Entscheidungsstichwort (Thema)
Weg von der Arbeitsstätte. kürzeste Strecke. indirekter Weg. innerer Zusammenhang. Entfernung. Umweg. Leichtkraftrad
Orientierungssatz
Angesichts der grundsätzlich freien Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Strecken kann der Zusammenhang iS von § 550 Abs 1 RVO nur verneint werden, wenn der Umweg nicht wesentlich der Zurücklegung des Weges von dem Ort der Tätigkeit dient, sondern wenn für die Wahl des weiteren Weges Gründe maßgebend waren, die allein oder überwiegend dem privaten Lebensbereich des Versicherten zuzurechnen sind (vgl BSG 22.1.1957 2 RU 92/55 = BSGE 4, 219). Die Längenunterschiede zwischen dem direkten und dem eingeschlagenen Weg können vor allem bei relativ kurzen Wegstrecken besonders groß sein, ohne daß Unfallversicherungsschutz schon aus diesem Grunde zu verneinen ist. Eine schematische Betrachtung ist bezüglich der Verhältnisse der Wegstrecken nicht zulässig. Entscheidend ist, ob der Versicherte der Auffassung sein konnte, der gewählte Weg sei für ihn und insbesondere sein Verkehrsmittel insgesamt mit geringeren, vor allem weniger größeren Gefahren verbunden.
Normenkette
RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 29.01.1985; Aktenzeichen L 3 U 145/84) |
SG Landshut (Entscheidung vom 29.02.1984; Aktenzeichen S 8 U 98/83) |
Tatbestand
Der Kläger wendet sich mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision (Beschluß vom 26. Juni 1985) gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 29. Januar 1985, durch welches sein auf die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gerichtetes Begehren - ebenso wie zuvor durch Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 29. Februar 1984 - mit der Begründung abgewiesen worden ist, er habe am 9. Juni 1982 keinen Arbeitsunfall erlitten.
Der Kläger war im Unfallzeitpunkt Auszubildender. Für die Fahrt zur Ausbildungsstätte und zurück - kürzeste Wegestrecke: 3 km - benutzte er gewöhnlich sein Leichtkraftrad. Er befuhr zumeist einen um mehrere km - genauere Feststellungen hat das LSG nicht getroffen - längeren Weg, weil dieser - nach den Einlassungen des Klägers - nicht so stark befahren und weniger gefährlich war. Der Bürgermeister der zuständigen Stadt führt in seiner Bescheinigung vom 26. Juni 1984, welche Gegenstand des Berufungsverfahrens war, ua aus, daß gerade Leichtmotorräder mit Vorliebe die auch vom Kläger gewöhnlich ausgewählte längere Strecke befahren; sie sei eine Alternative für den kürzesten Weg.
Durch ihren Bescheid vom 27. Januar 1983 lehnte die Beklagte es ab, wegen des Unfalles des Klägers am 9. Juni 1982, bei welchem er erheblich verletzt wurde, Leistungen zu erbringen, weil der Kläger vom direkten bzw verkehrsgünstigsten Heimweg erheblich abgewichen sei; auf den gewählten Weg habe er sich zunächst sogar von seiner Wohnung entfernt.
Die Klagabweisung durch das SG erfolgte nach umfangreicher Beweisaufnahme. Die vom Kläger ausgesuchte Wegstrecke sei 7,7 km lang. Er habe sie ohne eigenwirtschaftliche Beweggründe in der alleinigen Absicht gewählt, vom Arbeitsort nach Hause zu gelangen. Die Annahme des Klägers, die befahrene Strecke sei angesichts des benutzten Verkehrsmittels verkehrsgünstiger, treffe infolge der bei der Augenscheinseinnahme genommenen Erkenntnisse jedoch nicht zu. Selbst wenn die Annahme des Klägers richtig gewesen wäre, so sei Versicherungsschutz bereits wegen der Länge der ausgewählten Strecke zu verneinen.
In dem Urteil des LSG heißt es ua, auf die Länge der zu vergleichenden Wegstrecken komme es allein nicht an. Jedoch zeige ein kartenmäßiger Vergleich der kürzesten mit der gewählten Wegstrecke, daß die Einlassung des Klägers nicht überzeugend sei; der befahrene längere Weg weise weit erheblichere Gefahrenquellen und Unfallrisiken auf, wie schließlich der Unfall des Klägers zeige. Der Kläger habe diesen gefährlicheren Weg ausgewählt, um beim Befahren bereits mit der abendlichen Erholung zu beginnen.
Die Revision vertritt die Auffassung, das LSG habe seine Schlüsse nicht aus der vom SG durchgeführten Augenscheinseinnahme ziehen dürfen. Im übrigen sei auf die persönlichen Momente beim Versicherten abzustellen. In diesem Zusammenhang sei wichtig, daß der Kläger gewöhnlich den längeren Weg benutzt habe.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 1985, das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 29. Februar 1984 und den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 1983 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger wegen seines Unfalles am 9. Juni 1982 Leistungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Überzeugung trifft zu, daß die befahrene Strecke aus der Schau eines verständigen Verkehrsteilnehmers keineswegs verkehrsgünstiger war. Zu Lasten der Versichertengemeinschaft dürfe ein um so vieles längerer Weg nicht ohne objektiv günstigere Verkehrsverhältnisse gewählt werden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet; der erkennende Senat vermag infolge unzureichender Feststellungen in dem angefochtenen Urteil nicht zu entscheiden, ob der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Nach § 550 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gilt ua ein Unfall auf einem mit dem Lehrverhältnis zusammenhängenden Weg von dem Ort der Tätigkeit als Arbeitsunfall. Auf einem solchen Weg befand der Kläger sich, als er am 9. Juni 1982 seinen Lehrbetrieb verließ, um nach Hause zu fahren. Dadurch, daß der Gesetzgeber einen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit und dem Weg von dem Ort der Tätigkeit verlangt, fordert er eine feststellbare innere Verknüpfung, die dem Weg ein rechtlich erhebliches Gepräge gibt. Fehlt es an einem solchen Zusammenhang, scheidet die Annahme eines versicherten Unfalles von vornherein selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte gewöhnlich benutzen muß (BSG SozR 2200 § 550 Nrn 34 und 60; s ferner BSGE 58, 76 = SozR 2200 § 548 Nr 70).
Der in diesem Rechtsstreit in erster Linie umstrittene innere Zusammenhang zwischen der Ausbildungstätigkeit des Klägers und dem zurückgelegten Heimweg ist regelmäßig dann gegeben, wenn ein Versicherter angesichts des ausgewählten Fortbewegungsmittels (BSGE 4, 219, 222) den direkten Weg zwischen den beiden Punkten, hier: der Arbeitsstätte und der häuslichen Wohnung, nimmt. Wählt er nicht die kürzeste Verbindung zwischen den beiden Orten, kommt es darauf an, ob nach den Umständen des Einzelfalles auch für den weiteren Weg dieser Zusammenhang gegeben ist (aA Benz, BB 1979, 943, 944, 947). Diese rechtlichen Verhältnisse haben SG und LSG nicht übersehen. Das SG hat jedoch im Widerspruch hierzu die Entscheidung der Rechtssache letztlich ausschließlich entsprechend dem Ergebnis des Vergleichs der Länge der kürzesten und der zurückgelegten Wegstrecke entschieden. Das widerspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Danach kann angesichts der von niemanden in Abrede gestellten grundsätzlich freien Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Strecken der Zusammenhang iS von § 550 Abs 1 RVO nur verneint werden, wenn der Umweg nicht wesentlich der Zurücklegung des Weges von dem Ort der Tätigkeit dient, sondern wenn für die Wahl des weiteren Weges Gründe maßgebend waren, die allein oder überwiegend dem privaten Lebensbereich des Versicherten zuzurechnen sind (s BSGE 4, 219, 222 und die ständige Rechtsprechung des BSG, zusammengestellt bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 486 m I und II). Der erkennende Senat hat beispielsweise Unfallversicherungsschutz auf einem Weg, der viermal so lang war wie die kürzeste Verbindung, nicht von vornherein abgelehnt (BSG SozR § 543 RVO aF Nr 42) und diesen Schutz auf einem anderen Weg bejaht, welcher mehr als doppelt so lang war wie der kürzeste (SozSich 1976, 210; s auch BSG SozR 2200 § 550 Nr 34 und Urteil vom 30. März 1982 - 2 RU 5/81 -). Die Längenunterschiede zwischen dem direkten und dem eingeschlagenen Weg können vor allem bei relativ kurzen Wegstrecken besonders groß sein, ohne daß Unfallversicherungsschutz schon aus diesem Grunde zu verneinen ist. Eine schematische Betrachtung, wie sie das SG angestellt hat, ist bzgl der Verhältnisse der Wegstrecken nicht zulässig (aA Benz aa0).
Das LSG hat diese Zusammenhänge ebenfalls nicht genügend beachtet und die vorhandenen Beweisanzeichen unzureichend und nicht frei von Widersprüchen ausgewertet. Es hat seiner Entscheidung die Annahme zugrunde gelegt, der übliche und daher geschützte Weg iS von § 550 RVO sei in der Regel der kürzeste Weg (S 5). Schon diese Annahme vermag der erkennende Senat nicht zu teilen. Sie läßt beispielsweise die Wahl des Verkehrsmittels, die Gefährlichkeit oder relative Gefahrlosigkeit von Strecken oder Streckenabschnitten, das Fahrvermögen des Versicherten bzw seine etwaige Furcht vor bestimmten Straßenarten oder -führungen völlig außer Betracht. Sie führt zu einer Streckenauswahl ohne Rücksicht auf anerkennenswerte Belange des einzelnen Versicherten und widerspricht daher bereits im Ansatz der Freiheit der Versicherten, die Strecke für den Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit nach anerkennenswerten Bedürfnissen frei zu wählen. Dabei wählen nach der sogenannten Bestätigung der Stadt A. vom 26. Juni 1984 beispielsweise Fahrer von Leichtmotorrädern im dortigen Bereich den Weg von der Arbeitsstätte unter Gesichtspunkten, welche weitgehend fahrzeugbestimmt sind. Dieser Bescheinigung mußte das LSG ferner entnehmen, daß die vom Kläger ausgewählte Strecke allgemein als für Leichtmotorräder und Fahranfänger besonders empfehlenswert angesehen wird. Danach kann das inhaltsgleiche Vorbringen des Klägers nicht als objektiv nicht gestützt und zweckgerichtete Behauptung gewertet werden.
Die vom LSG durch Karteneinsicht gewonnene Erkenntnis, der vom Kläger befahrene Weg enthalte "weit erheblichere Gefahrenquellen" als der kürzeste Weg über die Straubinger Straße (S 7), entspricht nicht den durch Augenscheinseinnahme genommenen Feststellungen des SG. Sie widerspricht auch der anderen Annahme des LSG, der Kläger habe den längeren Heimweg gewählt, "um dabei bereits mit der abendlichen Erholung zu beginnen." Im übrigen enthalten die Ausführungen im wesentlichen Hinweise darauf, daß auch der vom Kläger gewählte Weg nicht ohne Verkehrsgefahren war. Entscheidend ist jedoch, ob der Kläger der Auffassung sein konnte, dieser Weg sei für ihn und insbesondere sein Verkehrsmittel insgesamt mit geringeren, vor allem weniger größeren Gefahren verbunden.
Die in dem angefochtenen Urteil enthaltenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung der Frage nicht aus, ob für die Wahl der Strecke durch den Kläger am Unfalltage Gründe maßgebend waren, die allein oder überwiegend seinem privaten Lebensbereich zuzurechnen sind. Die Rechtssache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Erstattung der in der Revisionsinstanz entstandenen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu entscheiden hat.
Fundstellen