Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungszeiten in der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung außerhalb des Bundesgebiets und Nachprüfung nach FANG. Bindung eines Ablehnungsbescheids und Nachprüfungsantrag nach dem FANG. Ausschlußfrist für Nachprüfungsantrag und analoge Anwendung
Leitsatz (amtlich)
Hat ein Versicherter nur Versicherungszeiten in der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin zurückgelegt und ist sein Rentenantrag deshalb nach dem Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz vom 1953-08-07 bindend abgelehnt worden, so ist der Bescheid gleichwohl in entsprechender Anwendung des FANG Art 6 § 10 S 1 bis 3 nachzuprüfen, jedoch nur, wenn dies innerhalb der dort bestimmten Ausschlußfrist (1961-12-31) beantragt worden ist.
Normenkette
FANG Art. 6 § 10 S. 1 Fassung: 1960-02-25, S. 2 Fassung: 1960-02-25, S. 3 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1250 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25; SVFAG
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. Juli 1974 wird aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. September 1969 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob die Klägerin Altersruhegeld für die Zeit von Januar 1959 bis Juni 1965 beanspruchen kann.
Die im Jahre 1884 in Polen geborene Klägerin ist Verfolgte im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes. Sie war polnische Staatsangehörige und ist jetzt angeblich staatenlos. Sie wohnte in Berlin. 1937 wanderte sie nach Argentinien aus und lebt noch dort. In der Zeit von August 1967 bis Oktober 1968 wohnte sie wieder im Land Berlin. Für sie sind 154 Wochenbeiträge für die Zeit von 1925 bis 1930 an die ehemalige Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin entrichtet worden.
Die Beklagte lehnte einen Rentenantrag der Klägerin vom 27. Januar 1959 mit Bescheiden vom 11. und 12. Mai 1959 unter Hinweis auf § 8 Abs. 1 und § 9 Abs. 1 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FAG) ab.
Die Bescheide wurden nicht angefochten.
1967 übermittelte der Bevollmächtigte der Klägerin der Beklagten einen Rentenantrag mit der Angabe, der Versicherungsfall für das Altersruhegeld solle als am 1. Januar 1959 eingetreten gelten. Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 10. April 1968 das Altersruhegeld - unter Beachtung der Regelungen im Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 (RVÄndG) - vom 1. Juli 1965 an. In dem Bescheid ist ua ausgeführt, für die Zeit vorher könne Rente nicht gezahlt werden, weil die Überprüfung der Ablehnungsbescheide vom 11. und 12. Mai 1959 gemäß Art. 6 § 10 Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz vom 25. Februar 1960 (FANG) bis zum 31. Dezember 1961 hätte beantragt werden müssen; diese Anschlußfrist habe die Klägerin versäumt.
Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung der Fristvorschrift des Art. 6 § 10 Satz 3 FANG. Sie meint, der Gesetzgeber habe übersehen, eine Übergangsvorschrift für Fälle - wie den ihrigen - zu schaffen, in denen Beitragszeiten bei der ehemaligen LVA B nach dem FAG Fremdrentenzeiten gewesen, die dann erst mit der Neufassung des § 1250 Abs. 1 Buchst. a Reichsversicherungsordnung (RVO) durch Art. 2 Nr. 1 FANG unmittelbar in die RVO einbezogen worden seien. Es sei nicht zumutbar, von einem Versicherten Erwägungen darüber zu verlangen, ob ein solch übersehener Sachverhalt etwa von anderen Fristvorschriften erfaßt sein könnte.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen; die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 24. September 1969). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verpflichtet, der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1959 bis 30. Juni 1965 das Altersruhegeld zu bewilligen. (Die Beklagte hatte im Verfahren erklärt, daß sie im Fall ihrer Verurteilung die Zahlung ins Ausland nach § 1321 Abs. 5 RVO nicht verweigern werde.)
Das LSG hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt:
Die bis 31. Dezember 1961 laufende Ausschlußfrist des Art. 6 § 10 Satz 3 FANG stehe dem Anspruch der Klägerin auf das Altersruhegeld für die Zeit vom 1. Januar 1959 an nicht entgegen. Art. 6 § 10 FANG, der die Bindung von Bescheiden durchbreche (§ 77 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), sei für Fälle des § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO i. d. F. des FANG entsprechend heranzuziehen; denn die durch das Übersehen einer Übergangsvorschrift für § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO entstandene Gesetzeslücke sei im Wege der Analogie zu schließen. Die Ausschlußfrist des Satzes 3 in Art. 6 § 10 FANG sei nicht unabhängig vom Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Bestandskraft der Ablehnungsbescheide anzuwenden. Der bis Ende Dezember 1961 befristeten Nachprüfung unterlägen nur solche Rentenansprüche, die unter der Geltung des bis Ende 1958 bestehenden Rechts bindend abgelehnt worden seien. Die Bescheide vom 11. und 12. Mai 1959 seien durch die auf den 1. Januar 1959 rückwirkende Inkraftsetzung des FANG unrichtig geworden. Die Ausschlußfrist auf derartige Ablehnungsbescheide anzuwenden, liefe ihrem Zweck zuwider. Sie sei für die Prüfung, ob die Neuregelung günstiger sei, sinnvoll, wenn ein Ablehnungsbescheid vor dem Inkrafttreten des FANG bindend geworden sei. Art. 6 § 24 FANG, wonach die Rente vom 1. Januar 1959 zu gewähren sei, wenn erst durch das FANG ein Anspruch begründet werde, sei erfüllt. Die Voraussetzungen des Anspruches der Klägerin auf das Altersruhegeld hätten bereits am 1. Januar 1959 vorgelegen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie führt aus, Art. 6 § 10 FANG sei einschließlich der Ausschlußfrist analog anzuwenden. Es stehe nicht entgegen, daß die Ablehnungsbescheide erst im Mai 1959 erteilt worden seien. Die vor Verkündung des FANG erteilten Ablehnungsbescheide seien rechtskräftig geblieben, wenn nicht innerhalb der Ausschlußfrist ihre Überprüfung beantragt worden sei.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Rentenantrag der Klägerin von 1967 begründet nicht einen Anspruch auf das Altersruhegeld für die Zeit vom 1. Januar 1959 bis 30. Juni 1965. Der Versicherungsfall des Alters der Klägerin ist am 1. Januar 1959 eingetreten (§ 1248 Abs. 7 RVO i. d. F. des RVÄndG). Ihr Rentenantrag vom 27. Januar 1959 ist durch die Bescheide der Beklagten vom 11. und 12. Mai 1959 nach den damals geltenden Vorschriften des FAG abgelehnt worden. Diese Bescheide wurden bindend, weil die Klägerin sie nicht angefochten hat (§ 77 SGG). Damit war ihr Rentenantrag abschließend erledigt. Er hätte mit Wirkung vom 1. Januar 1959 an nur wiederaufleben können, wenn die bindende Wirkung der Bescheide beseitigt worden wäre. Eine rechtliche Grundlage dafür besteht hier unmittelbar nicht.
Der übereinstimmenden Auffassung des LSG und der Beklagten, das Gesetz sei wegen Fehlens einer Übergangsvorschrift für die Fälle des § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO i. d. F. des FANG lückenhaft und die Lücke sei durch eine entsprechende Anwendung des Art. 6 § 10 FANG auszufüllen, ist zuzustimmen. Nach Art. 6 § 10 Satz 1 und 2 FANG ist in Fällen, in denen Zeiten nach §§ 15, 16 Fremdrentengesetz (FRG) zurückgelegt sind und ein Leistungsantrag bindend abgelehnt worden ist, auf Antrag zu prüfen, ob die neuen Vorschriften günstiger sind; ggf. ist ein neuer Bescheid zu erteilen. Hiermit wird beim Vorliegen der angeführten Voraussetzungen die bindende Wirkung eines Bescheides beseitigt. Für die Änderung des bisherigen Rechts durch § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO i. d. F. des FANG fehlt eine solche Übergangsvorschrift, obwohl die Ausgangslage des Gesetzes und der mit der erwähnten Übergangsvorschrift verfolgte Zweck die gleichen sind: Die Verbesserungen sollen den Versicherten, die davon betroffen werden, unabhängig davon zugute kommen, ob ein Leistungsantrag noch anhängig oder schon abgelehnt worden ist.
Dagegen ist die Auffassung des LSG, Satz 3 des Art. 6 § 10 FANG mit der bis zum 31. Dezember 1961 begrenzten Ausschlußfrist für die Stellung eines Nachprüfungsantrages sei in diesem Zusammenhang nicht entsprechend anzuwenden, abzulehnen. Es ist nicht recht verständlich, warum der befristeten Nachprüfung nur Ablehnungsbescheide unterliegen sollen, die bis zum 31. Dezember 1958 bindend geworden sind. Es trifft zwar zu, daß die Bescheide von Mai 1959 durch die rückwirkende Inkraftsetzung des FANG materiell unrichtig geworden sind. Damit ist aber ihre formelle Bindung nicht beseitigt. Diese konnte mit Wirkung vom 1. Januar 1959 an nur durch einen Nachprüfungsantrag nach Art. 6 § 10 FANG beseitigt werden.
Die Meinung der Klägerin, die analoge Anwendung der Ausschlußfrist verletze Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts, ein Betroffenen habe nämlich aus Art. 6 § 10 FANG nicht zweifelsfrei herleiten können, daß die Nachprüfung auch bei Bescheiden, die § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO i. d. F. des FANG betreffen, bis 31. Dezember 1961 hätte beantragt werden müssen, ist nicht zu billigen. Auch Satz 3 des Art. 6 § 10 FANG ist bei Fällen des § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO i. d. F. des FANG entsprechend anzuwenden. Die analoge Anwendung einer Ausschlußfrist kann wohl gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen, etwa wenn mit der Fristbestimmung Eingriffe in Rechte des Betroffenen verbunden sind oder wenn sie die Grundlage für belastende Verwaltungsakte bildet; aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes müssen gesetzliche Vorschriften klar und verständlich und ihre Rechtsfolgen erkennbar und voraussehbar sein. Bei Art. 6 § 10 FANG können jedoch die Sätze 1 und 2 einerseits und Satz 3 andererseits nicht getrennt betrachtet werden. Art. 6 § 10 FANG ist als einheitliches Ganzes zu verstehen. Die Vorschrift enthält insgesamt eine Begünstigung der von der Neuregelung durch die §§ 15, 16 FRG betroffenen Versicherten. Durch Art. 6 § 10 FANG wird die Nachprüfung bindend gewordener Bescheide ermöglicht. Die zeitliche Begrenzung des Nachprüfungsantrages bedeutet nicht eine Schlechterstellung oder einen Eingriff in Rechte der Betroffenen. Vielmehr gewährt Art. 6 § 10 FANG ihnen nur Rechte. Versicherte, bei denen der Fall des § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO i. d. F. des FANG vorliegt, hätten keine Möglichkeit gehabt, die Nachprüfung bindender Bescheide zu beantragen, wenn Art. 6 § 10 FANG nicht auf solche Fälle entsprechend angewendet würde. Die zeitliche Begrenzung der Nachprüfungsmöglichkeit lag im Ermessen des Gesetzgebers; sie dient der Rechtssicherheit. Die analoge Anwendung auch des Satzes 3 des Art. 6 § 10 FANG bedeutet, daß die Klägerin im Jahre 1967 die Nachprüfung der Bescheide von Mai 1959 wegen Versäumung der Ausschlußfrist nicht mehr beantragen konnte.
§ 1300 RVO kann hier nicht angewendet werden, wie das LSG zu Recht entschieden hat. Im Rahmen dieser Vorschrift kann nur geprüft werden, ob der Versicherungsträger eine Leistung nach dem Recht, das er zur Zeit des Erlasses seines Bescheides anzuwenden hatte, zu Unrecht abgelehnt hat. Rückwirkende Gesetzesänderungen können bei dieser Prüfung nicht berücksichtigt werden.
Somit ist das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des LSG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen