Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz beim Besuch einer Wirtschaftsmesse

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Unfallversicherungsschutz eines Unternehmers beim Besuch einer Industriemesse (Weiterentwicklung von BSG 1970-01-30 2 RU 228/67 = BSG 30, 284 = SozR Nr 16 zu § 548 RVO).

 

Leitsatz (redaktionell)

Die zum Zweck des Besuchs einer Wirtschaftsmesse unternommene Geschäftsreise unterliegt auch dann dem Unfallversicherungsschutz, wenn der Besuch zwar dem informatorischen Überblick über das Angebot dienen sollte, feste Kaufabsichten jedoch nicht bestanden.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. April 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger ist selbständiger Dachdeckermeister. In seinem Unternehmen beschäftigt er etwa 25 bis 30 Arbeitnehmer. Im Frühjahr 1968 entschloß er sich, seinen Betrieb grundlegend zu modernisieren. Es sollten eine neue Halle für die Lagerung der Geräte und des Materials errichtet, neue Maschinen angeschafft sowie die Dusch- und Aufenthaltsräume der Belegschaft besser ausgestattet werden. Um sich einen umfassenden Überblick zu verschaffen, wollte der Kläger mit zwei Vorarbeitern, welche seit 20 Jahren bei ihm tätig sind, die Industriemesse in H besuchen. Seine Mitarbeiter sollten ihn aufgrund der von ihnen gewonnenen Eindrücke beraten, sodann wollte der Kläger sich entscheiden, was im einzelnen angeschafft werden sollte. Für den Besuch der Messe war einschließlich der Fahrt ein Tag vorgesehen. Den Vorarbeitern wollte der Kläger die Reisespesen ersetzen.

Am frühen Morgen des 4. Mai 1968 - einem Samstag - wurde die Fahrt mit dem Pkw des Klägers angetreten; es beteiligte sich aus eigenem Interesse ein Architekt, mit dem der Kläger in geschäftlicher Verbindung stand. Gegen 6.50 Uhr fuhr der Kläger auf einen Lastzug auf. Er erlitt Prellungen am Kopf, Brustkorb und Daumen sowie eine Sprunggelenksverstauchung.

Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 25. Juni 1968 die begehrte Unfallentschädigung, weil der Messebesuch lediglich dazu habe dienen sollen, Einrichtungs- und Ausrüstungsgegenstände zu besichtigen; dies reiche jedoch nicht aus, um einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit herzustellen.

Das Sozialgericht (SG) Aachen hat durch Urteil vom 6. Mai 1969 aus denselben Erwägungen die Klage abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 7. April 1970 unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung sowie des Bescheides der Beklagten diese dem Grunde nach verurteilt, Unfallentschädigung zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Die Beweisaufnahme habe ergeben, daß der Kläger die Fahrt nach H nicht in der festen Absicht angetreten habe, dort etwas für seinen Betrieb zu kaufen. Die Möglichkeit eines Vertragsabschlusses sei zwar nicht auszuschließen, doch sei der Messebesuch vornehmlich dazu bestimmt gewesen, sich über das einschlägige Angebot zu unterrichten. Die Rechtsprechung des RVA (EuM 32, 34), welche den Versicherungsschutz eines Unternehmers beim Besuch von Ausstellungen vom Nachweis einer ernstlichen Kaufabsicht für betriebliche Zwecke abhängig gemacht habe, trage den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht mehr genügend Rechnung. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, sei ein Unternehmer weit mehr als früher gezwungen, seinen Betrieb ständig der modernen Entwicklung anzupassen. Dazu sei erforderlich, sich zunächst allgemein einen Überblick über das einschlägige Angebot zu verschaffen. Dem dienten in erster Linie Besuche von Ausstellungen und Fachmessen, weil diese in anschaulicher Weise ein Bild von der Zusammensetzung und Arbeitsweise der Ausstellungsgegenstände vermittelten; dies sei durch das Studium einer Fachzeitschrift nicht ersetzbar. Angesichts des heutzutage viel zu reichlichen Angebots müsse man dem Besucher einer Ausstellung oder Messe zubilligen, aufgrund seiner dadurch vermittelten Eindrücke in Ruhe seine Überlegung zu treffen, bevor er sich zum Kauf entschließe. Bei dem oft verwirrenden Angebot dürfe die Kaufentscheidung nicht an Ort und Stelle erwartet werden, selbst wenn der Kaufinteressent die Messe mit einer fest umrissenen Vorstellung aufsuche. Um einer unangemessenen Ausweitung des Unfallversicherungs-(UV)schutzes vorzubeugen, müsse allerdings verlangt werden, daß für den Messebesuch weitgehend ein betriebliches Interesse im Vordergrund gestanden habe. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall, wie die Beweisaufnahme ergeben habe, erfüllt. Auf der Industriemesse sei nach der eingeholten Auskunft auch ein reichhaltiges, den Wünschen des Klägers Rechnung tragendes Angebot vorhanden gewesen. Private Gründe hätten für die Fahrt nach Hannover, für die nur ein einziger Tag vorgesehen gewesen sei, ersichtlich nicht vorgelegen. Da im Hinblick auf die vom Kläger erlittenen Unfallfolgen die Gewährung einer Entschädigung in Betracht komme, sei die Beklagte entsprechend zu verurteilen gewesen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:

Die abweichenden Erwägungen des angefochtenen Urteils seien nicht geeignet, die gefestigte Rechtsprechung des RVA zum UV-Schutz beim Besuch von Ausstellungen, Messen und ähnlichen Veranstaltungen, welche in der späteren Rechtsprechung sowie im Schrifttum Anerkennung gefunden habe, infrage zu stellen. Das vom RVA aufgestellte Erfordernis der unmittelbaren Betätigung für das eigene Unternehmen biete angesichts der Vielfalt möglicher Fälle eine eindeutige Grenzziehung zwischen unfallgeschützter und nicht versicherter Tätigkeit; es ermögliche eine einheitliche Verwaltungspraxis und diene somit der Rechtssicherheit.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte beantragt,

unter Änderung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist nicht begründet. Dem angefochtenen Urteil wird zugestimmt.

Der erkennende Senat hat in zwei am 30. Januar 1970 gefällten Entscheidungen (BSG 30, 282; 284) den UV-Schutz eines Unternehmers bei der Teilnahme an einer Versammlung seiner Berufsorganisation aufgrund der heutigen Gegebenheiten des Wirtschaftslebens in der Regel bejaht. Er hat sich der - engeren - Rechtsprechung des RVA, welches darauf abgestellt hatte, ob der Besuch einer solchen Versammlung für den Betrieb von unmittelbarer Bedeutung sei, nicht angeschlossen. Der Umfang des Versicherungsschutzes kann bei der rechtsähnlichen Frage des Besuchs von Ausstellungen und Messen im allgemeinen nicht anders beurteilt werden (s. BSG 30, 284, 286).

Das RVA hat den Besuch von Ausstellungen und Messen sowie eine zu diesem Zweck angetretene Reise eines Unternehmers lediglich dann in innerem Zusammenhang mit seinem Betrieb angesehen, wenn dies durch ein unmittelbares betriebliches Interesse veranlaßt, insbesondere eindeutig nachweisbar war, daß ein bestimmter im Unternehmen benötigter Gegenstand dort gekauft oder wenigstens ein fester Termin für einen demnächst abzuschließenden Kaufvertrag vereinbart werden sollte (EuM 32, 34 mit Nachweisen). An dieser Auffassung hat - mit einzelnen Ausnahmen (SG Freiburg, Breithaupt 1962, 23) - die spätere Rechtsprechung festgehalten (Nachweise siehe Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1.3.1971, Band II, S. 482 k II ff. sowie Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand Februar 1971, Anm. 43 zu § 548 RVO). Im Schrifttum wird weitgehend dieselbe Meinung vertreten (Lauterbach, aaO.; Schönberger, BG 1958, 504; Vollmar, BG 1961, 293; zweifelnd Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kenn-Nr. 113 S. 3; aA Brackmann, aaO, S. 482 1).

Das LSG hat mit Recht angenommen, daß diese Meinung angesichts der heutigen wirtschaftlichen Gegebenheiten zu eng ist. Kaum ein Unternehmen kommt heutzutage daran vorbei, daß sein Inhaber oder eine leitende Person des Betriebes sich auf einschlägigen Ausstellungen und Messen über die jeweilige Situation des Marktes einen Überblick verschafft, um darauf abgestimmt zu investieren; Hersteller, Handel und Gewerbe müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben, ihren Kunden jeweils das Neueste anzubieten in der Lage sein. Dem Berufungsgericht ist allerdings zuzustimmen, daß, um eine unangemessene Ausweitung des UV-Schutzes zu vermeiden, nachgewiesen sein muß, daß die Fahrt zum Ausstellungs- oder Messeort wesentlich deren Besuch bezweckt hat und nicht nur ein Nebenzweck einer vorwiegend privaten Interessen dienenden Reise gewesen ist (Bayer. LSG, Breithaupt 1956, 468, 470; Brackmann, aaO., S. 482 l).

Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts hat für den Kläger sogar ein unmittelbares betriebliches Interesse bestanden, zur Industriemesse nach H zu fahren. Er wollte dadurch sich und bewährten Mitarbeitern die Gelegenheit verschaffen zu sehen, auf welche Weise sein Betrieb am zweckmäßigsten modernisiert werden könnte. Bei der Fülle des Ausstellungsguts war eine Bestellung an Ort und Stelle nicht von vornherein zu erwarten. Zweckmäßigerweise konnte sie erst nach Auswertung des einem interessierten Messebesucher in nicht geringem Maße ausgehändigten Werbematerials und nach Abwägung der infrage kommenden Angebote erfolgen. Insoweit handelt es sich indessen um eine allgemeine Erscheinung des Wirtschaftslebens; das sogenannte Nachmessegeschäft entscheidet nicht selten über den mit der Beschickung einer Messe angestrebten wirtschaftlichen Erfolg.

Das LSG hat daher mit Recht angenommen, daß der Kläger auf einer Geschäftsreise verunglückt ist und somit nach § 548 der Reichsversicherungsordnung Anspruch auf Entschädigung der Folgen seines Arbeitsunfalls hat. Die Voraussetzungen für den Erlaß eines Grundurteils hat es zutreffend bejaht (SozR Nr. 4 zu § 130 SGG).

Die Revision der Beklagten war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

MDR 1971, 1044

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