Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstufung von freiwillig Weiterversicherten. Begriff "erhebliches Mißverhältnis"
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Frage eines "erheblichen Mißverhältnisses" iS des RVO § 313a Abs 1 S 2 (Anschluß an BSG 1974-08-29 5 RKn 5/72 = BSGE 38, 84, BSG 1976-05-25 5 RKn 27/74 = BSGE 42, 49).
2. Zur Frage, wann bei einem unbestimmten Rechtsbegriff der Verwaltung eine Beurteilungsermächtigung ("Beurteilungsspielraum") eingeräumt sein kann.
3. Obwohl RVO § 313a Abs 1 S 2 als Kannvorschrift ausgestaltet ist, räumt sie der KK weder einen Ermessensspielraum noch eine Beurteilungsermächtigung ein (Anschluß an BSG 1961-03-21 3 RK 10/56 = BSGE 14, 104-111 und BSG 1977-01-27 12 RAr 83/76).
Leitsatz (redaktionell)
1. Das in RVO § 313a Abs 1 S 2 für eine Versetzung in eine höhere Lohnstufe geforderte erhebliche Mißverhältnis zwischen Beitrag und Gesamteinkommen einerseits und Beitrag und zu erwartenden Leistungen andererseits ist grundsätzlich dann anzunehmen, wenn die Differenz zwischen dem Beitrag des Weiterversicherten und dem von einem vergleichbaren Versicherten zu zahlenden Beitrag mehr als 20 vH beträgt; das gilt auch im Falle der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze.
2. Der Absicht des Gesetzgebers ist zu entnehmen, daß in den Bestand des Versicherungsverhältnisses des freiwillig Weiterversicherten nur bei außergewöhnlichen Veränderungen durch Beitragserhöhungen eingegriffen werden soll.
3. Der in RVO § 313a Abs 1 S 2 aF enthaltene unbestimmte Rechtsbegriff des erheblichen Mißverhältnisses unterliegt uneingeschränkt der Nachprüfung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit.
Normenkette
RVO § 313 Fassung: 1972-08-10, § 313a Abs. 1 S. 2 Fassung: 1924-12-15
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 12.02.1976; Aktenzeichen L 16 Kr 128/75) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 17.09.1975; Aktenzeichen S 21 Kr 67/75) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Februar 1976 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Voraussetzungen für die Versetzung des freiwillig weiterversicherten Klägers in eine höhere Lohnstufe gemäß § 313 a Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegeben sind.
Der Kläger ist seit dem 1. April 1971 freiwillig weiterversichertes Mitglied der Beklagten. Er war bis zum 31. Dezember 1974 in die Lohnstufe 62 eingestuft und entrichtete entsprechend der damals geltenden Beitragsbemessungsgrenze von 1.875,- DM und dem nach der Satzung der Beklagten für freiwillig Versicherte ohne Anspruch auf Krankengeld maßgeblichen Beitragssatz von 10 v.H. einen monatlichen Beitrag in Höhe von 187,50 DM. Im Dezember 1974 versetzte ihn die Beklagte unter Hinweis auf die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze auf 2.100 DM ab 1. Januar 1975 in die Lohnstufe 70 mit einem Monatsbeitrag von 210,- DM. Sein Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 1975). Zur Begründung führte die Beklagte aus, der bisher gezahlte Beitrag habe in einem erheblichen Mißverhältnis zum Gesamteinkommen des Klägers und zu den ihm zustehenden Leistungen gestanden. Da das Fehlen des Anspruchs auf Krankengeld bereits im Beitragssatz berücksichtigt sei, komme es allein auf das Verhältnis zwischen Beitrag und Gesamteinkommen an. Dabei sei das Gesamteinkommen ohne Begrenzung auf die jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze zu berücksichtigen.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Duisburg den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben (Urteil vom 17. September 1975). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 12. Februar 1976). Das LSG hat sich im Ergebnis der Rechtsprechung des 5. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteil vom 29. August 1974, BSGE 38, 84 - SozR 2200 § 313 a Nr. 2) angeschlossen, wonach bei einem Weiterversicherten ein erhebliches Mißverhältnis zwischen Beitrag und Gesamteinkommen einerseits und Beitrag und Kassenleistungen andererseits dann besteht, wenn andere Versicherte bei gleich hohem Einkommen und gleichen Kassenleistungen einen um mehr als 20 v.H. höheren Beitrag zu zahlen haben. Das Gesamteinkommen des Klägers sei wie bei einem Pflichtversicherten nur bis zur Höhe der Beitragsbemessungsgrenze zu berücksichtigen. Der hiernach berechnete Beitrag des als vergleichbarer Versicherter in Betracht kommenden Versicherten ohne Krankengeldanspruch sei zwar infolge Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze ab 1. Januar 1975 gestiegen, jedoch betrage die Abweichung vom Beitrag des Klägers nur 12 v.H.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO. Das Gesamteinkommen des Weiterversicherten sei zwar für die Beitragszahlung nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze heranzuziehen. Für die Frage, ob zwischen dem bisherigen Beitrag und dem einkommensgerechten Beitrag ein erhebliches Mißverhältnis i.S. des § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO bestehe, sei das Gesamteinkommen jedoch voll anzusetzen. Während bei den Pflichtversicherten bereits die geringste Lohnerhöhung zu höheren Beiträgen führe und sich außerdem jede Erhöhung der Jahresarbeitsverdienstgrenze ebenso unmittelbar auf die Höhe des Beitrags auswirke, gehe § 313 a RVO seinem Wortlaut nach von dem Grundsatz aus, daß freiwillig Weiterversicherte in ihrer bisherigen Lohnstufe verbleiben und nur unter den bezeichneten Voraussetzungen herab- oder höhergestuft werden können. Diese überbrachte Vorschrift widerspreche der neueren Rechtsentwicklung in der Krankenversicherung, die eine weitgehende Angleichung der Rechte und Pflichten freiwilliger Mitglieder an die Versicherungspflichtigen erkennen lasse. Diese Entwicklung zwinge dazu, bei der Auslegung der Vorschriften der §§ 313, 313 a RVO eine Anpassung an das für Versicherungspflichtige geltende Recht anzustreben. Durch die Einführung des Beitragszuschusses für freiwillig versicherte Angestellte sei deren beitragsrechtliche Stellung an die der Versicherungspflichtigen angeglichen worden. Es sei deshalb nicht einzusehen, daß sie hinsichtlich der Einstufung besser gestellt werden sollten als versicherungspflichtige Versicherte. Im Gegensatz zum Solidaritätsprinzip würde ein hochverdienender Personenkreis relativ geringer mit Beiträgen belastet werden als Versicherungspflichtige mit geringerem Einkommen, wenn selbst bei erheblich über der jeweils geltenden Jahresarbeitsverdienstgrenze liegendem Einkommen eine einkommensgerechte Höherstufung nur im Abstand von zwei oder gar drei Jahren vorgenommen werden könnte. Es erscheine deshalb zweifelhaft, ob die vom 5. Senat angenommene Fixierung des "erheblichen Mißverhältnisses" zwischen dem Beitrag eines Weiterversicherten und dem eines vergleichbaren Versicherten auf 20 v.H. angemessen sei. Diese Grenze sei ohne nähere Begründung "gegriffen" worden. Demgegenüber erscheine unter Berücksichtigung der dargelegten Tendenz des Gesetzgebers eine Differenz von 10 v.H. für ausreichend, um eine beitragsmäßige Anpassung zu rechtfertigen.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des SG und des Urteils des LSG die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Die Vorinstanzen haben zutreffend die Berechtigung der Beklagten verneint, den Kläger ab 1. Januar 1975 gemäß § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO in eine höhere Lohnstufe zu versetzen. Der Kassenvorstand kann nach dieser Vorschrift die Versetzung des Weiterversicherten in eine höhere Klasse oder Stufe auch ohne seine Zustimmung anordnen; wenn dessen Beiträge in erheblichem Mißverhältnis zu seinem Gesamteinkommen und zu den ihm im Krankheitsfalle zu gewährenden Kassenleistungen stehen. Obwohl in der Vorschrift das Wort "kann" gebraucht wird, ist der Beklagten kein Ermessen bei ihrer Entscheidung eingeräumt. Es geht hierbei nämlich um die Erfüllung einer der Krankenkasse auferlegten Verpflichtung, ein erhebliches Mißverhältnis i.S. des § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO zu beseitigen (BSGE 14, 104, 109). Liegt ein solches Mißverhältnis vor, dann muß die Krankenkasse die Höherstufung vornehmen und dabei den nach der Einkommenshöhe satzungsmäßigen Beitrag festsetzen, wobei ihr für die Festsetzung keine Alternativen zustehen. Der Krankenkasse ist in § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO auch keine Ermächtigung eingeräumt, letztverbindlich über das Vorliegen eines "erheblichen Mißverhältnisses" zu entscheiden (Beurteilungsermächtigung). Eine solche Beurteilungsermächtigung kann überhaupt nur dann angenommen werden, wenn die entscheidende Stelle aufgrund persönlichen Eindrucks, besonderer Erfahrungen und Sachkunde für die Beurteilung außerrechtlicher Gesichtspunkte in erster Linie berufen erscheint, verbindliche Qualifikationen vorzunehmen (vgl. das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 27. Januar 1977 - 12 RAr 83/76 - mit weiteren Hinweisen auf Literatur und Rechtsprechung). Für die Beurteilung, ob ein erhebliches Mißverhältnis i.S. des § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO vorliegt, ist der Krankenkasse keine Eigenschaft zuzumessen, die es rechtfertigen würde, den Grundsatz voller gerichtlicher Kontrolle bei unbestimmten Rechtsbegriffen zu durchbrechen und der Verwaltung eine nur begrenzt nachprüfbare Beurteilungsermächtigung ("Beurteilungsspielraum") einzuräumen. Handelt es sich somit bei § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO um eine Vorschrift, die der Verwaltung weder einen Ermessensspielraum noch eine Beurteilungsermächtigung einräumt, so ist diese Regelung auch keine Koppelungsvorschrift im Sinne des Beschlusses des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 (NJW 1972, 1411). Der in der Vorschrift enthaltene unbestimmte Rechtsbegriff des erheblichen Mißverhältnisses unterliegt mithin uneingeschränkt der gerichtlichen Nachprüfung.
Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, daß ein erhebliches Mißverhältnis der Beiträge des Weiterversicherten zu seinem Gesamteinkommen und zu den im Krankheitsfalle zu gewährenden Kassenleistungen i.S. des § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO nur dann gegeben ist, wenn andere Versicherte bei gleich hohem Einkommen und gleichen Kassenleistungen einen um mehr als 20 v.H. höheren Beitrag zu zahlen haben (BSGE 38, 84). Dieser vom 5. Senat des BSG in einem weiteren Urteil vom 25. Mai 1976 - 5 RKn 27/74 - (BSGE 42, 49) fortgeführten Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Die vom 5. Senat des BSG vorgenommene Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des erheblichen Mißverhältnisses deckt sich mit dem Wortsinn und wird auch der Zweckbestimmung der Vorschrift gerecht. Da der unbestimmte Rechtsbegriff "erhebliches Mißverhältnis" nicht völlig objektivierbar ist, rechtfertigt dieser Mangel an exakter Konkretisierbarkeit in jedem Einzelfall die am Regelfall orientierte pauschalierende Betrachtungsweise. Dabei kommt der Wortwahl des Gesetzgebers insofern besondere Bedeutung zu, als er als Maßstab nicht nur ein "Mißverhältnis" als unbestimmten Rechtsbegriff gewählt hat, sondern diesen noch durch den Zusatz "erheblich" verstärkt hat. Daraus ist seine Absicht zu entnehmen, daß in den Bestand des Versicherungsverhältnisses des freiwillig Weiterversicherten nur bei außergewöhnlichen Veränderungen durch Beitragserhöhungen eingegriffen werden soll. Es ist deshalb dem 5. Senat des BSG (BSG aaO) darin zuzustimmen, daß erst eine Differenz von mehr als 20 v.H. als außergewöhnlich anzusehen ist.
Dies steht allerdings im Gegensatz zur beitragsmäßigen Behandlung der Pflichtversicherten, bei denen sich Einkommenserhöhungen und Erhöhungen der Beitragsbemessungsgrenze stets unmittelbar und ohne zeitliche Verzögerung auf die Beitragshöhe auswirken. Es kann dahinstehen, ob dies im Hinblick auf den Solidaritätsgedanken der Sozialversicherung nicht unbedenklich erscheint. Es muß jedenfalls dem Gesetzgeber überlassen bleiben, eine von ihm etwa erforderlich gehaltene Angleichung der Beitragsanpassung bei freiwillig Weiterversicherten an diejenige bei den Pflichtversicherten selbst vorzunehmen, wie dies auch inzwischen durch Streichung des § 313 a RVO ab 1. Juli 1977 durch Art. 1 § 1 Nr. 24 i.V.m. Art. 2 § 17 des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes - KVKG - vom 27. Juni 1977 (BGBl I 1069) geschehen ist.
Auf dem Wege der Auslegung des § 313 a RVO in der von der Beklagten angeregten Weise läßt sich eine solche Angleichung indessen nicht bewerkstelligen.
Das Berufungsgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, daß bei der Anwendung des § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO nur auf das Einkommen des Weiterversicherten bis zur Beitragsbemessungsgrenze abgestellt werden darf. Nur bis zu dieser Höhe ist nämlich das Einkommen sowohl eines Pflichtversicherten wie auch eines freiwillig Versicherten versicherungsrechtlich erheblich (BSGE 38, 84, 87). Ein Versicherter kann daher im Höchstfall nur nach einem mit der Beitragsbemessungsgrenze gleichen Einkommen zur Beitragsleistung herangezogen werden. Nur ein solcher Versicherter mit dem höchsten Beitragssatz und gleichen Leistungsansprüchen kann daher als Vergleichsperson gegenüber einem freiwillig Weiterversicherten mit höherem Einkommen bei der Feststellung eines etwaigen Mißverhältnisses i.S. des § 313 a Abs. 1 Satz 2 RVO zugrunde gelegt werden. Eine solche Vergleichsperson muß ab 1. Januar 1975 nach dem nach der Satzung der Beklagten maßgeblichen Beitragssatz von 10 v.H. in der der Beitragsbemessungsgrenze von 2.100,- DM entsprechenden Lohnstufe 70 einen Monatsbeitrag von 210,- DM zahlen. Dies ist gegenüber dem vom Kläger bis zum 31. Dezember 1974 zu entrichtenden Beitrag von 187,50 DM eine Erhöhung um 22,50 DM oder 12 v.H. Sie begründet daher - wie das LSG zutreffend festgestellt hat - kein erhebliches Mißverhältnis zwischen dem bisherigen Beitrag des Klägers und dem höchstmöglichen Beitrag eines die Beitragsbemessungsgrenze überschreitenden Versicherten, so daß eine zur Beitragserhöhung führende Versetzung des Klägers in eine höhere Lohnstufe ab 1. Januar 1975 nicht gerechtfertigt war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen