreffen den Zulassungsstatus dieser Kassenärzte und können deshalb nicht im Honorarverteilungsmaßstab der KÄV getroffen werden. Offen bleibt, ob sie nur durch den Gesetzgeber (oder aufgrund gesetzlicher Ermächtigung in der Zulassungsordnung) erlassen oder auch vertraglich (RVO § 368g) mit den KK vereinbart werden können; ferner ob sie mit dem Gleichheitssatz und mit der Freiheit der Berufsausübung des Kassenarztes (GG Art 3 Abs 1, Art 12 Abs 1 S 2) und mit der freien Arztwahl der Versicherten (RVO § 368d Abs 1) vereinbar sind.
Normenkette
RVO § 368a Abs. 8 Fassung: 1955-08-17, § 368d Abs. 1 S. 1 Fassung: 1955-08-17, § 368f Fassung: 1955-08-17, § 368g Fassung: 1955-08-17; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 12 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1968-06-24
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger, ein zur Kassenpraxis zugelassener Facharzt für Röntgenologie, wendet sich gegen Kürzungen seines Honorars in den Quartalen III/70 bis I/74 durch die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV).
Aufgrund einer Bestimmung ihres Honorarverteilungsmaßstabes (HVM), wonach Röntgenologen und Laborärzte "mit Ausnahme von begründeten Einzelfällen auf überwiesene Fälle beschränkt" sind (§ 3 Nr. 3 - später Nr. 4 - Satz 2 idF vom 1. April 1969, 1. Januar 1971 und 1. Oktober 1972), hält die Beklagte es grundsätzlich für unzulässig, wenn der Kläger Versicherte unmittelbar auf Krankenschein - ohne Überweisung durch einen anderen Arzt - behandelt. Sie setzte deshalb entsprechende Leistungen des Klägers, die dieser in den genannten Quartalen in Höhe von zusammen 5.479,99 DM abgerechnet hatte, als nicht abrechnungsfähig von seinen Honorarforderungen ab (Bescheid vom 13. Juni und Widerspruchsbescheid vom 19. August 1974).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Februar 1975). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) nach Anhörung von Sachverständigen die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Leistungen des Klägers ohne die angeordneten Einschränkungen zu honorieren: Die streitige Bestimmung des HVM beruhe auf einer - nach dem Grundgesetz (GG) formell zulässigen - Rechtsetzungsermächtigung in § 368 f Abs. 1 Sätze 3 bis 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und werde auch durch diese Ermächtigung gedeckt. Sie widerspreche jedoch materiellem Verfassungsrecht, denn sie verletze die Freiheit der Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG), weil sie nicht erforderlich sei, um eine Betätigung der Röntgenologen innerhalb der Grenzen ihres Fachgebiets sicherzustellen. Außerdem verstoße sie wegen der unterschiedlichen Behandlung der Röntgenologen und der anderen Fachärzte gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und sei auch mit der freien Arztwahl der Versicherten (§ 368 d Abs. 1 Satz 1 RVO) nicht vereinbar (Urteil vom 19. Dezember 1975).
Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt. Ihrer Ansicht nach ist die fragliche Bestimmung, die sich auch in anderen KÄV-Bezirken finde und deshalb revisibel sei, verfassungsrechtlich unbedenklich. Der Röntgenologe sei - ebenso wie der Laborarzt - nach seinem Berufsbild der "typische Überweisungsarzt", dessen Berufsfreiheit daher durch die genannte Bestimmung nicht beeinträchtigt werde. Ferner diene die Bestimmung dem Schutz der Patienten vor Röntgenstrahlen und nicht notwendigen Röntgenbehandlungen und rechtfertige dadurch Einschränkungen der freien Arztwahl. Im übrigen sehe sie Ausnahmen vom Überweisungszwang in begründeten Einzelfällen ausdrücklich vor. Ihr entspreche, sozusagen als "Kehrseite", eine Bestimmung des HVM, nach der andere Ärzte Kassenpatienten zur Durchführung gezielter diagnostischer Röntgenleistungen nur an frei praktizierende Röntgenfachärzte überweisen dürften. Der Gleichheitssatz sei wegen der Besonderheiten im Berufsbild der Röntgenologen nicht verletzt. Die Beklagte beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Nach Ansicht des Klägers fordert das Gemeinwohl und vor allem das Wohl der Versicherten die Möglichkeit einer unmittelbaren Inanspruchnahme von Röntgenologen. Er beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der beklagten KAV ist unbegründet. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Leistungen, die die Beklagte vom Honorar des Klägers für die Quartale III/70 bis I/74 als nicht abrechnungsfähig abgesetzt hat, dem Kläger ohne die angeordneten Einschränkungen zu honorieren sind.
Dabei kann dahinstehen, ob die Bestimmung im HVM der Beklagten, aufgrund deren sie den Honorarabstrich vorgenommen hat ("Honorarforderungen der Fachärzte für Röntgenologie und Strahlenheilkunde und der Fachärzte für Laboratoriumsdiagnostik sind mit Ausnahme von begründeten Einzelfällen auf überwiesene Fälle beschränkt"), im Sinne des § 162 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) revisibel ist, wie die Beklagte meint; denn die Beteiligten streiten nicht um die richtige Anwendung, sondern um die Gültigkeit dieser Bestimmung. Insofern hat der Senat zu prüfen, ob die Bestimmung mit revisiblem Recht, insbesondere mit den Vorschriften des Bundesrechts, vereinbar ist. Diese Prüfung ergibt ihre Unvereinbarkeit und damit Ungültigkeit.
Fraglich erscheint allerdings, ob die verfassungsrechtlichen Bedenken begründet sind, die das LSG gegen die Bestimmung unter dem Gesichtspunkt der Artikel 3 Abs. 1 und 12 Abs. 1 des Grundgesetzes erhoben hat. Der Senat läßt dies und auch die weitere Frage unentschieden, ob die Bestimmung dem Grundsatz der freien Arztwahl der Versicherten (§ 368 d Abs. 1 Satz 1 RVO) widerspricht. Auf jeden Fall kann eine Bestimmung dieser Art nicht im HVM einer KÄV getroffen werden, weil sie nicht die Verteilung der von der Krankenkasse entrichteten Gesamtvergütung unter die Mitglieder der KÄV betrifft und deshalb nicht von der gesetzlichen Ermächtigung in § 368 f Abs. 1 RVO gedeckt wird.
Nach den - hier allein in Betracht kommenden - Sätzen 2 bis 4 des § 368 f Abs. 1 RVO verteilt die KÄV die Gesamtvergütung unter die Kassenärzte (Satz 2). Sie wendet dabei den Verteilungsmaßstab an, den sie im Benehmen mit den Verbänden der Krankenkassen festgesetzt hat (Satz 3). Bei der Verteilung sind Art und Umfang der Leistungen des Kassenarztes zugrunde zu legen; eine Verteilung der Gesamtvergütung nur nach der Zahl der Behandlungsfälle (Krankenscheine) ist nicht zulässig (Satz 4). Im HVM als einem "Akt autonomer Rechtsetzung" (BSGE 22, 218, 219) ist hiernach zu regeln, welche - der Art nach näher zu bestimmenden - Leistungen mit welchen Sätzen zu vergüten sind. Dieser Regelungsauftrag schließt die Befugnis ein, einen Leistungskatalog mit Leistungsbeschreibungen aufzustellen, sofern ein solcher Katalog nicht, wie dies in der Regel geschieht, aus einer "fertig" bereitstehenden Gebührenordnung en bloc oder mit gewissen Modifizierungen übernommen wird. Bei der Aufstellung eines Leistungskatalogs mag es auch zulässig sein, für einzelne Leistungen, etwa beim Zusammentreffen mit anderen Leistungen, eine Vergütung auszuschließen oder einzuschränken. Die genannten Vorschriften des § 368 f Abs. 1 RVO lassen es dagegen nicht zu, im HVM zu bestimmen, unter welchen allgemeinen Voraussetzungen die Mitglieder der KÄV Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbringen dürfen, insbesondere ob dazu bei Fachärzten bzw. bestimmten Facharztgruppen eine Überweisung durch den behandelnden Arzt erforderlich ist. Diese Frage - ob nämlich der Kassenarzt von den Versicherten unmittelbar auf Krankenschein oder nur nach Überweisung in Anspruch genommen werden darf - betrifft nicht mehr die Honorierung der Leistungen, sondern die Voraussetzungen, unter denen der Arzt an der kassenärztlichen Versorgung teilnimmt, mithin seinen "Zulassungsstatus".
Diesen Status umschreibt das Gesetz in § 368 a Abs. 4 RVO in der Weise, daß der Kassenarzt mit der Zulassung ordentliches Mitglied der für seinen Kassenarztsitz zuständigen KÄV wird und zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung berechtigt und verpflichtet ist; daß ferner die vertraglichen Bestimmungen über die Kassenärztliche Versorgung (§ 368 g RVO) für ihn verbindlich sind. Ob die hiernach aus der Kassenzulassung fließende gesetzliche Berechtigung zur (uneingeschränkten) Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung durch untergesetzliche Normen dahin eingeschränkt werden kann, daß die Teilnahmeberechtigung von einer Überweisung durch andere Ärzte abhängig gemacht wird, erscheint zweifelhaft. Für die Beteiligung von leitenden Krankenhausärzten an der kassenärztlichen Versorgung galt bis Ende 1976 die Regelung, daß die Beteiligung (nur) "auf Überweisung" erfolgen durfte (§ 368 a Abs. 8 Satz 1 RVO aF und dazu BSGE 29, 65). Seitdem können die Krankenhausärzte auch "unmittelbar" beteiligt werden (Gesetz zur Weiterentwicklung des Kassenarztrechts vom 28. Dezember 1976, BGBl I 3871, Art. 1 § 1 Nr. 9 Buchst. f, Art. 2 § 9). Diese Vorschriften zeigen, daß der Gesetzgeber das Problem, unter welchen Voraussetzungen ein Arzt an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmen darf - ob unmittelbar oder nur aufgrund einer Überweisung -, durchaus gesehen und für einen bestimmten Kreis von Ärzten ausdrücklich geregelt hat, und zwar systemgerecht in den Vorschriften, die die Beteiligung an der kassenärztlichen Versorgung betreffen, d.h. im Zulassungsrecht (vgl. § 368 Abs. 1 Satz 3 RVO, wonach die §§ 368 a bis 368 c die Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit regeln).
Soweit dieses Zulassungsrecht im übrigen nicht gesetzlich oder - aufgrund gesetzlicher Ermächtigung - in der Zulassungsordnung normiert ist, erfordert seine Regelung grundsätzlich ein "Zusammenwirken" der KÄVen und der Krankenkassen (vgl. § 368 Abs. 1 Satz 1 RVO), wie auch Entscheidungen in Zulassungssachen im allgemeinen Akte der gemeinsamen Selbstverwaltung der Kassenärzte und Krankenkassen sind (vgl. § 368 b RVO). Das erklärt sich aus dem besonderen Interesse, das sowohl Ärzte wie Krankenkassen am Zulassungswesen haben. Dementsprechend sieht § 368 a Abs. 4 RVO in seinem zweiten Halbsatz "vertragliche" Bestimmungen zur näheren Ausgestaltung der durch die Zulassung erworbenen Rechtsstellung des Kassenarztes vor; diese sind nach § 368 g RVO zwischen den Krankenkassen und den KÄVen als Gesamt- oder Mantelverträge zu vereinbaren, können also nicht einseitig von der KÄV getroffen werden.
Anders liegt es dagegen bei der Regelung der Honorarverteilung nach § 368 f Abs. 1 RVO. Zwar sind auch an dieser die Krankenkassen nicht uninteressiert und müssen deshalb von der KÄV vor Erlaß des HVM gehört werden (vgl. zur Festsetzung des HVM "im Benehmen" mit den Verbänden der Krankenkassen BSGE 29, 111). Die letzte Entscheidung hat insoweit aber die KÄV allein. Die Unterscheidung zwischen Bestimmungen über die Honorarverteilung und solchen über die Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung hat somit, abgesehen von ihrer rechtsdogmatischen Bedeutung, auch eine praktische Seite, nämlich insofern, als untergesetzliche, d.h. im Rahmen der Verbandsautonomie zu setzende Normen in dem einen Bereich grundsätzlich einseitig, im anderen jedoch zweiseitig (vertraglich) erlassen werden. Schon dieser Umstand zwingt zu einer sauberen Trennung beider Bereiche.
Da es sich bei der streitigen Bestimmung, wie ausgeführt, der Sache nach um eine Norm des Zulassungsrechts handelt, hat die Beklagte sie, selbst wenn sie nicht der Gesetzesform bedürfen sollte und die aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG sowie § 368 d Abs. 1 RVO hergeleiteten Bedenken des LSG nicht begründet wären, jedenfalls nicht einseitig im HVM erlassen können. Die Bestimmung ist deshalb nicht gültig zustandegekommen und die auf ihrer Grundlage vorgenommene Honorarberichtigung unrechtmäßig, so daß sich die Entscheidung des LSG im Ergebnis als richtig erweist. Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen