Beteiligte
1. 2. Kläger und Revisionsbeklagte |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Kläger von ihren Ämtern als Organmitglieder der beklagten Kasse entbunden werden durften, weil die gegen sie gerichteten Amtsenthebungsbeschlüsse, die sich auf die vorige Amtsdauer bezogen, nunmehr unanfechtbar geworden sind.
Am 31. Januar 1974 beschloß der Vorstand der Beklagten, die Kläger ihrer Ämter als Vorstandsmitglieder wegen groben Verstoßes gegen ihre Amtspflichten zu entheben (§ 6 Abs. 4 Satz 3 des Selbstverwaltungsgesetzes - SVwG - i.d.F. vom 23. August 1967 - BGBl. I 918 -). In dem Klageverfahren gegen diese Amtsenthebungsbeschlüsse erklärten die Kläger mit Schreiben vom 4. November 1974 die Hauptsache für erledigt, weil aufgrund der im Mai 1974 durchgeführten Sozialwahlen ein neuer Vorstand berufen worden sei.
Aufgrund dieser Sozialwahlen wurde der Kläger E. wiederum in den Vorstand, der Kläger L. in die Vertreterversammlung gewählt. Am 20. Dezember 1974 beschloß der Vorstand der Beklagten, die Kläger nach § 6 Abs. 4 Satz 1 2. Alternative SVwG von ihren Ämtern zu entbinden, weil die Voraussetzungen der Wählbarkeit gemäß § 17 Abs. 2 Ziff. 4 SVwG nachträglich dadurch weggefallen seien, daß die für die vorige Wahlperiode geltende Amtsenthebung unanfechtbar geworden sei.
Mit der gegen diese Beschlüsse gerichteten Klage haben die Kläger geltend gemacht, das gegen die Beschlüsse vom 31. Januar 1974 gerichtete Klageverfahren sei in Wirklichkeit nicht erledigt, weil sich die Beklagte auf diese Beschlüsse berufe. Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat die Klagen gegen die Beschlüsse vom 31. Januar und 20. Dezember 1974 abgewiesen. In dem gegen die Beschlüsse vom 31. Januar 1974 gerichteten Verfahren hat es die Hauptsache für erledigt erklärt (Urteil vom 22. Juli 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil hinsichtlich der Erledigungserklärung bestätigt. Im übrigen hat es das Urteil sowie die Beschlüsse vom 20. Dezember 1974 aufgehoben (Urteil vom 9. Februar 1977).
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 6 Abs. 3, Abs. 4 Satz 3, 17 Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. § 6 Abs. 4 Satz 1 2. Alternative SVwG.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,das Urteil des LSG vom 9. Februar 1977 aufzuheben, soweit es der Klage gegen die Beschlüsse vom 20. Dezember 1974 stattgegeben hat und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 22. Juli 1975 in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Kläger beantragen,die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Im Revisionsverfahren ist nur noch über die Klagen gegen die Amtsentbindungsbeschlüsse vom 20. Dezember 1974 zu entscheiden. In den Vorinstanzen war zwar noch streitig, ob der gegen die Amtsenthebungsbeschlüsse vom 31. Januar 1974 geführte Rechtsstreit erledigt ist. Diese Frage ist aber rechtskräftig entschieden. Das SG hat nämlich durch Urteil festgestellt, daß dieser Rechtsstreit erledigt ist. Das LSG hat das Urteil des SG insoweit bestätigt. Die Revision wendet sich gegen das Urteil des LSG nur, soweit es die Amtsentbindungsbeschlüsse vom 20. Dezember 1974 aufhebt.
Das LSG hat diese Beschlüsse zu Recht aufgehoben.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß der Rechtsstreit im Wege der Anfechtungsklage zu führen ist. Bei dem Streit um die Befugnisse eines kollegialen Selbstverwaltungsorgans gegenüber seinen Mitgliedern handelt es sich zwar um einen sogenannten Organstreit, der sonst regelmäßig mit der Feststellungsklage ausgetragen wird (vgl. Redeker/v. Oertzen, Komm. zur Verwaltungsgerichtsordnung, 6. Aufl., § 43 Anm. 12). Die Einwendungen eines Organmitglieds der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung gegen einen Amtsentbindungs- oder Amtsenthebungsbeschluß sind aber nach der ausdrücklichen Regelung des § 6 Abs. 3 Buchst. d und des Abs. 6 Satz 2 SVwG mit der Anfechtungsklage geltend zu machen. Angefochten sind die Beschlüsse des Vorstandes und nicht die Mitteilungen hierüber an die Kläger. Das LSG hat daher mit Recht unentschieden gelassen, ob die Mitteilungen vom 20. Dezember 1974 über die Beschlüsse von demselben Tag oder erst die Mitteilungen vom 6. Dezember 1976 der Geschäftsordnung des Vorstandes entsprachen.
Die angefochtenen Beschlüsse sind rechtswidrig. Die von der Beklagten behaupteten Voraussetzungen für die Amtsentbindung fehlen in beiden Fällen. Die Beschlüsse sind auf § 6 Abs. 4 Satz 1 2. Alternative i.V.m. § 17 Abs. 2 Nr. 4 SVwG gestützt. Nach § 6 Abs. 4 Satz 1 2. Alternative SVwG hat der Vorstand ein Organmitglied durch Beschluß von seinem Amt zu entbinden, wenn die Voraussetzungen der Wählbarkeit am Tag der Wahlankündigung nicht vorgelegen haben oder nachträglich weggefallen sind. Nach § 17 Abs. 2 Nr. 4 SVwG ist nicht wählbar, "wer seit dem letzten Wahljahr nach § 6 wegen grober Verletzung der Pflicht seines Amtes enthoben worden ist". Da die Wahl im Oktober 1973 angekündigt worden ist und die Amtsentbindungsbeschlüsse im Januar 1974 gefaßt wurden, ist allenfalls denkbar, daß die Wählbarkeit nachträglich weggefallen ist.
Das ist aber nicht zu begründen. Denn die hier wegen grober Pflichtverletzung beschlossenen Amtsenthebungen haben in der Amtszeit, für die sie galten, nicht zur Amtsenthebung führen und durch die Erledigung des hierüber geführten Rechtsstreits auch nicht rückwirkend die Amtsenthebung herbeiführen können.
Nach § 6 Abs. 3 Buchst. d SVwG endet die Mitgliedschaft in einem Organ bei einem Amtsentbindungs- oder Amtsenthebungsbeschluß "mit Eintritt der Unanfechtbarkeit". Diese Vorschrift stellt eine Sonderregelung sowohl hinsichtlich des Beginns wie auch der Wirkung des vorläufigen Rechtsschutzes im Verwaltungsrecht dar. Im Unterschied zum Regelfall (vgl. Redeker/v. Oertzen, a.a.O., § 80 Anm. 3) treten die Wirkungen des Beschlusses nicht mit seinem Erlaß ein. Die Wirkung eines Amtsenthebungsbeschlusses oder eines Amtsentbindungsbeschlusses ist schon aufgeschoben, bevor der Beschluß angefochten ist. Die aufschiebende Wirkung dauert in jedem Fall solange, wie die Klagefrist läuft. Sie wird verlängert, wenn Klage erhoben wird. § 6 Abs. 3 Buchst. d SVwG beantwortet außerdem die sonst im Verfahrensrecht immer noch umstrittene Frage, ob die aufschiebende Wirkung als Wirksamkeitshemmung oder nur als Vollzugshemmung anzusehen ist (vgl. dazu Redeker/v. Oertzen, a.a.O. § 80 Anm. 1; Meyer-Ladewig, Komm. zum SGG, 1977, § 97 Anm. 3 und § 86 Anm. 6; Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., 28. Nachtrag § 97 Anm. 1). Die Wirkung einer Amtsentbindung oder Amtsenthebung tritt nämlich erst ein, wenn der darüber gefaßte Beschluß unanfechtbar ist. Die aufschiebende Wirkung beseitigt die Wirkung, sie verhindert nicht nur den Vollzug.
Die Entscheidung des Gesetzes für die Wirksamkeitshemmungstheorie wird auch durch die Regelung der Kehrseite der aufschiebenden Wirkung, der vorläufigen Invollzugsetzung (§ 6 Abs. 4 Sätze 4 und 5 SVwG), bestätigt. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung - wie hier für kurze Zeit geschehen - läßt nicht die Wirkung des zu vollziehenden Beschlusses eintreten. Sie hat zur Folge, daß das Organmitglied, gegen das sich der Amtsentbindungsbeschluß bzw. der Amtsenthebungsbeschluß richtet, an der "Ausübung seines Amtes verhindert ist" (§ 6 Abs. 4 Satz 5 SVwG). Das bedeutet nicht, daß das Amt entgegen § 6 Abs. 3 Buchst. d SVwG endet, sondern nur, daß der Betroffene sein Amt nicht ausüben kann. Er ist lediglich im Sinne des § 3 Abs. 2 SVwG verhindert (zu dem § 6 SVwG entsprechenden § 59 SGB 4 vgl. Krause, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - § 59 Anm. 5). Die Regelung des vorläufigen Rechtsschutzes im materiellen Recht hat auch zu einer eigenständigen Regelung des Verfahrensrechts geführt: Nach § 97 Abs. 1 Nr. 5 SGG wird die aufschiebende Wirkung durch die Anordnung des sofortigen Vollzugs nicht beseitigt, wie dies nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) allgemein der Fall ist. Die aufschiebende Wirkung und die sofortige Invollzugsetzung bestehen nebeneinander. Daß mit der Formulierung des § 97 Abs. 1 Nr. 5 SGG eine eigenständige Regelung gewollt ist, wird auch durch einen Vergleich mit der Regelung des § 97 Abs. 1 Nr. 4 SGG deutlich, wonach - wie auch in der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit - die aufschiebende Wirkung durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung beseitigt wird.
Die aufschiebende Wirkung ist auch nicht rückwirkend beseitigt worden. Das gilt selbst dann, wenn man die Erledigungserklärung als Klagerücknahme behandeln würde. Die Rücknahme einer Klage, die aufschiebende Wirkung hatte, würde es allenfalls ermöglichen, den angefochtenen Verwaltungsakt als von Anfang an wirksam zu behandeln, wenn die aufschiebende Wirkung lediglich als Vollzugshemmung betrachtet würde. Wird die aufschiebende Wirkung aber - wie es hier das Gesetz verlangt - als Wirksamkeitshemmung beurteilt, wirkt der angefochtene Verwaltungsakt erst mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit für die Zukunft. Der durch einen Verwaltungsakt Belastete wird mit Eintritt der Unanfechtbarkeit nicht so behandelt, als sei die Belastung schon vor der Unanfechtbarkeit eingetreten (vgl. Eyermann/Fröhler, Komm. zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, 7. Aufl., § 80 Rdnr. 4, besonders zu gestaltenden Verwaltungsakten im Beamtenrecht).
Daß die Folgen der Rechtshängigkeit auch durch die Klagerücknahme nicht rückwirkend beseitigt werden, folgt schließlich auch aus § 102 Satz 2 SGG. Hiernach erledigt die Klagerücknahme den Rechtsstreit in der Hauptsache. Hierdurch wird der Unterschied zu § 269 Abs. 3 Satz 1 Zivilprozeßordnung (ZPO) verdeutlicht, wonach bei Klagerücknahme der Rechtsstreit als nicht anhängig geworden anzusehen ist. Im sozialgerichtlichen Verfahren wird auch bei Klagerücknahme der Rechtsstreit erst mit Jetztwirkung (BSGE 23, 147, 151) beendet.
Da die Amtsentbindungsbeschlüsse vom 31. Januar 1974 somit erst nach Beendigung des Klageverfahrens hätten wirksam werden können, zu dieser Zeit aber die Amtsperiode, für die die Beschlüsse galten, bereits kraft Gesetzes abgelaufen war (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 SVwG: 30. September 1974), sind sie gegenstandslos geworden. Sie konnten nicht mehr als Grundlage für ein Amtsentbindungsverfahren dienen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 518677 |
BSGE, 164 |