Leitsatz (amtlich)
1. Der Antrag auf Arbeitslosenunterstützung und Arbeitslosenfürsorgeunterstützung bezieht sich nicht nur auf die Hauptunterstützung, sondern umfaßt auch die Familienzuschläge (AVAVG § 103 Abs 1). Das Arbeitsamt hat diese, auch wenn sie nicht besonders begehrt werden, mit festzusetzen, sobald es aus den Unterlagen erkennt oder erkennen muß, daß zuschlagsberechtigte Angehörige vorhanden sind. Unterläßt das Arbeitsamt die Festsetzung, so lehnt es damit den Antrag auf Arbeitslosenunterstützung teilweise ab.
2. Hat ein Arbeitsloser in dem Vordruck, mit dem er die Arbeitslosenunterstützung beantragt, die Frage, ob beziehungsweise für welche Angehörige Familienzuschläge begehrt werden, nicht beantwortet oder sogar verneint, so ist daraus regelmäßig noch nicht zu schließen, daß er auf Familienzuschläge verzichten will. Im übrigen bleibt dahingestellt, ob ein solcher Verzicht wirksam wäre.
3. Zur wirksamen Rechtsmittelbelehrung gegenüber Verwaltungsakten des Arbeitsamts reicht die bloße Aushändigung eines allgemeinen Merkblattes nicht aus. Die Rechtsmittelfrist wird vielmehr nur in Lauf gesetzt, wenn die Belehrung auf den Einzelfall abgestellt ist.
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Revisionsbeklagter, der keine Behörde usw ist, fällt nicht unter SGG § 166 Abs 1.
2. Die Frage, ob ein Familienzuschlag zusteht, ist kein Streit über die Höhe der Unterstützung.
Normenkette
AVAVG § 103 Abs. 1; AVAVG 1927 § 103 Abs. 1; AVAVG § 178; AVAVG 1927 § 178; SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 166 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 147 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. August 1955 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte wurde am 9. Januar 1951 rechtskräftig geschieden; ihr steht das Sorgerecht für den 1942 in der Ehe geborenen Sohn Jürgen zu. Am 12.Januar 1951 beantragte sie beim Arbeitsamt Kassel Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). In dem Antragsvordruck führte sie den Sohn als im gemeinsamen Haushalt lebend auf, beantwortete aber die Frage "Für welche Angehörigen beantragen Sie Familienzuschläge?" mit "keine". Das Arbeitsamt bewilligte ihr die Alfu ohne Familienzuschlag. Auch in den halbjährlichen Weiterbewilligungsanträgen war der Sohn erwähnt, der Raum hinter der obigen Frage aber entweder nicht oder durch einen Strich oder durch die Worte "nein" bzw. "keine" ausgefüllt. Deshalb wurde ihr auch in der Folgezeit kein Familienzuschlag bewilligt. Erst am 27. November 1954 beantragte die Klägerin neben der Weiterzahlung der Alfu auch Familienzuschlag für den Sohn, da ihr früherer Ehemann nur 45 DM monatlich zahle und sie infolgedessen überwiegend für den Unterhalt des Kindes aufkommen müsse. Durch Verfügung des Arbeitsamts vom 2. Dezember wurde die Alfu weiterbewilligt und der Zuschlag für den Sohn genehmigt. In einer Eingabe vom 8. Dezember erklärte die Klägerin nunmehr, sie sei in der Vergangenheit nie darüber aufgeklärt worden, daß ihr schon früher der Familienzuschlag zugestanden habe. Oft genug habe sie beim Arbeitsamt nachgefragt, ob die Unterstützung auch richtig berechnet sei; immer habe man sie beschwichtigt. Auf diese Eingabe bewilligte das Arbeitsamt mit Verfügung vom 6. Januar 1955 den Familienzuschlag rückwirkend für drei Monate vom 27. August 1954 ab. Die Klägerin erhob Widerspruch und verlangte Zahlung für die gesamte rückliegende Zeit. Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 14. März 1955 zurückgewiesen.
II. Auf Klage sprach das Sozialgericht Kassel mit Urteil vom 16. Mai 1955 unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides den Familienzuschlag vom 19. Januar 1951 ab zu. Die Berufung der Bundesanstalt hatte keinen Erfolg. In seinem Urteil vom 24.August 1955 führte das Hessische Landessozialgericht aus, der Familienzuschlag sei Bestandteil der Arbeitslosenunterstützung (Alu), so daß der Unterstützungsantrag den Familienzuschlag mitumfasse. Die Bundesanstalt habe Kenntnis davon gehabt, daß der Sohn Jürgen mit der Klägerin in gemeinsamem Haushalt lebte, und deshalb den Familienzuschlag mitbewilligen müssen. Einen rechtswirksamen Verzicht auf einen Teil der Unterstützung gebe es nicht. Mit ihrer Eingabe vom 8. Dezember 1954 habe die Klägerin auch die früheren Bescheide angreifen wollen; diese seien noch nicht rechtskräftig gewesen, da die Klägerin über die ihr zustehenden Rechtsbehelfe nicht ordnungsmäßig belehrt worden sei.
Revision wurde zugelassen.
III. Das Urteil ist der beklagten Bundesanstalt am 18.Oktober 1955 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 15.November 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 17. November - hat sie Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts die Klage abzuweisen.
Durch Schriftsatz vom 13. Dezember 1955 - eingegangen am 15. Dezember - wurde die Revision begründet und Verletzung der §§ 66, 77, 84 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 178 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in Verbindung mit § 224 Abs. 3 Nr. 5 SGG gerügt. Im einzelnen wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.
Die Bundesanstalt geht davon aus, daß die Klägerin den Familienzuschlag nicht beantragt habe und über die Nichtbewilligung des Zuschlages durch die erste Auszahlung der Unterstützung unterrichtet gewesen sei. Im übrigen habe sie bei der Arbeitslosmeldung das übliche Merkblatt erhalten und in jedem Weiterbewilligungsantrage den Empfang erneut bestätigt, so daß sie den ihr zustehenden Rechtsbehelf kannte. Da sie davon keinen Gebrauch gemacht habe, seien vor dem 1. Januar 1954 die Verwaltungsakte nach § 178 AVAVG formell rechtskräftig geworden. Seither seien sie nach § 77 SGG bindend. Die Klägerin habe überhaupt erst unter dem 3. Februar 1955 Widerspruch erhoben, nicht dagegen, wie das Landessozialgericht annehme, schon mit ihren Eingaben vom 27. November und 8. Dezember 1954. Eine Bewilligung des Familienzuschlags für die Vergangenheit sei deshalb nicht möglich.
Die Klägerin hat auf die ihr zugestellte Revision und Revisionsbegründung nicht geantwortet.
IV. Die Revision ist zulässig, konnte aber keinen Erfolg haben.
Was zunächst die formelle Seite betrifft, so war die Klägerin vor dem Bundessozialgericht zwar nicht nach der Vorschrift des § 166 SGG durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten. Hätte sie sich in der Rolle des Revisionsklägers befunden, so hätte diese Unterlassung zur Verwerfung der Revision führen müssen; denn die Revision wäre nicht in der gesetzlichen Form eingelegt gewesen (§ 169 Satz 1 SGG). Für den Revisionsbeklagten sieht das Gesetz eine ähnliche Folge jedoch nicht vor. Ein Revisionsbeklagter, der nicht Behörde oder Körperschaft bezw. Anstalt des öffentlichen Rechtes ist, hat lediglich den Nachteil, daß er persönlich vor dem Bundessozialgericht mit seinem Vorbringen nicht gehört werden kann.
Zu prüfen war weiter, ob seinerzeit die Berufung zulässig gewesen ist. Als Hinderungsgrund kommt § 147 SGG in Betracht. Danach können in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, die Beginn oder Höhe der Unterstützung betreffen. Die Frage ob ein Familienzuschlag zusteht, ist kein Streit über die Höhe der Unterstützung; es geht um die Substanz des Anspruchs. Der Familienzuschlag ist überdies kein bloßer Erhöhungsbetrag zur Hauptunterstützung, sondern Bestandteil der Gesamtunterstützung, deren Substanz damit ebenfalls berührt wird; denn § 103 Abs. 1 AVAVG besagt, daß die Alu aus der Hauptunterstützung und den Familienzuschlägen für Angehörige "besteht". Auch die Bezeichnung "Hauptunterstützung" weist in die gleiche Richtung. Die Berufung war infolgedessen zulässig, ohne daß es noch darauf ankommt, ob sie es auch deswegen war, weil § 147 SGG sich angesichts seines Wortlauts etwa nur auf Angelegenheiten der eigentlichen "Arbeitslosenversicherung", nicht auch auf die "Arbeitslosenfürsorge" bezieht.
V. Materiell-rechtlich konnte die Revision keinen Erfolg haben. Streitig ist, ob der Klägerin der an sich gerechtfertigte Familienzuschlag für ihren Sohn deshalb nicht zustand, weil sie den Zuschlag nicht beantragt bzw. die Frage nach dem Zuschlag in dem Antragsvordruck nicht positiv beantwortet hatte. Sie brauchte das aber nicht. Wie schon dargelegt, ist der Familienzuschlag Bestandteil der Gesamtunterstützung. Ein solcher Bestandteil braucht bzw. kann nicht gesondert beantragt werden; vielmehr ist ohne weiteres mit dem Unterstützungsantrage der Familienzuschlag mitbeansprucht. Wenn in Antragsvordrucken der Arbeitsämter trotzdem danach gefragt wird, ob Familienzuschläge beantragt werden und für welche Familienangehörigen, so hat das nur die Bedeutung, daß zur leichteren Klärung des Sachverhalts die Mithilfe der Antragsteller gefordert wird, zumal deren Angaben zu der im Antragsvordruck ebenfalls enthaltenen Frage nach den im Haushalt lebenden Familienmitgliedern bisweilen unvollständig oder unklar sind. Die das Bewilligungsverfahren beherrschende Offizialmaxime verpflichtet das Arbeitsamt, allen Anhaltspunkten in den Angaben des Antragstellers von Amts wegen nachzugehen, so daß auch im vorliegenden Falle die Frage des Familienzuschlages hätte untersucht und bejaht werden müssen.
VI. Nun hat die Klägerin allerdings den Familienzuschlag nicht nur nicht beantragt, sondern die Frage nach dem Familienzuschlag in einigen Anträgen sogar verneint. Trotzdem hat sie sich ihres Rechts nicht begeben. Dahingestellt bleiben kann, ob ein Verzicht auf den Familienzuschlag bzw. auf die Alu zulässig ist. Aus dem Tatbestand des Berufungsurteils, der für das Bundessozialgericht verbindlich ist (§ 163 SGG), kann die Absicht eines Verzichts jedenfalls nicht hergeleitet werden. Sobald die Klägerin erfuhr, daß ihr der Familienzuschlag zustand, nahm sie ihn auch in Anspruch, und zwar nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die gesamte Vergangenheit. Aus diesem Verhalten ist zu schließen, daß sie sich in dem Vordruck nicht zurecht gefunden hatte, was bei dessen Umfang und Schwierigkeit nicht verwunderlich ist. Es wäre Aufgabe des Arbeitsamts gewesen, die Antragstellerin zu fragen, ob sie tatsächlich den Familienzuschlag nicht begehre; die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Das Arbeitsamt ist nicht berechtigt oder gar verpflichtet, die Unkenntnis oder mangelnde Gewandtheit mancher Arbeitslosen zu Einsparungen zu benutzen. Insbesondere der Sozialgesetzgeber erwartet vielmehr, daß Leistungen, die dem geschützten Personenkreise zustehen, auch gewährt werden.
VII. Zu untersuchen bleibt, für welchen Zeitraum rückwärts die Klägerin den Familienzuschlag verlangen kann. Ausdrücklich geltend gemacht hat sie den Anspruch erst am 27.November bzw. 8. Dezember 1954. Die Bundesanstalt wendet ein, die Klägerin sei dadurch, daß die Alfu ohne den Familienzuschlag ausgezahlt wurde, über dessen Fehlen informiert worden. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, gegen die Nichtbewilligung gemäß § 178 AVAVG binnen zwei Wochen Einspruch bzw. seit dem 1.Januar 1954 gemäß § 84 SGG binnen eines Monats Widerspruch einzulegen. Da sie das nicht getan habe, sei die Nichtbewilligung in Rechtskraft erwachsen.
Diese Auffassung ist irrig. Rechtskraft hätte nur eintreten können, wenn die Einspruchs- bzw. Widerspruchsfrist gegenüber der Entscheidung des Arbeitsamts abgelaufen gewesen wäre. Denn es hat an der Rechtsmittelbelehrung gefehlt, die durch § 178 Abs. 3 AVAVG vorgeschrieben war und seit dessen Aufhebung ab 1. Januar 1954 (vgl. § 224 Abs. 3 Nr. 5 SGG) aus allgemeinen Gedankengängen des Verwaltungsrechts und im Wege der Analogie aus § 66 SGG zu folgern ist, zumal sie künftig wieder unmittelbar im AVAVG enthalten sein wird, nämlich in § 172 in der Fassung der dem Bundestage vorliegenden Novelle zum AVAVG (vgl. Deutscher Bundestag, 2.Wahlperiode 1953, Drucksache 1274). Die Rechtsmittelbelehrung war notwendig, weil die Nichtbewilligung des zur Alfu gehörigen Familienzuschlages eine Teilablehnung der Alfu darstellt. Die Bundesanstalt meint, die Belehrung sei durch das ausgehändigte Merkblatt erfolgt. Ein derartiges allgemeines Merkblatt ist jedoch, selbst wenn es kürzer, einfacher und klarer als das meist bei den Arbeitsämtern verwandte wäre, - insofern vermag sich der Senat der Auffassung des Reichsversicherungsamts in dessen grunds . Entscheidung 3328 vom 7. November 1928 (AN 1929 S. 25) nicht anzuschließen - dafür nicht geeignet, weil es den Arbeitslosen nicht genügend über die jeweils gerade für ihn persönlich bestehende tatsächliche und rechtliche Lage aufklärt. Das kann in dem vom Gesetz gewünschten Maße nur durch eine auf den Einzelfall abgestellte Unterrichtung geschehen.
Dazu ist zweierlei erforderlich. Zunächst muß der Arbeitslose erkennen können, daß die Unterstützung überhaupt ganz oder zum Teil abgelehnt ist. Schon daran mangelt es bei der Klägerin. Mag ein Arbeitsloser, der einen Familienzuschlag ausdrücklich beantragt hat und deshalb die Bewilligung prüfend verfolgt, aus dem Tabellensatz - bei Alfu kommen die Anrechnungsbestimmungen (Bedürftigkeitsprüfung) hinzu - noch ersehen können, daß ihm der Familienzuschlag versagt worden ist, die Klägerin, die mit dem Zuschlag gar nicht rechnete, konnte es jedenfalls nicht; sie hätte darauf aufmerksam gemacht werden müssen. Zum zweiten muß eine ordnungsmäßige Belehrung dem Arbeitslosen zeigen, daß der einzelne Ablehnungssachverhalt ihn zum Einspruch bzw. Widerspruch berechtigt. Dieser Hinweis mußte laut § 178 AVAVG sogar "in" der Entscheidung des Arbeitsamts enthalten sein. Am besten wird ein schriftlicher Ablehnungsbescheid erteilt, wobei es zur Herstellung des Zusammenhanges genügt, wenn der Rechtsbehelf deutlich bezeichnet und wegen der näheren Einzelheiten auf das ausgehändigte Merkblatt verwiesen wird. Ausreichend wäre auch, wenn der Arbeitslose im ersten Auszahlungstermin der Unterstützung über die Ablehnung und über den Rechtsbehelf ausdrücklich informiert wird, evtl. zur beschleunigten Abfertigung unter Bezug auf genauere Angaben in dem Merkblatt. Die bloße Auszahlung der Unterstützung ohne den Familienzuschlag genügt jedenfalls nicht; auch hierin konnte der Senat dem Reichsversicherungsamt nicht folgen (vgl. dessen grunds . Entscheidung 4555 vom 2.Dezember 1932 - AN 1933 S. 58).
Unter diesen Umständen wurde die Einspruchsfrist des § 178 AVAVG nicht in Lauf gesetzt, und die Widerspruchsfrist des § 84 SGG verlängerte sich vermöge der erwähnten analogen Anwendung des § 66 Abs.2 SGG auf ein Jahr. Letztere aber lief im Jahre 1954 keinesfalls ab, so daß die Anträge vom 27.November bzw. 8.Dezember, in denen zugleich lag, daß die Klägerin die Haltung des Arbeitsamts in der Vergangenheit beanstandete, noch rechtzeitig kamen, um als Widerspruch gewertet zu werden. Rechtskraft war infolgedessen nicht eingetreten und der Anspruch auf den Familienzuschlag für die gesamte rückliegende Unterstützungszeit gerechtfertigt. Der Anspruch war auch nicht etwa verjährt; dies hätte nach § 29 Abs. 3 RVO, der insoweit analog anwendbar ist, erst vier Jahre nach der Fälligkeit geschehen können, also frühestens im Jahre 1955.
VIII. Nach allem war die Revision der beklagten Bundesanstalt zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 926623 |
NJW 1957, 358 |