Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozeßfähigkeit. Geschäftsfähigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

Vergleiche &, BSG &, 1957-05-28 &, 3 RJ 98/54

 

Orientierungssatz

Ein Revisionskläger, der rügt, er sei im Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit geschäftsunfähig und daher nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen (§ 551 Nr 5 ZPO), ist im Revisionsverfahren insoweit als prozeßfähig zu behandeln, als über die Frage seiner Prozeßfähigkeit zu entscheiden ist (vgl BSG 1957-05-28 3 RJ 98/54 = BSGE 5, 176).

 

Normenkette

ZPO § 56 Abs. 1, § 551 Nr. 5

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 13.10.1966)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Oktober 1966 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die im Jahre 1904 geborene Klägerin ist selbständige Krankenpflegerin und staatlich geprüfte Masseuse. Am 2. Dezember 1964 zog sie sich durch einen Sturz während eines Aufenthalts auf dem Wege zu Patienten erhebliche Körperprellungen zu. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25. Mai 1965 den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, der Unfall habe sich bei einer dem unversicherten privaten Lebensbereich zuzurechnenden Betätigung der Klägerin ereignet.

Die Klage gegen diesen Bescheid ist ohne Erfolg geblieben. Die Vorinstanzen sind der Auffassung, der Unfall habe nicht in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der Berufstätigkeit der Klägerin gestanden. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung durch Urteil vom 13. Oktober 1966 zurückgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen.

Das Urteil ist der Klägerin am 15. November 1966 zugestellt worden; sie hat gegen das Urteil durch einen Bevollmächtigten des Verbandes der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschland am 12. Dezember 1966 Revision eingelegt. Dieser hat die Vertretung der Klägerin am 28. Dezember 1966 niedergelegt.

Am 14. Oktober 1966 wurde die Klägerin gem. § 1906 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) unter vorläufige Vormundschaft gestellt. Der vorläufige Vormund beantragte am 3. Januar 1967, der Klägerin das Armenrecht zu bewilligen und ihr einen Rechtsanwalt beizuordnen. Diesem Antrag ist durch Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Juli 1967 entsprochen und der Beschluß am 14. Juli 1967 dem beigeordneten Rechtsanwalt zugestellt worden. Dieser ist von dem vorläufigen Vormund der Klägerin bevollmächtigt worden und hat beantragt, der Klägerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist zu gewähren. Gleichzeitig hat er die Revision wie folgt begründet: Die Revision sei statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); das Berufungsverfahren leide an einem wesentlichen Mangel insofern, als die Klägerin während des gesamten bisherigen Verfahrens, insbesondere während des Berufungsverfahrens, nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen sei. Aus den Akten des Vormundschaftsgerichts sowie aus den zahlreichen Eingaben, Beschwerden und sonstigen schriftlichen Äußerungen der Klägerin hätte sich dem LSG die Überzeugung aufdrängen müssen, daß die Klägerin in dem vorliegenden Verfahren von Anfang an nicht prozeßfähig gewesen sei. Die Vorinstanzen hätten zur Vermeidung eines Verfahrensmangels die Frage der Prozeßfähigkeit der Klägerin prüfen müssen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie ist der Auffassung, das LSG habe keine ernstlichen Bedenken gegen die Prozeßfähigkeit der Klägerin zu hegen brauchen.

Das BSG hat durch Beiziehung der Vormundschaftsakten 45 VII J 6045 und der Strafakten 7 Js 1077/65 des Amtsgerichts Düsseldorf sowie der Akten des Verwaltungsgerichts in Düsseldorf 6 K 1319/65 Beweis darüber erhoben, ob die Klägerin unter einem ihre freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit leidet und gegebenenfalls, seit wann sie sich in einem solchen Zustand befindet. In den Akten des Verwaltungsgerichts und in den Strafakten sind psychiatrische Gutachten über den Geisteszustand der Klägerin enthalten. Sie wurden auf Grund des Akteninhalts erstattet, da sich die Klägerin den angeordneten ärztlichen Untersuchungen entzog. In dem Verwaltungsrechtsstreit, in dem es um den Anspruch auf Gewährung von Lastenausgleich ging, hat sich der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. E am 31. Januar 1966 geäußert. In der Strafsache, in der wegen falscher Anschuldigung gegen die Klägerin ermittelt worden war, hat Landesmedizinaldirektor Dr. G vom Rheinischen Landeskrankenhaus am 11. Juli und 26. August 1966 zur Frage der Anwendbarkeit des § 51 des Strafgesetzbuches (StGB) Stellung genommen. Prof. Dr. E ist zu folgendem Ergebnis gelangt: Aus den Eingaben der Klägerin ergebe sich, daß sie in ihrer Prozeßangelegenheit nur noch auf Grund von "unkorrigierbaren Irrtümern" handele, die wegen ihrer nachweislich bestehenden Unkorrigierbarkeit - die Klägerin sei vernünftigen und überzeugenden Einwendungen auch von seiten ihrer eigenen Anwälte unzugänglich - den Charakter und Wert von Wahnideen bekommen hätten. Sie sei damit in den Zustand einer querulatorischen Entartung geraten, und die ungeheure Fülle ihrer unsachlichen Schreiben, die nicht mehr zu übersehen seien, erkläre, daß sich die Schreiberin in einem krankhaften paranoiden Zustand befinde und nicht prozeßfähig sei.

Landesmedizinaldirektor Dr. G ist der Ansicht, daß der Klägerin der Schutz des § 51 StGB (erhebliche paranoide Reaktionsweise) zuzubilligen sei.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision ist formrichtig und rechtzeitig eingelegt worden.

Die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist (§ 67 SGG) sind gegeben. Die Klägerin, die wegen ihrer Mittellosigkeit, also ohne Verschulden, zunächst verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist zu wahren, hat nach Bewilligung des Armenrechts innerhalb eines Monats die Revision in der gesetzlich vorgeschriebenen Form (§§ 164, 166 SGG) begründet; sie hat damit die versäumte Rechtshandlung ordnungsmäßig nachgeholt. Für die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist war ihr deshalb die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren; eines besonderen formellen Ausspruchs hierüber bedurfte es nicht (BSG 6, 80, 82).

Die Statthaftigkeit der Revision hängt davon ab, ob der von der Klägerin geltend gemachte Mangel des Berufungsverfahrens vorliegt, das LSG habe über ihren Entschädigungsantrag durch Sachurteil entschieden, obwohl sie mangels Prozeßfähigkeit im Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen sei (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; vgl. BSG 1, 150).

Nach dem Erlaß des Berufungsurteils erging der Beschluß des Vormundschaftsgerichts, durch den die Klägerin gem. § 1906 BGB unter vorläufige Vormundschaft gestellt wurde; laut Bestallungsurkunde vom 21. November 1966 wurde der vorläufige Vormund bestellt. Inzwischen ist die vorläufige Vormundschaft aufgehoben und die Klägerin am 2. November 1967 wegen Gebrechlichkeit gem. § 1910 BGB unter Pflegschaft gestellt worden. Zum Pfleger ist der ehemalige vorläufige Vormund bestimmt worden. Dieser hat die Prozeßhandlungen für die Klägerin im Revisionsverfahren bis zur Bewilligung des Armenrechts und der Beiordnung eines Rechtsanwalts als Armenanwalt vorgenommen.

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Pfleger auch für den Fall der Geschäftsunfähigkeit der Klägerin der gesetzliche Vertreter ist (Palandt, Komm. zum BGB, 27. Aufl., S. 1408 Anm. 4 zu § 1910). Denn wie das BSG in Übereinstimmung mit der zu § 56 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ergangenen Rechtsprechung und dem dazu vorliegenden Schrifttum bereits ausgesprochen hat (BSG 5, 176, 177 mit den dort ersichtlichen Nachweisen), ist ein Revisionskläger, der rügt, er sei im Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit geschäftsunfähig und daher nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen (§ 551 Nr. 5 ZPO), im Revisionsverfahren insoweit als prozeßfähig zu behandeln, als über die Frage seiner Prozeßfähigkeit zu entscheiden ist. Das Revisionsgericht muß sonach einen Beteiligten als prozeßfähig ansehen, solange seine Prozeßunfähigkeit nicht festgestellt ist. Das hatte zur Folge, daß der mit der Revision gerügte Mangel der Prozeßfähigkeit der Klägerin im Revisionverfahren nachzuprüfen war (vgl. Brackmann, Handbuch der SozVers, 1. bis 6. Aufl., Bd. I S. 254 b; RzW 1965, 368).

Nach dem überzeugenden, überdies auch von der Beklagten unwidersprochen gebliebenen Gutachten des Prof. Dr. E vom 31. Januar 1966, das im wesentlichen in der gutachtlichen Äußerung des Landesmedizinaldirektors Dr. G vom 26. August 1966 eine Stütze findet, ist als erwiesen anzusehen, daß sich die Klägerin während des gesamten vorliegenden Verfahrens in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden, seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat. Die Grundlagen, die zu der Meinungsbildung der psychiatrischen Sachverständigen führten, nämlich das Verhalten der Klägerin in den Prozessen, treffen auch für das vorliegende Streitverfahren zu. Der erkennende Senat hat daher keine Bedenken getragen, das Gutachten im Wege des Urkundenbeweises bei seiner Überzeugungsbildung zu verwerten. Die Klägerin ist somit schon von der Klageerhebung an geschäftsunfähig (§ 104 BGB) und demzufolge nach § 71 SGG prozeßunfähig. Sie war deshalb im Verfahren der Vorinstanzen nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten. Die Revision ist somit statthaft.

Auf dem festgestellten Verfahrensmangel der fehlenden Prozeßfähigkeit der Klägerin beruht das angefochtene Urteil ohne weiteres im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG. Der unbedingte Revisionsgrund des § 551 Nr. 5 ZPO gilt gem. § 202 SGG auch im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (vgl. BSG 3, 185; 5, 177). In einem Falle des § 551 ZPO ist dem Revisionsgericht die Entscheidung über das Rechtsmittel im Sinne des § 170 Abs. 1 Satz 2 SGG versagt, d. h., es ist der Nachprüfung des Revisionsgerichts entzogen, ob sich das Berufungsurteil trotz der wirksam geltend gemachten Gesetzesverletzung etwa aus anderen Gründen als richtig erweist (BSG 4, 281, 288; 5, 177). Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben werden.

Das BSG konnte gem. § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Sache nicht selbst entscheiden. Diese war daher an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird im abschließenden Urteil zu entscheiden sein.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324118

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