Leitsatz (amtlich)
War für einen Berechtigten iS des FAG SV § 1 Abs 2 am 1952-04-01 bereits eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung durch Bescheid eines Versicherungsträgers im Bundesgebiet oder im Land Berlin rechtskräftig (FAG SV § 17 Abs 6), so ist sie ohne Rücksicht darauf weiterzugewähren, ob die Voraussetzungen des FAG SV § 5 erfüllt sind. Dies ist auch dann der Fall, wenn am 1952-04-01 die Leistung von der Versicherungsanstalt Berlin auf Grund ihrer Satzung als Verletztenrente (§ 61, § 78) rechtskräftig festgestellt war.
Normenkette
SVFAG § 5 Fassung: 1953-08-07, § 17 Abs. 6 Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 1. November 1956 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe:
Gründe
I
Der Kläger erlitt in Jahre 1936 einen Verkehrsunfall mit seinem eigenen Motorrad. Dabei büßte er das rechte Bein ein. Er war damals kaufmännischer Lehrling in dem Eisen- und Stahlwerk V... und gehörte als Scharführer (Sportwart) der ehemaligen Hitler-Jugend (HJ.) an. Der Unfall ereignete sich auf der Rückfahrt von Nauen nach seinem damaligen Wohnort Velten. In Nauen hatte er nach seiner unwiderlegten Schilderung je eine kurze Besorgung für seine Lehrfirma sowie für seine HJ.-Dienststelle zu erledigen gehabt. Die Berufsgenossenschaft (BG.) für reichsgesetzliche Unfallversicherung gewährte ihm durch Bescheid vom 25. Oktober 1938 für die Folgen des "in Diensten der HJ., Gebiet 2 Kurmark" am 26. September 1936 erlittenen Unfalls eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 80 v.H. Die Rentenzahlung ging auf die später errichtete Eigen-Unfallversicherung (EUV.) der NSDAP über.
Am 25. Januar 1950 beantragte der nunmehr in Berlin-Steglitz wohnende Kläger die Wiedergewährung der mit dem staatlichen Zusammenbruch 1945 weggefallenen Unfallrente bei der Versicherungsanstalt Berlin (VAB.). Diese erkannte mit Bescheid vom 22. April 1950 aus Anlaß des erwähnten Unfalls einen Anspruch des Klägers auf die satzungsgemäße Verletztenrente an und gewährte sie ihm anstelle der früheren Unfallrente in gleicher Höhe. Dieser Bescheid wurde rechtskräftig. Auf Grund des Gesetzes über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung und zur Überleitung des Unfallversicherungsrechtes im Lande Berlin (UZG) vom 29. April 1952 (BGBl. I S. 253) ging die Rentenzahlung auf die EUV. Berlin als Ausführungsbehörde für gesetzliche Unfallversicherung über. Schließlich gelangte die Sache auf Grund des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FremdRG) vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 848) zuständigkeitshalber an die Beklagte.
Diese hat nach §§ 1, 2 FremdRG in Verbindung mit §§ 1583, 1569 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) den Entschädigungsanspruch des Klägers durch Bescheid vom 17. Juli 1954 mit der Begründung abgelehnt, daß ein Arbeitsunfall im Sinne des Dritten Buches der RVO nicht vorliege, und dazu ausgeführt: Der Kläger habe den Unfall im Jahre 1936 bei dem "Betriebe des HJ.-Gebietes 2 Kurmark" als Scharführer und Sportwart, also bei einer zur Unfallzeit nicht dem Schutz der reichsgesetzlichen Unfallversicherung unterliegenden Tätigkeit, erlitten. Die BG. für reichsgesetzliche Unfallversicherung habe die Rente auf Grund einer Sonderregelung mit der NSDAP vorgeleistet. Daran sei die Beklagte nicht gebunden. Nach § 5 FremdRG sei ein Anspruch für einen derartigen Unfall ausdrücklich ausgeschlossen.
Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG.) Berlin durch Urteil vom 11. April 1956 die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Unfallrente in der bisherigen Höhe weiterzuzahlen. Es hat zur Begründung ausgeführt: Der Anspruch des Klägers sei nach § 17 Abs. 6 FremdRG gerechtfertigt. Die VAB. habe als Versicherungsträger im Land Berlin für ihn als Berechtigten im Sinne des § 1 Abs. 2 FremdRG vor dem 1. April 1952 bereits die Versicherungsleistung rechtskräftig festgestellt. Der damit erworbene Leistungsanspruch müsse ihm nach der Regelung des FremdRG ungeachtet der Vorschrift des § 5 erhalten bleiben. Es sei daher unerheblich, ob der Unfall den HJ.-Dienst oder der Lehrlingstätigkeit des Klägers zuzurechnen sei. Für eine Herabsetzung der Rente bestehe kein Anlaß, da es sich bei den Verletzungsfolgen auch nach neuerlicher ärztlicher Begutachtung um einen Dauerzustand handele.
Die Berufung hiergegen hat keinen Erfolg gehabt. Das Landessozialgericht (LSG.) hat sich in seinem Urteil vom 1. November 1956 der Rechtsauffassung des SG. angeschlossen und ergänzend ausgeführt: § 5 FremdRG könne nicht ohne Rücksicht auf § 17 Abs. 6 angewandt werden. Die Stellung dieser Vorschrift im Abschnitt der "Übergangs- und Schlußvorschriften" spreche dafür, daß es sich bei ihr um eine Ausnahmevorschrift gegenüber § 5 handle. Diese Auslegung ergebe sich aus dem Wortlaut wie auch aus dem ihr innewohnenden Zweck, einem Berechtigten den ihm nach 1945 wieder zuerkannten Anspruch zu belassen. Die Schätzung der durch die Unfallfolgen bedingten MdE. des Klägers rechtfertige die Festsetzung der Rente in der von der VAB. gewährten Höhe.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage, über die bei der Auslegung des § 17 Abs. 6 FremdRG zu entscheiden war, hat das LSG. die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 7. Dezember 1956 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 19. Dezember 1956 Revision eingelegt und diese am 18. Januar 1957 begründet.
Die Revision greift vor allem die Rechtsauffassung des LSG. an, § 17 Abs. 6 FremdRG begründe für eine nach § 1 Abs. 2 dieses Gesetzes berechtigte Person den Anspruch auf Unfallentschädigung nach dem FremdRG, auch wenn dieser an sich wegen der einschränkenden Wirkung des § 5 mangels Vorliegens eines Arbeitsunfalls ausgeschlossen wäre. Sie rügt die unrichtige Anwendung der §§ 5 und 17 Abs. 6 FremdRG und macht geltend: Das LSG. habe verkannt, daß § 17 Abs. 6 als Ausnahmebestimmung hinter die grundlegende Vorschrift des § 5, durch den eine zu weitgehende Entschädigung der sogenannten NSDAP-Unfälle entsprechend dem Willen des Gesetzgebers eingedämmt werden solle, zurücktreten müsse. Mit diesem gesetzespolitischen Zweck sei die Ansicht der Vorinstanzen, durch § 17 Abs. 6 solle in jedem Falle der Besitzstand gewahrt werden, nicht vereinbar. Entfalle der Entschädigungsanspruch des Klägers aber nach § 5, so sei die Beklagte im vorliegenden Streitverfahren nicht passiv legitimiert.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der Entscheidungen des SG. und des LSG. die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Er tritt dem Vorbringen der Revision unter Hinweis auf das angefochtene Urteil entgegen.
II
Die vom LSG. zugelassene Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Der Kläger, der sich ständig im Land Berlin aufhält und von der EUV. der NSDAP, also einem nicht mehr bestehenden Versicherungsträger, bis zum staatlichen Zusammenbruch 1945 Unfallrente bezogen hat, gehört zu den nach § 1 Abs. 2 FremdRG berechtigten Personen, denen auf Antrag nach den §§ 2 bis 6 dieses Gesetzes Leistungsansprüche gegen einen nach § 7 desselben Gesetzes zuständigen Versicherungsträger im Bundesgebiet oder im Land Berlin zustehen. Ob er Anspruch auf Versicherungsleistungen auf Grund einer der angeführten Vorschriften hat, läßt sich nach dem bisher festgestellten Sachverhalt nicht abschließend beurteilen, da nicht geklärt ist, ob der Unfall einer versicherten Tätigkeit zuzurechnen war. Dies konnte indessen unentschieden bleiben. In Übereinstimmung mit den Vorinstanzen ist auch der erkennende Senat der Auffassung, daß sich der Rentenanspruch des Klägers unabhängig von den Anspruchsvoraussetzungen des § 5 FremdRG aus § 17 Abs. 6 dieses Gesetzes ergibt. Nach dieser Vorschrift gilt eine von einem Versicherungsträger im Bundesgebiet oder im Land Berlin für einen Berechtigten im Sinne des § 1 Abs. 2 FremdRG am 1. April 1952 bereits rechtskräftig festgestellte Leistung als eine solche im Sinne des FremdRG. Dies bedeutet, daß der Berechtigte ohne Rücksicht darauf, ob er die Leistungsvoraussetzungen des Fremdrentenrechts ganz oder teilweise erfüllt, Anspruch auf Weitergewährung der ihm bis zum 1. April 1952 zuerkannten Leistungen hat, wenn nur den in § 17 Abs. 6 FremdRG vorgesehenen besonderen Erfordernissen genügt ist. Das ist hier der Fall. Durch den Bescheid der VAB. vom 22. April 1950 wurde eine Leistung im Sinne dieser Vorschrift zu Gunsten des Klägers rechtskräftig festgestellt. Die VAB. führte als Einheitsversicherungsanstalt zur Zeit des Bescheiderlasses die Sozialversicherung im Land Berlin durch. Wenn für sie auch nur enge satzungsmäßige Leistungsvorschriften bestanden, so war sie doch der ordnungsmäßige Versicherungsträger auch für die gesetzliche Unfallversicherung im Land Berlin. In dieser Eigenschaft erließ sie am 22. April 1950 einen förmlichen Bescheid, der - wie die Revision selbst nicht bezweifelt - eine rechtskräftige Rentenfeststellung enthielt. Der Umstand, daß anstelle der früheren Unfallrente nunmehr ein Anspruch auf die satzungsmäßige Verletztenrente anerkannt wurde, stellt die Anwendbarkeit des § 17 Abs. 6 FremdRG nicht in Frage. Zwar ist die Verletztenrente eine Rente eigener Art, für die beispielsweise nach Wiedereinführung der RVO im Land Berlin nicht die Vorschriften über die vorläufige Rente anwendbar sind (SozR. RVO § 1585 Bl. Aa 2 Nr. 4); gleichwohl handelt es sich auch bei ihr um eine echte Versicherungsleistung, jedenfalls nicht um eine bloße Fürsorgeleistung, auf die kein Anspruch besteht und die deshalb auch nicht Gegenstand eines rechtskräftigen Bescheids im Sinne des § 17 Abs. 6 FremdRG sein kann (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15.1.1958, Bd. I S. 294 k III/IV; Hoernigk-Jahn-Wickenhagen, Komm. zum FremdRG, § 17 Anm. 22 c).
Der Auffassung der Beklagten, der Klüger könne gegen sie aus der besonderen Vorschrift des § 17 Abs. 6 FremdRG keinen Entschädigungsanspruch herleiten, weil ihre Leistungspflicht ausschließlich nach der grundlegenden Vorschrift des § 5 dieses Gesetzes zu beurteilen sei, vermochte der erkennende Senat nicht beizutreten. Das FremdRG regelt die Ansprüche von Berechtigten, die infolge der seit 1945 eingetretenen völker- und staatsrechtlichen Verhältnisse Einbußen in ihren Versicherungsrechten erlitten. Im allgemeinen werden auf Grund dieses Gesetzes nach Maßgabe der §§ 2 bis 6 durch die in § 7 bezeichneten Versicherungsträger Leistungen neu festgestellt. Nicht in dieser Weise ist zu verfahren in den Fällen, in denen vor dem 1. April 1952 bereits von einem Versicherungsträger im Bundesgebiet oder im Land Berlin Versicherungsleistungen rechtskräftig festgestellt worden sind. Bei diesen vor dem Inkrafttreten des FremdRG festgestellten Leistungen soll es nach § 17 Abs. 6 FremdRG ohne Rücksicht darauf bewenden, ob die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen gemäß §§ 2 bis 6 dieses Gesetzes erfüllt sind (§ 17 Abs. 6 Satz 2 a.a.O.). Bescheide, durch die bis zum 1. April 1952 Versicherungsleistungen bereits festgestellt worden waren, haben gemäß § 17 Abs. 6 FremdRG die Wahrung des Besitzstandes des Berechtigten zur Folge. Dies ist auch im Schrifttum allgemein anerkannt (Brackmann a.a.O.; Das Deutsche Bundesrecht, Arbeits- und Sozialrecht, VE/29, S. 27, Erläuterungen zu § 17 FremdRG; Hoernigk-Jahn-Wickenhagen a.a.O., Anm. 25 zu § 17 Abs. 6). Diese Auslegung des § 17 Abs. 6 wird, wie die Vorinstanzen zutreffend ausgeführt haben, durch die gesetzliche Regelung in § 39 des Gesetzes zur Anpassung des Rechts der Sozialversicherung in Berlin an das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht (BSVAG) vom 3. Dezember 1950 (VOBl. I S. 542) und in § 18 UZG gestützt. Mit Recht vertritt hierzu das Berufungsgericht die Auffassung, daß in der sozialversicherungsrechtlichen Gesetzgebung der Nachkriegszeit die Absicht erkennbar sei, den Rentenberechtigten die seit 1945 erlangten Rechte zu erhalten, und daß die Annahme begründet sei, auch bei § 17 Abs. 6 FremdRG gehe es um die Besitzstandswahrung. Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch der Umstand, daß in Abs. 7 des § 17 FremdRG diese Absicht hinsichtlich der am 1. April 1952 bereits gewährten Auslandsrenten klar zum Ausdruck gebracht ist. Im übrigen ist damit ein im Rechtsleben anerkannter Grundsatz verwirklicht. Zu dem Ergebnis, daß § 17 Abs. 6 mit Vorrang vor § 5 FremdRG anzuwenden ist, führt auch die Überlegung, daß es sich bei jener Vorschrift um eine Übergangsregelung handelt. Durch sie soll die Wahrung übergeordneter Interessen, z.B. der Rechtssicherheit, gewährleistet sein, ein Ziel also, welches auch durch die Aufrechterhaltung bereits festgestellter Leistungsansprüche erreicht wird. Die Meinung der Revision, daß wegen der Besonderheit der von der EUV. der NSDAP entschädigten Unfälle die Entschädigungsansprüche gemäß § 5 FremdRG schlechthin ausgeschlossen seien, wenn kein Arbeitsunfall vorliegt, ist nicht überzeugend. Bei dem klaren Wortlaut des § 17 Abs. 6 FremdRG hätte es einer im Gesetz besonders zum Ausdruck gebrachten Einschränkung seiner Anwendbarkeit bedurft, wenn Unfälle im Dienst der NSDAP ungeachtet dieser Übergangsvorschrift nicht mehr entschädigt werden sollten.
Nach alledem war die Beklagte an den Bescheid der VAB. vom 22. April 1950 gebunden, soweit darin die Pflicht zur Entschädigung des Unfalls des Klägers aus dem Jahre 1936 anerkannt worden ist (Brackmann a.a.O., S. 294 k V). Ihre Zuständigkeit zur Entschädigungsleistung folgt aus § 7 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 FremdRG.
Die Feststellung des LSG., daß die Unfallfolgen noch eine KdE. von 80 v.H. bedingen, ist bedenkenfrei, überdies von der Revision auch nicht angegriffen worden.
Die Revision der Beklagten war somit als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2314103 |
BSGE, 57 |