Leitsatz (amtlich)

Dem Jahresarbeitsverdienst ist auch das Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen hinzuzurechnen, das dem Verletzten innerhalb des Jahres vor dem Unfall durch Kurzarbeit entgangen ist.

 

Normenkette

RVO § 571 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1976-12-23, S. 2 Fassung: 1976-12-23

 

Verfahrensgang

SG Bayreuth (Entscheidung vom 28.02.1978; Aktenzeichen S 7 U 266/78)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 28. Februar 1978 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob zum Jahresarbeitsverdienst (JAV) des Klägers im Sinne von § 571 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nur das im Jahre vor dem Arbeitsunfall tatsächlich bezogene Arbeitsentgelt oder auch das Arbeitsentgelt gehört, welches der Kläger ohne die an 48 Tagen eingetretene Kurzarbeit bezogen hätte.

Durch Bescheid vom 27. September 1976 bewilligte die Beklagte dem Kläger Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH für einen am 27. August 1975 erlittenen Arbeitsunfall, die sie nach einem JAV von 15.215,21 DM berechnete. Dies beanstandete der Kläger. Mit der Klage hat er geltend gemacht, sein JAV habe 18.705,15 DM betragen, weil er nach der Auskunft seines Arbeitgebers im letzten Jahr vor dem Unfall infolge von Kurzarbeit an insgesamt 48 Tagen einen Lohnausfall von 3.489,94 DM gehabt habe. Während des Klageverfahrens erging der hinsichtlich des JAV unveränderte Dauerrentenbescheid vom 26. April 1977. Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 28. Februar 1978 die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 27. September 1976 und 26. April 1977 verurteilt, der Rentenberechnung des Klägers einen JAV von 18.705,15 DM zugrunde zu legen. Es hat sich der Rechtsauffassung des Klägers angeschlossen, daß der durch Kurzarbeit entstandene Lohnausfall nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO dem JAV zuzuschlagen sei.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil die nachträglich vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO und beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Bayreuth vom 28. Februar 1978 die Klage gegen die Bescheide vom 27. September 1976 und 26. April 1977 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

II

Die Revision ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.

Der Revisionsantrag der Beklagten, das Urteil des SG wegen Verletzung des § 571 RVO aufzuheben und die Klage abzuweisen, wäre begründet, wenn die Tage der Kurzarbeit des Klägers im Jahre vor dem Arbeitsunfall bei der Berechnung des JAV außer Betracht zu bleiben hätten. Das trifft Jedoch nicht zu.

Nach der Grundregel des § 571 Abs 1 Satz 1 RVO gilt als JAV der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall. Als Maßstab für die Bemessung der Rente will das Gesetz also den Gesamtarbeitsverdienst im Jahr vor dem Unfall berücksichtigt wissen. Im Normalfall (Satz 1 aaO) hatte der Verletzte im ganzen Jahr vor dem Unfall ein Arbeitseinkommen. Für Ausnahmefälle, nämlich für die Fälle, in denen der Verletzte im Jahre vor dem Arbeitsunfall zeitweise kein Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen bezog, sieht § 571 Abs 1 Satz 2 vor, daß gleichwohl für diese Zeiten ebenfalls ein Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen zugrunde gelegt wird, nämlich dasjenige, das der letzten Tätigkeit des Verletzten vor diesen nicht entgeltsträchtigen Zeiten entspricht. Die Bestimmung will nach der Begründung zu § 571 RVO (vgl BT-Drucks IV 120 S 57) verhindern, daß der niedrige Lebensstandard, der während der Zeit des Ausfalls von Arbeitsentgelt im allgemeinen besteht und in der Regel nicht lange anhält, zum Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente, also uU für die Lebenszeit des Verletzten, gemacht wird. Der Verletzte soll grundsätzlich so behandelt werden, als ob er die gegen Unfall versicherte Tätigkeit während des gesamten seinem Unfall vorangehenden Jahres ausgeübt und das ihm hierfür zustehende Entgelt bezogen hätte. Das kommt auch in § 571 Abs 1 Satz 3 RVO zum Ausdruck. Danach ist die Tätigkeit, die der Versicherte zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübt hat, maßgebend, wenn er früher nicht tätig gewesen ist. Die Regelung entspricht dem bereits erwähnten Grundsatz. Dem Gesetzgeber kam es nämlich auch in diesen Fällen darauf an, die nach dem JAV bemessene Entschädigung des unfallbedingten Verlustes an Erwerbsfähigkeit gleichmäßig in dem Sinne vorzunehmen, daß die unfallbedingte Beeinträchtigung des vor dem Unfall bestehenden Lebensstandards in etwa ausgeglichen wird.

Diese Zweckbestimmung des § 571 Abs 1 RVO erfordert zunächst, wie auch die Beklagte nicht bezweifelt, daß für Zeiten der Krankheit und ebenso auch der Arbeitslosigkeit der Ausgleich nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO erfolgt. Nach § 571 Abs 1 Satz 3 RVO erfolgt der Ausgleich - auf der Grundlage der zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübten Tätigkeit - sogar dann, wenn die zur Zeit des Unfalls ausgeübte Tätigkeit sich nicht auf das gesamte Jahr vor dem Unfall zurückerstreckt, sondern eine Tätigkeit überhaupt erst im Verlaufe des Jahres vor dem Arbeitsunfall - im Extremfall am Unfalltag - aufgenommen worden ist. Selbst derjenige, der am Unfalltag erstmals gearbeitet hat, wird im Interesse der gleichmäßigen Entschädigung so behandelt, als habe er die zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübte Tätigkeit bereits ein Jahr vor dem Unfall ausgeübt. Daran wird deutlich erkennbar, daß § 571 RVO mit seiner Ausrichtung auf den - notfalls fingierten - JAV im Jahr vor dem Unfall der Ermittlung des vom Verletzten im Unfalljahr erreichten Lebensstandards dient. Maßgebend hierfür sind alle Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen, die der Verletzte im Jahre vor dem Unfall erzielt hat oder bei einer sich auf das gesamte Jahr vor dem Unfall erstreckenden Tätigkeit erzielt hätte. Dabei kommt es grundsätzlich nicht darauf an, aus welchen Gründen innerhalb des letzten Jahres vor dem Unfall Zeiten liegen, in denen der Verletzte kein Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen bezogen hat. Auch die Zeit des Bezuges von Kurzarbeitergeld, die zugleich eine Zeit ist, in der der Verletzte kein Arbeitsentgelt und kein Arbeitseinkommen bezogen hat, kann deshalb bei der Bestimmung des JAV des Verletzten und damit bei der Festlegung seines Lebensstandards als Maßstab für die Höhe der Unfallentschädigung nicht ausgeklammert werden. Wollte man dies gleichwohl zulassen, so würden die von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer ohne sachlichen Grund ungünstiger behandelt werden als diejenigen Arbeitnehmer, die aus anderen Gründen - etwa wegen Strafvollzugs (vgl hierzu § 571 Abs 2 RVO) - Zeiten ohne Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen aufzuweisen haben. Für eine solch unterschiedliche Behandlung bietet aber weder der Wortlaut noch der Sinn des § 571 RVO einen Anhalt.

Die auf Lauterbach (Unfallversicherung, Stand Mai 1978, § 571 Anm 4 a) gestützte Auffassung der Beklagten, es sei nicht Sinn des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO, strukturell oder konjunkturell bedingte Einkommensschwankungen auszugleichen, die nicht nur den einzelnen Versicherten, sondern die Betriebsangehörigen eines Unternehmens oder Versicherte mehrerer Gewerbezweige betreffen, ist mit dem oben dargelegten Sinn der Bestimmung nur zum Teil vereinbar. Richtig ist daran, daß Zeiten im Sinne des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO nicht festzustellen sind, wenn der Verletzte im Jahre vor dem Arbeitsunfall durchgehend die normale Arbeitszeit gearbeitet hat, aber deshalb in seinem Arbeitseinkommen Verluste hat hinnehmen müssen, weil er etwa aus strukturellen oder konjunkturellen Gründen in dieser Zeit nur weniger gut bezahlte Tätigkeiten erhalten konnte, als in früheren Jahren. Ebensowenig kann sich der Verletzte darauf berufen, daß seine Tätigkeit in anderen Regionen des Arbeitsmarktes wesentlich besser bezahlt worden wäre. Denn der für seinen JAV maßgebliche Lebensstandard ergibt sich grundsätzlich aus der Summe seiner Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen im Jahr vor dem Unfall und wird nur ausnahmsweise dann um fingierte Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen erhöht, wenn in das Jahr vor dem Unfall Zeiten ohne Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen fallen. Nur soweit in dem für die Feststellung des JAV heranzuziehenden Zeitfaktor Ausfälle eingetreten sind, werden sie nach § 571 Abs 1 Satz 2 oder Satz 3 RVO ausgeglichen, nicht aber soweit es sich um Ausfälle im Verdienstfaktor, also in der Höhe des Arbeitsentgelts für die volle Arbeitszeit handelt. Für solche Fälle hat der Gesetzgeber Ausgleichsregelungen nur in begrenztem Umfang vorgesehen, so etwa in § 573 für Verletzte, die zZ des Arbeitsunfalls noch in einer Ausbildung standen oder in § 576 RVO für Zeitsoldaten und Wehrpflichtige. Davon abgesehen ist in der Tat der Ausgleich strukturell oder konjunkturell bedingter Einkommensschwankungen und ebenso der Ausgleich regionaler Unterschiede nicht vorgesehen. Ist jedoch - wie hier - für bestimmte Zeiten im Ablauf des dem Unfall vorangegangenen Jahres kein Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen bezogen worden, so greift die Regelung des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO grundsätzlich ohne Rücksicht darauf ein, wie es zu diesen Zeiten ohne Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen gekommen ist. Es ist zwar richtig, daß das Kurzarbeitergeld wirtschaftspolitisch dazu dient, den Betrieben die eingearbeiteten Kräfte zu erhalten und kurzfristige konjunkturelle Schwankungen auszugleichen sowie durch die wirtschaftliche Entwicklung verursachte Strukturveränderungen in den Betrieben zu überbrücken (vgl BT-Drucks V/2291 S 55 zu 5a); die gleichen kurzfristigen konjunkturellen Schwankungen und betrieblichen Strukturveränderungen können aber auch zu einem im zeitlichen Umfang gleichen Ausfall an Arbeitseinkommen durch Arbeitslosigkeit führen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es sachlich nicht gerechtfertigt, sondern vielmehr mit einer gleichmäßigen Behandlung aller Verletzten nicht vereinbar und deshalb willkürlich, wenn der JAV in Fällen der Arbeitslosigkeit nach § 571 Abs 1 Satz 2 und 3 RVO berechnet würde, nicht aber in Fällen der Kurzarbeit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1980, 276

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