Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.
Die am 15. Oktober 1910 geborene Klägerin besuchte die Volksschule und anschließend 2 Jahre eine Handelsschule. Einen Beruf erlernte sie nicht. Nach ihrer Ehescheidung war sie in den Jahren 1957 bis 1972 mit Unterbrechungen als Küchenhilfe, Raumpflegerin und Hilfsarbeiterin tätig und entrichtete für 98 Kalendermonate Pflichtbeiträge zur Arbeiterrentenversicherung. Am 20. März 1973 erlitt sie einen Speichenbruch am linken Arm. Seit 1. Juli 1973 erhält sie Sozialhilfe. Ihren Rentenantrag vom 5. Juli 1973 lehnte die Beklagte nach Einholung eines innerfachärztlichen Gutachtens mit Bescheid vom 2. Oktober 1973 ab. Das Sozialgericht (SG) Kiel hat die Klage durch Urteil vom 18. Februar 1974 abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 2. Juli 1974 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat das LSG u.a. ausgeführt: Die Klägerin könne wegen Veränderungen im Wirbelsäulenbereich keine schweren körperlichen Arbeiten mehr leisten, desgleichen keine Arbeiten unter stärkerer Wirbelsäulenbelastung. Die bei ihr bestehende beiderseitige Krampfaderbildung und Fußfehlstatik hindere sie, längere Fußwege zurückzulegen. Der in Fehlstellung ausgeheilte Speichenbruch bedinge eine Gebrauchseinschränkung der linken Hand, die solche körperliche Arbeiten ausschließe, bei denen diese Hand stärker belastet werde. Insgesamt sei die Klägerin noch imstande, "alle leichten Frauenarbeiten im Sitzen und Stehen bei Vermeidung spezieller wirbelsäulenbelastender Arbeiten, wie häufiges Bücken, Überkopfarbeiten sowie Heben und Tragen schwerer Gegenstände, über einen ganzen Arbeitstag unter Mitberücksichtigung der eingeschränkten Gebrauchsfähigkeit ihrer linken Hand zu leisten". Die Klägerin sei nicht gehindert, derartige Arbeitsplätze unter Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu erreichen und die im Stadtgebiet üblichen Anmarschwege zu Fuß zurückzulegen. Da sie "keinen Fachberuf im wartezeiterfüllenden Umfang versicherungspflichtig ausgeübt" habe, müsse die Klägerin sich auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisen lassen. Arbeiten als Hilfsarbeiterin und Verkaufshilfe seien ihr ebenso zumutbar wie Tätigkeiten als Bürohilfe, bei denen sie kraftvollere Arbeiten mit der linken Hand nicht auszuführen brauche und für die sie aufgrund ihrer Vorbildung durch den erfolgreichen Abschluß der Handelsschule auch ausreichend geeignet erscheine. Angesichts der dem Senat aus einer Vielzahl insoweit gleichgelagerter Streitfälle bekannten großen Nachfrage nach Dienstleistungen solcher Art in allen größeren Orten habe es keiner weiteren Erhebungen über das Vorhandensein geeigneter Arbeitsplätze im Wohngebiet der Klägerin bedurft, zumal die Klägerin noch vollschichtig erwerbstätig sein könne. Schwierigkeiten, die infolge ihres Alters bei der Erlangung eines Arbeitsplatzes auftreten könnten, seien nicht bei dem erhobenen Rentenanspruch zu prüfen. Die Klägerin sei nach alledem weder erwerbs- noch auch nur berufsunfähig.
Mit der - nicht zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 62, 103, 106, 109, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie führt dazu aus: Das LSG habe sich nicht mit der Frage befaßt, ob für sie geeignete Arbeitsplätze vorhanden seien. Statt dessen habe das LSG sie in dem angefochtenen Urteil mit der Feststellung überrascht, daß ihm aus einer Vielzahl gleichgelagerter Streitfälle eine Nachfrage nach derartigen Arbeitskräften bekannt sei. Das LSG habe ihr damit das rechtliche Gehör versagt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -GG-; § 62 SGG). Sie habe nicht die Möglichkeit gehabt, die Richtigkeit dieser Feststellung nachzuprüfen und sich dazu zu äußern. Zugleich habe das LSG auch § 128 SGG verletzt, denn es habe nicht angegeben, woher es seine Kenntnis habe. Ein weiterer Verstoß gegen § 128 SGG bestehe darin, daß das LSG sie wegen ihrer Handelsschulausbildung auf die Tätigkeit einer Bürohilfe verwiesen habe. Hier sei übersehen worden, daß ihr Handelsschulbesuch einige Jahrzehnte zurückliege und sie niemals in einem kaufmännischen oder Büroberuf tätig gewesen sei. Es sei ein allgemeiner Erfahrungssatz, daß theoretische Kenntnisse wieder verlernt werden, wenn sie vor mehr als 40 Jahren erworben und seither niemals praktisch verrichtet worden seien. Ein weiterer Erfahrungssatz gehe dahin, daß derjenige, der höherzubewertende Berufskenntnisse besitze, in der Regel keine geringerwertige Tätigkeit übernehme. Die Tatsache, daß sie während ihrer ganzen beruflichen Tätigkeit nur als Arbeiterin beschäftigt gewesen sei, spreche deshalb gegen die Annahme des LSG, sie besitze noch kaufmännische oder Bürokenntnisse und Fertigkeiten in verwertbarem Umfang. Die Überlegung des LSG, sie könne auch insoweit noch beruflich eingesetzt werden, enthalte einen Denkfehler. Auch habe das LSG seine Aufklärungspflicht (§§ 103, 106 SGG) mehrfach verletzt. Statt sich mit einem Kurzgutachten eines Chirurgen zu begnügen, hätte es einen Orthopäden als Sachverständigen zuziehen müssen. Auch hätte es eine Auskunft des Arbeitsamtes einholen müssen zu den Fragen, welche Tätigkeiten ihr im einzelnen noch zumutbar seien und ob solche Tätigkeiten als zu vermittelnde Arbeit überhaupt zur Verfügung stehen. Durch ein Gutachten eines Werksarztes hätte geklärt werden müssen, was unter "leichter Frauenarbeit" zu verstehen sei und ob sie angesichts der eingeschränkten Gebrauchsfähigkeit ihrer linken Hand derartige Arbeiten tatsächlich in einsetzbarem Umfang leisten könne. Schließlich habe das LSG § 109 SGG verletzt. Es habe ihrem Antrag auf Anhörung ihres behandelnden Arztes Dr. O… nicht stattgegeben. Die Klägerin ist der Auffassung, bei Vermeidung all dieser Verfahrensverstöße hätte das LSG sie wegen des schlecht verheilten Speichenbruches und ihrer weiteren Gesundheitsbeschwerden bei ihrem Alter von 64 Jahren als erwerbsunfähig, mindestens aber als berufsunfähig, ansehen müssen.
Die Klägerin beantragt, die vorinstanzlichen Urteile sowie den Bescheid vom 2. Oktober 1973 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen Erwerbs- oder wegen Berufsunfähigkeit ab 1. August 1973 Rente zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II.
Die nicht zugelassene Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden und hier gem. Art. III des Gesetzes zur Änderung des SGG - vom 30. Juli 1974 (BGBl. 1 1625) noch anzuwendenden Fassung (SGG a.F.) statthaft, weil die Klägerin wesentliche Mängel im Verfahren des LSG gerügt hat und diese Mängel vorliegen (BSGE 1, 150). Die Revision ist auch begründet. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Mit Recht rügt die Klägerin als wesentlichen Verfahrensmangel, das LSG habe ihr das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; § 62 SGG) versagt. Mit seinen Ausführungen, ihm sei aus einer Vielzahl insoweit gleichgelagerter Streitfälle bekannt, daß in allen größeren Orten große Nachfrage nach Dienstleistungen der Art bestehe, wie sie der Klägerin noch zumutbar seien, beruft sich das LSG hinsichtlich des Vorhandenseins von Arbeitsplätzen, die es als für die Klägerin geeignet ansieht, ausdrücklich auf seine Gerichtskunde. Auch gerichtskundige Tatsachen müssen aber zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden. Das LSG hätte deshalb die Beteiligten darauf hinweisen müssen, daß es das Vorhandensein von geeigneten Arbeitsplätzen für die Klägerin als gerichtsbekannt betrachtet. Auch hätte es den Beteiligten Gelegenheit geben müssen, sich hierzu zu äußern. Daß das geschehen ist, kann weder den Gründen des angefochtenen Urteils entnommen werden noch ergibt es sich aus den vorliegenden Akten. Hat das LSG aber diese als gerichtsbekannt angesehenen Tatsachen nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht, so hat es mit diesem Unterlassen den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt (BSGE 22, 19, 20; = BSG SozR Nr. 70 zu § 128 SGG; BSG SozR Nr. 91 zu § 128 SGG). Zugleich hat das LSG damit auch gegen § 128 Abs. 2 SGG verstoßen, denn nach dieser Vorschrift darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (BSG a.a.O.).
Auch die sich auf die Einsatzfähigkeit der Klägerin als Bürohilfe beziehende Verfahrensrüge der Revision ist begründet. Die Ausdrucksweise des LSG, für die Ausübung einer solchen Tätigkeit "erscheine" die Klägerin aufgrund ihrer durch den erfolgreichen Abschluß der Handelsschule erworbenen Vorbildung ausreichend geeignet, kann nicht etwa als Rechtsansicht des LSG angesehen werden. Diese Ausdrucksweise deutet vielmehr darauf hin, daß das LSG hier mit einer Vermutung gearbeitet hat. Jedenfalls hat das LSG insoweit keine Feststellungen getroffen. Rein theoretisch erworbene Kenntnisse aber gehen wieder verloren, wenn sie jahrzehntelang weder angewandt noch aufgefrischt werden. Gegen diesen allgemeinen Erfahrungssatz hat das LSG dadurch verstoßen, daß es die vierundsechzigjährige Klägerin auf die Tätigkeit einer Bürohilfe lediglich deshalb verweist, weil die Klägerin im Anschluß an die Volksschule, also als junges Mädchen, zwei Jahre lang erfolgreich die Handelsschule besucht hat. Nach den Feststellungen des LSG hat die Klägerin weder jemals als Bürohilfe oder in einer ähnlichen Stellung gearbeitet, noch ist ersichtlich, daß sie ihre damals erworbenen kaufmännischen Schulkenntnisse später irgendwie sonst verwertet oder auch nur aufgefrischt hat. Mit diesem Verstoß gegen einen allgemeinen Erfahrungssatz hat das LSG die Grenzen seines Rechts, der freien Beweiswürdigung überschritten und damit § 128 SGG verletzt.
Begründet ist auch die Rüge der Klägerin, das LSG habe sich nicht mit der Frage befaßt, ob für sie geeignete Arbeitsplätze vorhanden sind. Auch wenn die Klägerin - wie das LSG festgestellt hat - trotz ihrer Gesundheitsstörungen auf dem allgemeinen Arbeitsfeld noch vollschichtig einsetzbar ist, bedarf es wegen der Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit ihrer linken Hand hinsichtlich der für ihre Verweisbarkeit in Betracht kommenden, angeblich gerichtsbekannten Arbeitsplätze konkreter Angaben. Die Feststellung des LSG, die Klägerin könne "alle leichten Frauenarbeiten im Sitzen und Stehen bei Vermeidung spezieller wirbelsäulenbelastender Arbeiten, wie häufiges Bücken, Überkopfarbeiten sowie Heben und Tragen schwerer Gegenstände unter Mitberücksichtigung der eingeschränkten Gebrauchsfähigkeit ihrer linken Hand" verrichten, hilft insoweit nicht weiter. Ein "Überkopfarbeiten" sowie das Heben und Tragen "schwerer" Gegenstände kann ohnehin nicht als "leichte Frauenarbeit" bezeichnet werden. Abgesehen hiervon ist diese Feststellung zu allgemein um klarzustellen, für welche Art von _Arbeiten die Klägerin nach der Auffassung des LSG tatsächlich noch in Betracht kommen soll. Daß das LSG insoweit "Arbeiten als Hilfsarbeiterin und Verkaufshilfe" nennt, reicht nicht aus, denn auch daraus wird nicht ersichtlich, auf welchen tatsächlich vorhandenen Arbeitsplätzen das LSG die Klägerin angesichts der eingeschränkten Gebrauchsfähigkeit ihrer linken Hand für einsetzbar hält. Das LSG hat hier die für seine Überzeugung leitend gewesenen Gründe nicht ausreichend angegeben und damit § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG verletzt.
Begründet ist schließlich die Rüge der Revision, das LSG habe sich nicht mit dem Kurzgutachten eines als Terminsarzt zugezogenen Chirurgen begnügen dürfen; es habe vielmehr einen Orthopäden als Sachverständigen zuziehen müssen. Obwohl bei der jetzt vierundsechzigjährigen Klägerin Veränderungen im Wirbelsäulenbereich sowie eine Fußfehlstatik beiderseits und insbesondere als Folge des 1973 erlittenen Speichenbruchs eine Gebrauchseinschränkung der linken Hand bestehen, ist die Klägerin weder im Verwaltungsverfahren von einem Orthopäden oder auch nur von einem Chirurgen untersucht und begutachtet worden, noch haben die gerichtlichen Vorinstanzen eine derartige Fachbegutachtung veranlaßt. Daß lediglich auf eine sachlich, zeitlich und örtlich nur beschränkt mögliche Untersuchung während der Gerichtsverhandlung gestützte Kurzgutachten des von LSG im Termin zugezogenen Chirurgen konnte deshalb für eine abschließende Beurteilung dieser die Erwerbsfähigkeit der Klägerin negativ beeinflussenden Gesundheitsstörungen nicht ausreichen, denn dieser Chirurg konnte als Sachverständiger lediglich an Befunde anknüpfen, die während des Verwaltungsverfahrens, also nahezu ein Jahr zuvor anläßlich der von einem Internisten durchgeführten Untersuchung und Begutachtung bei der Klägerin erhoben worden sind (BSG SozR Nr. 42 zu § 128 SGG). Das LSG hätte die Klägerin deshalb außerhalb des, Verhandlungstermins von einem Orthopäden, wenigstens aber von einem Chirurgen untersuchen und begutachten lassen müssen. Durch die Nichteinholung eines derartigen Gutachtens wird die Aufklärungspflicht verletzt. Das LSG hat damit gegen § 103 SGG verstoßen.
Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob auch das weitere Revisionsvorbringen die Revision hätte statthaft machen können.
Die Revision ist begründet. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei richtiger Verfahrensweise zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
Nach alledem muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten, auch des Revisionsverfahrens, bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen