Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Mai 1979 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) die Sozialversicherungspflichtbeiträge zu entrichten hat, die der Gastwirt K. in den drei Monaten vor Geschäftsaufgabe der Klägerin als Einzugsstelle nicht gezahlt hat.
K. war Pächter der Gaststätte „P.” in D.. In den Jahren 1974 und 1975 geriet er wiederholt in Zahlungsschwierigkeiten. Mehrere Pfändungsversuche blieben erfolglos. Am 16. September 1975 gab er eine Offenbarungsversicherung ab. Seine Verbindlichkeiten gegenüber der Verpächterin, der U.-B. D., beliefen sich schließlich auf über 15.492,– DM. Zum 31. Januar 1975 gab er die Gaststätte auf. Sie wurde am 1. Februar 1975 von einem neuen Pächter weitergeführt. Dieser Pächter übernahm durch Kaufvertrag vom 1. Februar 1975 den Geschäftswert und das Inventar, soweit dieses dem K. gehörte.
Die klagende Kasse konnte den Aufenthalt des K. zunächst nicht ermitteln. Sie beantragte am 23. April 1975 bei der Beklagten, ihr die von K. an sie als Einzugsstelle für die Zeit vom 1. November 1974 bis zum 31. Januar 1975 zu zahlenden Beiträge zur Krankenversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung nach § 141 n Arbeitsförderungsgesetz (AFG) zu erstatten. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil der allein in Betracht kommende Insolvenzfall der offensichtlichen Masseunzulänglichkeit (§§ 141 n iVm 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG) nicht vorliege (Bescheid vom 23. Februar 1976, Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 1977).
Das Sozialgericht Dortmund hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 18. Oktober 1978). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 3. Mai 1979).
Die Beklagte hat die von dem LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG.
Sie meint, ein Pächterwechsel sei keine vollständige Betriebsstillegung im Sinne dieser Vorschrift. Für diesen Begriff sei § 111 Nr. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) maßgebend. Danach sei es keine Betriebsstillegung, wenn nicht zugleich die Betriebsorganisation aufgelöst werde.
Sie beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Mai 1979 und des Sozialgerichts Dortmund vom 18. Oktober 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Nach § 141 n Satz 1 AFG (in der Fassung des Gesetzes vom 17. Juli 1974, BGBl I 1481 und vom 21. Dezember 1974, BGBl I 3656) entrichtet das Arbeitsamt auf Antrag der zuständigen Einzugsstelle Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und zur gesetzlichen Rentenversicherung sowie Beiträge zur BA, die auf Arbeitsentgelte für die letzten die Eröffnung des Konkursverfahrens vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses entfallen und bei Eröffnung des Konkursverfahrens noch nicht entrichtet worden sind. Der Eröffnung des Konkursverfahrens steht bei Anwendung des § 141 n AFG gleich: Die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit im Geltungsbereich dieses Gesetzes, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Konkursverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (§ 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG).
Das LSG hat zutreffend die Voraussetzungen des § 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG bejaht.
Aus den Schulden des Arbeitgebers, den bei ihm geführten erfolglosen Pfändungsversuchen vor und nach dem Pächterwechsel sowie aus der von ihm abgegebenen Offenbarungsversicherung hat das Berufungsgericht geschlossen, daß ein Konkursverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kam. Die Beklagte hat weder die dazu getroffenen tatsächlichen Feststellungen gerügt, noch die hierauf gegründete Rechtsauffassung des LSG beanstandet. Ob die tatsächlichen Feststellungen, an die das Bundessozialgericht (BSG) nach § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gebunden ist, ergeben, daß die Konkurseröffnung offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kam, ist zwar von Amts wegen zu überprüfen. Da es sich aber um die Anwendung eines weitgefaßten unbestimmten Rechtsbegriffs handelt, muß dem Tatsachengericht ein Beurteilungsspielraum eingeräumt werden (BSGE 47, 180), der hier jedenfalls nicht überschritten ist.
Die Beklagte wendet sich in ihrer Revisionsbegründung nur noch gegen die Ansicht des LSG, in dem Pächterwechsel sei die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit iS des § 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG zu sehen. Aber auch diese Ansicht des LSG ist nicht zu beanstanden.
§ 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG sagt zwar nicht ausdrücklich, ob unter der „Beendigung der Betriebstätigkeit” die Beendigung der Tätigkeit des Arbeitgebers oder die Beendigung der Tätigkeit des Betriebs als Organisation zu verstehen ist. Der gesetzliche Wortlaut und der Sinn der Konkursausfallgeld- (Kaug) Versicherung geben aber überzeugende Hinweise darauf, daß Kaug von der Beendigung der betriebsleitenden Tätigkeit des insolventen Arbeitgebers abhängig gemacht worden ist, nicht aber davon, daß der Betrieb nicht mehr in Funktion ist.
§ 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG spricht von der „vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit” und nicht – wie § 111 Nr. 1 BetrVG – von der „Stillegung des ganzen Betriebs”. Schon das weist darauf hin, daß der zu § 111 BetrVG entwickelte Betriebsbegriff entgegen der Meinung der Beklagten nicht auf § 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG übertragen werden kann. Unter der Stillegung eines Betriebes ist schon nach allgemeinem Sprachgebrauch die Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation (BAG in AP Nr. 8 zu § 13 Kündigungsschutzgesetz) zu verstehen. Eine Betriebstätigkeit hingegen kann unabhängig von dem Schicksal des Betriebs beendet werden. Gegen eine Übertragung des Betriebsbegriffs des § 111 Nr. 1 BetrVG auf § 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG spricht auch der unterschiedliche Zweck der beiden Vorschriften. Der Unterabschnitt des BetrVG, den § 111 BetrVG einleitet, hat den Zweck, die Arbeitsplätze und die soziale Stellung der Arbeitnehmer bei geplanten Betriebsänderungen nach Möglichkeit zu sichern (herrschende Meinung, vgl. Fitting/Auffahrt/Kaiser, Kommentar zum BetrVG, 12. Aufl, § 111 Rdnote 1). Die betriebsverfassungsrechtlichen Maßnahmen der §§ 112 f BetrVG werden auf der Grundlage von Veränderungen des Betriebs als solchem durchgeführt. Der Unterabschnitt des AFG, in dem § 141 b die Anspruchsvoraussetzungen formuliert, hat den Zweck, den Arbeitnehmer und die Finanzierung seiner Sozialversicherung (§ 141 n AFG) gegen die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers zu versichern. Der Versicherungsfall tritt ein, wenn der Arbeitgeber nicht mehr in der Lage ist, den Lohn für die Vergangenheit zu zahlen. Diese Entschädigung ist grundsätzlich unabhängig davon, ob der Betrieb, in dem der Arbeitnehmer den Lohn erarbeitet hat, über das Insolvenzereignis hinaus noch fortbesteht.
Hiergegen kann nicht erfolgreich eingewendet werden, daß der Übernehmer eines Betriebes nach § 613 a Abs. 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch auch für rückständigen Lohn aufzukommen hat. Denn nach dieser Vorschrift könnte der neue Pächter für Rückstände nur aus den, wie schon der Wortlaut sagt, „im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen” in Anspruch genommen werden. Kaug ist aber nicht nur denjenigen Arbeitnehmern zu gewähren, deren Arbeitsverhältnis bis zum Insolvenzfall bestanden hat, sondern auch denjenigen, die vor dem Insolvenzfall aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind, aber noch ausstehende Lohnansprüche haben. Das hat das Fünfte Änderungsgesetz vom 23. Juli 1979 (BGBl I 1189) durch die Ergänzung des § 141 b Abs. 2 AFG klargestellt (vgl. BT-Drucks 8/2624 S 30 zu Nr. 48 a). Aber selbst wenn die Beiträge für Arbeitsverhältnisse gefordert werden, die zZt des Pächterwechsels noch bestanden, ist der Anspruch der Klägerin nicht zu bestreiten. Denn die Ansprüche auf Beiträge sind ebenso wie der Anspruch auf Kaug (vgl. Gagel/Jülicher, Kommentar zum AFG, 1979, § 141 a Anm. 11) unabhängig davon, ob neben dem insolvent gewordenen Arbeitgeber noch ein anderer Rechtsträger in Anspruch genommen werden könnte.
Es ist allerdings einzuräumen, daß der Insolvenzfall der offensichtlichen Masseunzulänglichkeit mit größerer Sicherheit festgestellt werden könnte, wenn nicht nur die persönliche betriebliche Tätigkeit des Arbeitgebers, sondern auch die Betriebstätigkeit als solche beendet sein müßte. Gewiß wäre es dann auch schwerer, Kaug mißbräuchlich in Anspruch zu nehmen, wie dies bei einem nach außen nicht in Erscheinung tretenden Wechsel in der Leitung des Betriebes denkbar ist. Diese Möglichkeit rechtfertigt es aber nicht, an den Insolvenzfall des § 141 b Abs. 3 Nr. 2 AFG zu lasten der wirklich insolvent gewordenen Arbeitgeber und der Arbeitnehmer größere Anforderungen zu stellen, als dies dem Wortlaut und dem erkennbaren Sinn des Gesetzes entspricht. Im übrigen ist im vorliegenden Fall nichts festgestellt – und auch nichts vorgetragen –, was auf eine mißbräuchliche Inanspruchnahme der Kaug-Versicherung hindeuten könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen
BSGE, 296 |
Breith. 1982, 347 |