Entscheidungsstichwort (Thema)
Strafunterbrechung bei Verbüßung einer Freiheitsstrafe und Kostentragungspflicht für Tbc-Kranken
Leitsatz (amtlich)
Ist einem zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten tbc-kranken Rentner von der Justizbehörde eine jederzeit widerrufliche Strafunterbrechung unter der Auflage gewährt worden, daß er sich in einer bestimmten Lungenheilstätte behandeln läßt, so hat der Rentenversicherungsträger die Kosten für diese stationäre Behandlung nicht zu tragen, wenn er auf die Betreuung keinen Einfluß nehmen kann.
Normenkette
StVollstrO § 45 Fassung: 1970-10-20; RVO § 1244a Abs. 5 Fassung: 1959-07-23, Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 131 Fassung: 1969-09-18; StPO § 461 Abs. 1
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. März 1974 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) die Kosten der stationären Tuberkulosebehandlung des Klägers zu tragen hat (§ 1244 a Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der im Jahre 1935 geborene Kläger bezieht Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Er verbüßt seit 1962 eine lebenslange Freiheitsstrafe. Seit 1966 wurde er wegen Lungen-Tbc stationär im Zentralkrankenhaus der Justizbehörde (Vollzugsamt) H. behandelt. Als sich das Leiden verschlechterte, gewährte ihm die Justizbehörde im November 1969 gnadenweise eine Strafunterbrechung zur Behandlung in der Lungenheilstätte G., einem offenen staatlichen Krankenhaus. Dort befand er sich vom 21. November 1969 bis 21. Mai 1970. Im Februar 1971 gewährte ihm die Justizbehörde erneut gnadenweise eine jederzeit widerrufliche Strafunterbrechung unter der Auflage, daß er sich in die Behandlung der Lungenheilstätte G. begebe. Er wurde dort vom 17. Februar 1971 bis 17. Oktober 1972 stationär behandelt.
Die Beklagte lehnte mit dem an den Kläger gerichteten Bescheid vom 12. Oktober 1972 die Übernahme dieser Behandlungskosten ab (§ 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO): Der Haftvollzug sei nicht beendet, sondern nur vorübergehend durch Heilstättenbehandlung unterbrochen gewesen; durch die gnadenweise Strafunterbrechung sei sie nicht Kostenträger geworden; mit der Tbc-Erkrankung eines Häftlings während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe entstehe kraft Gesetzes die umfassende Heilbehandlungspflicht der Vollzugsbehörde (§ 131 i. V. m. § 49 BSHG).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Pflegekosten des Krankenhauses für die stationäre Behandlung des Klägers in der Zeit vom 17. Februar 1971 bis 17. Oktober 1972 zu übernehmen; die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 5. März 1974). Es hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt: Der Kläger sei während der Strafunterbrechung als freier Mann zu betrachten. Die Haft sei nicht unterbrochen worden, um der Beklagten die Heilbehandlungskosten aufzuerlegen, sondern weil die Behandlungsmöglichkeiten im Krankenhaus der Vollzugsanstalt nicht ausgereicht hätten. Aus ärztlichen und fürsorgerischen Erwägungen sei nicht zu beanstanden, daß eine Behandlung ermöglicht werde, die über die eigenen Heilungsmöglichkeiten des Strafvollzugs hinausgehe. Die Strafunterbrechung zum Zweck einer derartigen Behandlung sei nicht eine Art des Strafvollzugs, sondern der Strafvollzug werde für die Dauer der Behandlung suspendiert. Deshalb fielen die Verantwortung für die Behandlung und die Kosten der Beklagten zu.
Die Beklagte hat Sprungrevision eingelegt und beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie führt aus, eine Strafunterbrechung nach § 45 der Strafvollstreckungsordnung (StVollstrO)könne bei lebenslanger Freiheitsstrafe nicht gewährt werden. Bei der Strafunterbrechung im Gnadenwege frage sich, ob sie begrifflich eine Strafunterbrechung im Sinne des § 45 StVollstrO sei, so daß der Kläger während der Unterbrechung frei gewesen sei. Bei § 45 StVollstrO ergebe sich die Freiheit während der Strafunterbrechung daraus, daß die Strafunterbrechung kein Straferlaß sei, sondern daß nach wie vor die gesamte Strafe verbüßt werden müsse. Diese Folgerung sei beim Kläger wegen der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht zu ziehen. Die ihm im Gnadenwege gewährte Strafunterbrechung sei nicht mit der Strafunterbrechung nach § 45 StVollstrO zu vergleichen, d. h. der Kläger habe mit der Strafunterbrechung nicht gleichzeitig die Freiheit erhalten. Dies sei der Erklärung der Justizbehörde zu entnehmen, wonach die Strafunterbrechung jederzeit widerruflich und unter der Auflage der Behandlung in einer namentlich bezeichneten Lungenheilstätte, nämlich dem Krankenhaus G. gewährt worden sei. Damit werde deutlich, daß der Kläger auch während der Strafunterbrechung noch immer in dem besonderen Gewaltverhältnis gestanden habe, das durch seine Verurteilung begründet worden sei. Er sei somit während der Heilbehandlung kein freier Mensch gewesen, sondern habe weiterhin dem Strafvollzug unterstanden.
Unabhängig davon stehe § 131 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), wonach gemäß § 49 BSHG u. a. auch stationäre Behandlung durch die Vollzugsbehörde zu gewähren sei, der Strafunterbrechung zu ihren - der Beklagten - Lasten entgegen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene zu 1), die Justizbehörde, führt aus, sie sei zur Kostentragung nicht verpflichtet. Rechtlich entscheidend sei, daß der Kläger während der Heilbehandlung frei gewesen sei. Er habe während des Aufenthalts in dem Krankenhaus keinen Weisungen der Justizbehörde unterlegen, sondern sei, was Folge aller Gnadenerweise sei, völlig aus der Strafhaft entlassen gewesen. Die Auflagen bei dem Gnadenerweis änderten hieran nichts. § 131 BSHG sei nicht umgangen.
Die übrigen Beigeladenen haben sich nicht zur Sache geäußert.
Die Revision ist zulässig und begründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, die Kosten der stationären Tbc-Behandlung des Klägers in der Lungenheilstätte zu übernehmen.
Da der Kläger Rentner und an aktiver behandlungsbedürftiger Tbc erkrankt ist, hat er gegen den Träger der Rentenversicherung grundsätzlich einen Anspruch auf Heilbehandlung (§ 1244 a Abs. 1 RVO). Gemäß § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO entfällt dieser Anspruch jedoch bei Haftvollzug. Nach § 131 i. V. m. § 49 BSHG ist einem Tbc-Kranken für die Zeit, in der er eine Freiheitsstrafe verbüßt, auch Heilbehandlung von der Vollzugsbehörde zu gewähren; sie umfaßt je nach den Erfordernissen des Einzelfalles auch stationäre Behandlung. Bei der Entscheidung über die Kostentragungspflicht ist hier die Zeit des Aufenthalts des Klägers im Krankenhaus wie eine Zeit der Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu behandeln. Zeiten der Verbüßung einer Freiheitsstrafe, worauf § 131 BSHG abstellt, sind Zeiten, die in die Strafzeit eingerechnet werden. Da der Kläger nicht gemäß § 461 Strafprozeßordnung (StPO) in das Krankenhaus E. "gebracht" wurde, sondern gnadenweise Strafunterbrechung erhalten hat, ist die Zeit seines Aufenthalts im Krankenhaus - anders als bei § 461 StPO - nicht in die Strafzeit einzurechnen. Somit hat er zwar während des Aufenthalts im Krankenhaus keine Freiheitsstrafe verbüßt, daraus folgt jedoch noch nicht die Kostentragungspflicht der Beklagten.
Der Wegfall des Heilbehandlungsanspruches eines Tbc-Kranken gegen den Rentenversicherungsträger in den Fällen des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO ist dadurch begründet, daß der Rentenversicherungsträger bei Haftvollzug sein Recht und seine Pflicht nach Abs. 5 des § 1244 a RVO, über Art und Maß seiner Leistungen nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, nicht ausüben kann. Die Zuständigkeit mit Kostentragungspflicht bei Heilbehandlung von Tbc-Kranken auf öffentliche Kosten ist auf unterschiedliche öffentliche Träger verteilt (§ 1244 a Abs. 3 Satz 2 RVO, §§ 130, 131 BSHG). Doch sollen die Betreuung eines Tbc-Kranken mit den damit verbundenen Weisungen für seine Behandlung einerseits und die Tragung der Kosten für die Behandlung andererseits bei demselben Träger liegen. Jeder Träger soll regelmäßig für die Kosten der von ihm eingeleiteten und durchgeführten Maßnahmen einzustehen haben. Die Gestaltungsfreiheit des Trägers, dem die Kosten obliegen, soll wiederum hinsichtlich der Tbc-Behandlung nicht in einem nicht zu rechtfertigenden Maß eingeschränkt werden. Die Betreuung eines Tbc-Kranken und die Finanzierung seiner Anstaltspflege aus öffentlichen Mitteln sollen regelmäßig bei einem Träger zusammenfallen (vgl. BSG in SozR Nr. 27, 25, 14, 12 zu § 1244 a RVO). Dieser Grundgedanke kommt für die Träger der Rentenversicherung insbesondere in Abs. 5 des § 1244 a RVO zum Ausdruck, wonach der Rentenversicherungsträger über die Art der Behandlung zu bestimmen hat. Wenn auch der Kläger während des Aufenthalts im Krankenhaus keine Freiheitsstrafe verbüßt hat, so stand er doch nicht der Beklagten zu von ihr zu bestimmenden Maßnahmen seiner Tbc-Heilbehandlung zur Verfügung. Die gnadenweise Strafunterbrechung war durch die Auflage, der Kläger müsse sich in die Behandlung einer bestimmten Anstalt, nämlich der Lungenheilstätte G., die nicht der Beklagten und auch nicht einem anderen Träger der Rentenversicherung untersteht, begeben, in dem für die Kostentragung entscheidenden Punkt belastet. Dadurch blieb der Kläger in seiner Bewegungsfreiheit weiterhin eingeschränkt; die Beklagte konnte infolge der Verfügung der Justizbehörde keine Anordnungen zu seiner Heilbehandlung treffen. Die Auflagen der gnadenweisen Strafunterbrechung berühren hier gerade diejenigen Umstände, die für die Heilbehandlungs- mit Kostentragungspflicht der Beklagten von entscheidender Bedeutung sind. Die Beklagte ist somit nicht verpflichtet, die Kosten der Krankenhausbehandlung zu tragen.
Das Urteil des SG war deshalb aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
Haufe-Index 1650822 |
BSGE, 115 |