Leitsatz (redaktionell)

1. Der Ausdruck "besondere Umstände" in BVG § 38 Abs 2 stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar; ob die Versorgungsbehörde insoweit die Grenzen des vom Gesetz eingeräumten Beurteilungsspielraums zutreffend erkannt hat, unterliegt der richterlichen Nachprüfung.

2. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 % reicht nach BVG § 41 Abs 2 aus, um Erwerbsunfähigkeit der Witwe iS des Versorgungsrechts zu bejahen.

 

Normenkette

BVG § 38 Abs. 2 Fassung: 1960-06-27, § 41 Abs. 2

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 1963 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Mit Bescheid vom 3. Februar 1958 wurde der Antrag der Klägerin auf Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) abgelehnt, weil sie weniger als ein Jahr, nämlich erst seit dem 14. Juni 1957 mit ihrem am 14. Juli 1957 verstorbenen Ehemann (F.) verheiratet gewesen sei und besondere Umstände durch die eine Rentengewährung gerechtfertigt wäre, nicht vorlägen. Der Widerspruch blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen, da besondere Umstände im Sinne des § 38 Abs. 2 BVG vorlägen. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 24. Oktober 1963 das SG-Urteil auf und wies die Klage ab; die Revision wurde zugelassen. Die Witwenversorgung sei aus zutreffenden Gründen versagt worden. Da die Klägerin mit F. nur einen Monat verheiratet gewesen sei, habe sie keinen Rechtsanspruch auf Witwenrente. Die Klägerin habe mit der Eheschließung nicht ihre wirtschaftliche Existenz aufgegeben. Sie habe vor der Eheschließung von ihrem späteren Ehemann für Vermietung eines möblierten Zimmers und Pflege lediglich 140.- DM erhalten, nachher aber einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch erworben; auch sei sie erbberechtigt geworden. Die Klägerin sei auch nicht erwerbsunfähig im Sinne des Versorgungsrecht d. h. es fehle an der Voraussetzung, daß sie durch Krankheit oder andere Gebrechen nicht nur vorübergehend wenigstens die Hälfte ihrer Erwerbsfähigkeit verloren habe. Dabei habe die Versorgungsbehörde auf den Zeitpunkt des Todes des F. abstellen können. Denn auch nach § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG müsse die Rente im Zeitpunkt des Todes zuerkannt gewesen sein. Die Hinterbliebenenrente sei dazu bestimmt, den Verlust des Ernährers auszugleichen bzw. zu mildern. Nach den Gutachten, vor allem des Oberarztes Dr. K, sei die Beurteilung des versorgungsärztlichen Gutachtens vom 15. Januar 1958 zutreffend; nach dem Gutachten des Dr. L von diesem Tage sei auch damals noch keine Erwerbsunfähigkeit festzustellen gewesen.

Die Revision rügt Verletzung des § 38 Abs. 2, 2. Halbsatz BVG sowie der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG hätte einen Verlust der Existenzgrundlage der Klägerin durch die Eheschließung und Erwerbsunfähigkeit annehmen müssen. Der früher von F. gezahlte Betrag von 140,- DM sei durch die Heirat entfallen. Dieser Verlust müsse unabhängig von dem erworbenen gesetzlichen Unterhaltsanspruch und der Erbberechtigung der Aufgabe der wirtschaftlichen Existenz gleichgeachtet werden. Die gegenteilige Auffassung des LSG verstoße gegen die Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze. Zu Unrecht fordere das LSG auch, daß der Verlust der Hälfte der Erwerbsfähigkeit der Klägerin zum Zeitpunkt des Todes des F. vorgelegen haben müsse; hierdurch werde die Vorschrift des § 38 Abs. 2, 2. Halbsatz BVG in unzulässiger Weise eingeengt. Unabhängig hiervon sei die Klägerin aber auch im Zeitpunkt des Todes des F. im Juli 1957 erwerbsunfähig im versorgungsrechtlichen Sinne gewesen, da nach den Bekundungen des Dr. D und des Dr. K eine MdE um 50 v. H. bestanden habe. Zu Unrecht habe sich das LSG insoweit auf das unschlüssige und widerspruchsvolle Gutachten des Dr. K vom 6. August 1963 gestützt. Dr. K bringe nicht zum Ausdruck, welchen Begriff der Erwerbsunfähigkeit er gemeint habe; er sei von dem Erwerbsunfähigkeitsbegriff der Reichsversicherungsordnung (RVO) anstatt von dem des § 41 Abs. 2 BVG ausgegangen, was sich daraus ergebe, daß er feststelle, auch das Gutachten vom 25. April 1958 (Dr. D) habe noch keine Erwerbsunfähigkeit angenommen. Tatsächlich habe Dr. D die MdE aber mit 50 v. H. beurteilt. Dies hätte das LSG erkennen und zumindest bei Dr. K rückfragen müssen. Das LSG hätte ferner mit Rücksicht auf den Berufungsschriftsatz vom 3. Januar 1961 auch prüfen müssen, ob ein "besonderer Umstand" im Sinne des § 38 Abs. 2, 2. Halbsatz BVG nicht dadurch begründet worden sei, daß die Klägerin ihren erwerbsunfähigen und hilflosen Ehemann schon viele Jahre vor der Eheschließung, nämlich seit 1951, in aufopfernder Weise - wie eine Ehefrau - gepflegt habe. Dadurch sei der Klägerin die Rückkehr in ihren früheren Beruf bzw. die Neuschaffung einer unabhängigen Lebensführung wesentlich erschwert oder unmöglich gemacht worden. Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 29. Januar 1959 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Das Urteil des LSG entspreche der Sach- und Rechtslage, ein wesentlicher Verfahrensmangel liege nicht vor. Bei dem Begriff "besondere Umstände" handele es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Das Gericht könne insoweit nicht seine eigene Beurteilung an die Stelle derjenigen der Versorgungsbehörde setzen. Die Klägerin könne mit Sicherheit das Zimmer - wie früher - sofort wieder vermieten. Sie habe andererseits kein Einkommen gehabt, bevor sie ihren späteren Ehemann aufgenommen habe. Ihre damalige Stellung sei der einer Hauspflegerin vergleichbar gewesen, die ihre Stelle verliere, wenn der Patient sterbe. § 38 Abs. 2 BVG sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen; erst nach dem Tod auftretende Erkrankungen seien daher unbeachtlich. Dr. K habe den Begriff der Erwerbsunfähigkeit nicht verkannt. Der Versorgungsarzt habe ausgeführt, der Leidenszustand sei nicht so, daß die Klägerin die Hälfte ihrer Erwerbsfähigkeit verloren habe. Dr. K habe die Verschlimmerung alter und das Hinzutreten neuer Leiden diagnostiziert.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG); sachlich ist sie im Sinne einer Zurückverweisung begründet.

§ 38 Abs. 2 BVG bestimmt, daß die Witwe keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat, wenn die Ehe erst nach der Schädigung geschlossen worden ist und nicht mindestens ein Jahr gedauert hat; jedoch kann Rente beim Vorliegen besonderer Umstände gewährt werden. In den Verwaltungsvorschriften (VV) Nr. 2 zu § 38 BVG in der hier maßgebenden Fassung vor dem Ersten Neuordnungsgesetz (1. NOG) vom 27. Juni 1960 - aF - heißt es, daß besondere Umstände im Sinne dieser Vorschrift dann vorliegen können, wenn die Witwe bei der Eheschließung ihre wirtschaftliche Existenz aufgegeben hat oder wenn sie erwerbsunfähig ist.

Der Senat konnte unerörtert lassen, ob die Erwerbsunfähigkeit der Witwe im Falle einer Kannleistung nach § 38 Abs. 2, 2. Halbsatz BVG bereits im Zeitpunkt des Todes des Ehemannes vorgelegen haben muß, oder ob es genügt, daß sie in dem Zeitpunkt besteht, in dem Rente begehrt wird. Auf diese Frage käme es nur an, wenn bindend feststünde, daß die Klägerin im Todeszeitpunkt nicht erwerbsunfähig im Sinne des Versorgungsrechts war oder daß es an einer anderen selbständigen Voraussetzung zur Gewährung von Witwen-Kannbezügen im Sinne des § 38 Abs. 2, 2. Halbsatz fehlte. Das ist nicht der Fall.

Zutreffend beanstandet die Revision die vor allem auf das Gutachten des Dr. K gestützte Feststellung des LSG, daß die Klägerin im Zeitpunkt des Todes nicht erwerbsunfähig im Sinne des Versorgungsrechts gewesen sei. Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, daß Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 41 Abs. 2 BVG aF dann besteht, wenn die Witwe durch Krankheit oder andere Gebrechen nicht nur vorübergehend wenigstens die Hälfte ihrer Erwerbsfähigkeit verloren hat. Das Gutachten des Dr. K hat sich zur Stütze seiner Auffassung, daß keine Erwerbsunfähigkeit bestehe, u. a. auf das Gutachten des Facharztes Dr. D vom 25. April 1958 bezogen, das nach Meinung des Dr. K keine Erwerbsunfähigkeit angenommen habe. Dieses Gutachten hat einen reduzierten Allgemeinzustand, ein altersgemäßes Lungenemphysem Unterschenkel-Varizen sowie arthrotische Veränderungen und abschließend Verschleißerscheinungen bei nicht gutem Allgemeinzustand und mäßigen Funktionseinbußen festgestellt. Die MdE hat Dr. D auf 50 v. H. geschätzt. Daß diese MdE etwa nur für die Untersuchung im April 1958, nicht aber auch für den Zeitpunkt des Todes im Juli 1957 gelte, hat er nicht zum Ausdruck gebracht. Die von ihm angenommene MdE von 50 v. H. reicht aber nach § 41 Abs. 2 BVG aF aus, um Erwerbsunfähigkeit der Witwe im Sinne des Versorgungsrechts zu bejahen. Wenn Dr. K trotzdem dieses Gutachten dahin auslegte, daß es eine Erwerbsunfähigkeit verneint habe, so hätte das LSG hieraus erkennen müssen, daß sich Dr. K über den Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 41 Abs. 2 BVG geirrt, d. h. offenbar angenommen hat, daß die MdE um mehr als die Hälfte gemindert sein müsse; in diesem Sinne hatte sich auch der VdK irrtümlich in seinem Schreiben vom 2. Mai 1958 geäußert. Das LSG, das von einer zutreffenden Rechtsauffassung ausgegangen ist, hätte diesen Irrtum bemerken und zumindest bei Dr. K, wie die Revision ebenfalls mit Recht rügt, rückfragen müssen. Wenn es dies unterließ und seine Entscheidung vor allem auf dieses offenbar von irrigen Vorstellungen ausgehende Gutachten stützte, so ist seine Feststellung, die Klägerin habe nicht wenigstens die Hälfte ihrer Erwerbsfähigkeit verloren, unter Verstoß gegen § 128 SGG zustande gekommen und nicht haltbar. Da das Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruht, war es aufzuheben (§ 162 Abs. 2 SGG). Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, da es zunächst noch weiterer tatsächlicher Feststellungen bedarf.

Wie die Revision ferner zutreffend rügt, hätte das LSG auch prüfen müssen, ob ein besonderer Umstand im Sinne des § 38 Abs. 2, 2. Halbsatz BVG nicht darin liegt, daß die Klägerin, wie auch im Berufungsverfahren vorgetragen wurde, ihren Ehemann schon viele Jahre vor der Eheschließung, nämlich seit 1951, in aufopfernder Weise gepflegt habe. Diese frühere Betreuung konnte das LSG im übrigen bereits aus den Versorgungsakten entnehmen. Das LSG ist hierauf nicht eingegangen. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat, stellt der Ausdruck "besondere Umstände" in § 38 Abs. 2 BVG einen unbestimmten Rechtsbegriff dar; ob die Versorgungsbehörde insoweit die Grenzen des vom Gesetz eingeräumten Beurteilungsspielraums zutreffend erkannt hat, unterliegt der richterlichen Nachprüfung (vgl. BSG 10, 51). Hier ist auch ausgesprochen, daß die VV Nr. 2 zu § 38 BVG die Fälle, in denen eine Rente gewährt werden kann, nicht erschöpfend bestimmt (aaO S. 54) und daß ein besonderer Umstand auch darin liegen kann, daß die Witwe ihren späteren Ehemann als Beschädigten lange Zeit persönlich betreut hat und ihm bei Begründung oder Erhaltung seiner Existenz wie eine Ehefrau behilflich gewesen ist (aaO S. 55). Da F. nicht nur Rente nach einer MdE um 100 v. H., sondern auch Pflegezulage bezogen hat, liegt es nahe, hier eine solche weitgehende Betreuung des hilflosen Beschädigten durch die spätere, zudem in vorgerücktem Alter stehende Ehefrau anzunehmen. Das LSG wird daher auch dieser Frage nachgehen und bei einer Bestätigung des Vorbringens der Klägerin bereits aus diesem Grunde die Voraussetzungen des § 38 Abs. 2, 2. Halbsatz BVG im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG u. U. bejahen müssen. Sollte das LSG zum Ergebnis gelangen, daß der Fall insoweit spruchreif ist und jede andere Entscheidung der Versorgungsbehörde ermessensfehlerhaft wäre, so könnte es den Beklagten zur Gewährung der Kannbezüge selbst verurteilen (vgl. BSG 9, 233, 239 BSG in SozR SGG § 54 Nr. 88).

Im Falle einer anderen Entscheidung wird das LSG berücksichtigen müssen, daß die Aufgabe der wirtschaftlichen Existenz bei der Eheschließung jedenfalls nicht mit der Begründung verneint werden kann, daß die Ehefrau durch die Heirat einer gesetzlichen Unterhaltsanspruch erworben habe und erbberechtigt geworden sei. Wäre diese Auffassung richtig, so könnte eine Frau - entgegen VV Nr. 2 zu § 38 BVG - bei der Eheschließung niemals ihre wirtschaftliche Existenz verlieren, da durch die Eheschließung stets Unterhalts- und erbrechtliche Ansprüche erworben werden.

Nach alledem war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380427

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