Entscheidungsstichwort (Thema)
Schülerunfallversicherung. Prüfungsarbeit. Besorgung von Material. Wege außerhalb des Unterrichts. organisatorischer Verantwortungsbereich der Ausbildungsstätte. Betriebsweg. individuelles Interesse
Orientierungssatz
1. Die Fahrt eines Berufsschülers zur Materialbeschaffung für eine weitere freiwillige Abschlußarbeit mit dem Ziel, das bereits hergestellte Gesellenstück auf einen Sockel zu montieren, um es besonders wirkungsvoll zur Geltung zu bringen, steht nicht unter Unfallversicherungsschutz, wenn die Fahrt auf dem freien Entschluß des Schülers beruht und weder eine Anregung oder Weisung des Lehrmeisters zugrunde liegt, noch die Besorgung erforderlich ist, um die ergänzende Prüfungsarbeit fertigzustellen (vgl BSG vom 18.2.1987 - 2 RU 19/86 = SozR 2200 § 539 Nr 120).
2. Der Unfallversicherungsschutz für Lernende während der Ausbildung an berufsbildenden Schulen umfaßt auch Tätigkeiten, die außerhalb des Unterrichts, jedoch noch im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule verrichtet werden.
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 1, § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c, § 548 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger am 14. Juni 1977 einen Arbeitsunfall erlitten hat und wegen der Unfallfolgen von der Beklagten zu entschädigen ist.
Der Kläger war bis zum 17. Juni 1977 Dreherlehrling bei den Chemischen Werken He. in K. . Die Ausbildung umfaßte auch den Besuch der mit der Lehrwerkstatt verbundenen Berufsschule. Am 14. Juni 1977 war der Unterricht in der Berufsschule gegen 16.00 Uhr beendet. Anschließend fuhr der Kläger mit seinem Motorrad über seinen Wohnort Ka. hinaus nach N. , um dort von seinem Onkel Jahn W. ein Doppel-T-Stück abzuholen. Bevor er N. erreichte, stieß er gegen 17.00 Uhr mit einem Traktor zusammen und verlor dabei das rechte Bein im Unterschenkel. Seit dem 13. April 1980 lebt der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland.
Das Doppel-T-Stück sollte als Sockel für ein Werkstück dienen, das der Kläger und einer seiner Mitschüler, der Zeuge H. (H.), als weitere Abschlußarbeit gemeinsam abliefern wollten. Es handelte sich dabei um eine Welle, die als freiwillige Ergänzung zum Gesellenstück präsentiert werden sollte. Beide hatten zuvor als Pflichtaufgaben jeweils ein Teil einer Anhängerkupplung angefertigt. Diese Gesellenstücke waren nicht sehr gut ausgefallen. Auf Anregung des Lehrmeisters entschlossen sich deshalb der Kläger und H., freiwillig noch eine Zusatzarbeit zu fertigen, um durch deren Mitberücksichtigung bei der Prüfung besser abzuschneiden. Die Welle hatte H. als der geschicktere allein gedreht, und zwar nach einer vom Lehrmeister erstellten Zeichnung. Um der Welle ein herausstechendes Aussehen zu geben, beschlossen der Kläger und H., die Welle auf ein Doppel-T-Stück aus Edelstahl zu montieren. Eine Zeichnung oder eine Anregung des Lehrmeisters hierfür gab es nicht. Der Kläger wollte das Doppel-T-Stück bei seinem Onkel besorgen und die Montage übernehmen.
Mit Bescheid vom 4. Oktober 1983 lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger Unfallentschädigung zu gewähren: Der Kläger sei auf einem Abweg verunglückt; das Besorgen von Material habe außerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der Schule gestanden. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Februar 1986). Die Berufung blieb ebenfalls ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen gelangte zu dem Ergebnis, daß der Kläger weder auf einem versicherten Heimweg, noch auf einem Betriebsweg verunglückt sei (§§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c, 550, 548, 549 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Zwar könnten auch außerhalb des eigentlichen Schulunterrichts liegende Verrichtungen in den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule einbezogen sein. Hierfür reiche jedoch nicht bereits irgendein Zusammenhang mit der Ausbildung aus. An einer engen Beziehung zum Berufsschulunterricht fehle es hier, weil sich der Kläger und H. unabhängig von einer Weisung oder Anregung des Lehrmeisters dazu entschlossen hätten, die Welle auf ein Doppel-T-Stück zu montieren; der Unfall habe sich deshalb auf einem versicherungsrechtlich ungeschützten Weg ereignet (Urteil vom 5. August 1987).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe den Begriff des Betriebsweges iS des § 548 RVO verkannt. Entscheidend sei, ob der unfallbringende Weg betrieblichen Zwecken gedient habe. Das sei im vorliegenden Fall zu bejahen, weil die Tätigkeit des Klägers auf die abschließende Fertigstellung des Gesellenstücks im Rahmen der betrieblichen Ausbildung gerichtet gewesen sei. Dagegen komme es - wie das LSG meine - nicht darauf an, ob eine entsprechende Anordnung oder Weisung durch den Lehrmeister vorgelegen habe.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. August 1987, des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24. Februar 1986 sowie des Bescheides vom 4. Oktober 1983 zu verurteilen, ihm für die Folgen des Unfallgeschehens vom 14. Juni 1977 Verletztenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger am 14. Juni 1977 keinen Arbeitsunfall erlitten hat.
Nach Art 7 Abs 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 (BGBl II Nr 15 vom 16. März 1976, S 396) sind für den Entschädigungsanspruch des Klägers die Vorschriften der RVO so zu berücksichtigen, als ob sich der Unfall in der Bundesrepublik Deutschland ereignet hätte.
Es kann dahinstehen, ob nach den besonderen Umständen der Ausbildung des Klägers dessen Prüfungsarbeit dem Abschluß der Berufsschulbildung oder der betrieblichen Ausbildung diente (s BSG SozR 2200 § 539 Nr 117).
Der Kläger war als Lernender während der Berufsausbildung in einer berufsbildenden Schule gegen Arbeitsunfall versichert (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO). Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter während des Besuchs der in § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO genannten Ausbildungsstätten erleidet. Dies bedeutet, daß nicht jede kausale Beziehung zwischen dem Schulbesuch und der unfallbringenden Tätigkeit Versicherungsschutz auslöst. Die Vorschrift verlangt vielmehr eine innere bzw sachliche Verknüpfung mit dem Schulbesuch, welche nur gegeben ist, wenn der Schüler im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule verunglückt, nicht dagegen zB bei der Erledigung von Schulaufgaben im häuslichen Bereich (ständige Rechtsprechung zum Besuch allgemeinbildender Schulen: BSGE 35, 207, 210; 51, 257, 259; zuletzt Urteil vom 18. Februar 1987, SozR 2200 § 539 Nr 120; für den Besuch berufsbildender Schulen: BSG SozR 2200 § 539 Nr 102). Auch außerhalb des eigentlichen Schulunterrichts liegende Verrichtungen können allerdings in den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule einbezogen sein (BSGE 51 aa0; 57, 260, 261; SozR 2200 § 539 Nr 102; Urteil vom 18. Februar 1987 aa0). Der Senat hat den Versicherungsschutz zB auf Wegen bejaht, die der versicherte Schüler außerhalb des Schulgeländes zur Ausübung der versicherten Tätigkeit zurücklegt (BSGE 51 aa0; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 481q). Er hat den organisatorischen Verantwortungsbereich bei Wegen außerhalb der Schule und der Unterrichtszeit für Fälle angenommen, in denen Schüler auf Anordnung eines Lehrers (BSGE 51 aa0; 57 aa0) oder zur Erneuerung bzw Beförderung von Arbeitsgerät (BSGE 57 aa0; BSG SozR 2200 § 549 Nr 2 und Nr 6, § 550 Nr 32) tätig geworden sind. In seinem Urteil vom 18. Februar 1987 (aa0) hat er diese Rechtsprechung ergänzt und klargestellt, daß ein Weg, den ein Schüler außerhalb der Schule zurücklegt, auch dann dem Verantwortungsbereich der Schule zugeordnet werden kann, wenn er hierfür keinen Auftrag seines Lehrers besitzt. Voraussetzung für den Versicherungsschutz ist dann allerdings, daß die Tätigkeit des Schülers erforderlich ist, um die Teilnahme an einer Schulveranstaltung zu ermöglichen (Holen des vergessenen Ausweises).
Im vorliegenden Fall unternahm der Kläger die Fahrt nach N. aus Gründen, die nicht im organisatorischen Verantwortungsbereich der Berufsschule lagen (s BSGE 35, 207, 209). Der Beschaffung des Doppel-T-Stücks lag weder eine Anregung, geschweige denn eine Weisung des Lehrmeisters zugrunde, noch war die Besorgung erforderlich, um die ergänzende Prüfungsarbeit fertigzustellen (s BSGE 51 aaO, 57 aaO; BSG SozR 2200 § 539 Nr 120). Nach den bindenden und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG beruhte die Materialbeschaffung vielmehr auf dem freien Entschluß des Klägers und seines Mitschülers H., das bereits hergestellte Werkstück auf einen Sockel zu montieren, um es besonders wirkungsvoll zur Geltung zu bringen.
Aus den vorstehenden Gründen ergibt sich auch, daß die Fahrt des Klägers keine Betriebsfahrt war. Zwar ist es - worauf die Revision zu Recht hinweist - auch insoweit nicht erforderlich, daß der Schüler die Fahrt einer Weisung entsprechend durchführt. Es reicht vielmehr aus, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, daß seine Tätigkeit geeignet ist, den Interessen des Unternehmens zu dienen (BSGE 20, 215, 218; Urteil vom 18. Februar 1987 aa0; Brackmann aa0 S 480n mwN). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Als sich der Kläger am 14. Juni 1977 entschloß, das Doppel-T-Stück bei seinem Onkel abzuholen, lagen objektiv keine Anhaltspunkte vor, die aus seiner Sicht die Annahme hätten rechtfertigen können, wesentlich im Schulinteresse tätig zu werden. Seine Handlungsweise war vielmehr von dem im Vordergrund stehenden individuellen Interesse geprägt, bei der Prüfung möglichst gut abzuschneiden.
Aus diesen Gründen besteht auch kein Versicherungsschutz nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO (BSG SozR 2200 § 539 Nr 117), wenn die Prüfung selbst vornehmlich dem Abschluß der betrieblichen Ausbildung gedient haben sollte.
Schließlich scheidet auch ein Versicherungsschutz nach § 549 RVO aus. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob das Doppel-T-Stück ein Arbeitsgerät im Sinne dieser Vorschrift war, weil jedenfalls die weiteren Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht vorliegen. Versicherungsschutz besteht danach nur bei einer mit dem Schulbesuch zusammenhängenden Verwahrung, Beförderung, Instandhaltung oder Erneuerung von Arbeitsgeräten, nicht dagegen bei deren Erstbeschaffung (BSGE 51, 257, 258 mwN).
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen