Orientierungssatz

Anwendbarkeit von § 4 Abs 3 bis 5 des Gesetzes über die Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (NVG) nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungsneuregelungsgesetzes (ArVNG):

Für nach 1956 eingetretene Versicherungsfälle ist NVG § 4 Abs 3 durch ArVNG Art 3 § 2 außer Kraft gesetzt worden. Die Absätze 4 und 5 des NVG § 4 gelten jedoch sinngemäß fort, weil auf diese Weise dem Wiedergutmachungsprinzip, das im Rahmen der Rentenversicherung Verfolgten gegenüber zu beachten ist, Rechnung getragen wird (vgl BSG 1967-06-29 4 RJ 633/64, BSG 1967-07-06 5 RKn 72/64).

 

Normenkette

NVG § 4 Abs. 3-5; ArVNG Art. 3 § 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.03.1965)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 25.03.1964)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. März 1965 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Weise die Zeiten der Freiheitsentziehung und des Auslandsaufenthalts des Klägers - beide verursacht durch politische Verfolgung - bei der Berechnung seiner Versichertenrente zu bewerten sind. Der Kläger bezieht aufgrund des Bescheides der Beklagten vom 30. April 1963 Rente wegen - nach 1956 eingetretener - Berufsunfähigkeit. Die Zeiten des Auslandsaufenthaltes und der Freiheitsentziehung - vom 1. Februar 1935 bis 8. Mai 1945 - wurden als Ersatzzeit i.S. des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) berücksichtigt.

Mit der Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, diese Zeiten als Beitragszeiten - mit Beiträgen der Beitragsklasse VII - zu bewerten und ihm eine entsprechend höhere Rente zu zahlen. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Die Berufung hatte jedoch Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte nach dem Antrag des Klägers verurteilt.

Nach den Feststellungen des LSG war der Kläger bis November 1930 als Land- und Industriearbeiter tätig. Er leistete zuletzt bis November 1930 Beiträge der Klasse VII. Anschließend war er arbeitslos. Nach dem von der Beklagten am 15. März 1956 ausgestellten Ersatzzeitschein ist die Zeit vom 1. Februar 1935 bis 8. Mai 1945 als Ersatzzeit - mit 537 Wochenbeiträgen der Klasse VII - anzurechnen (§§ 3 und 4 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 - VerfolgtenG -).

Das LSG hält die Auffassung der Beklagten, daß die §§ 3 und 4 VerfolgtenG , auf die der Kläger seinen Anspruch stützt, durch das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) außer Kraft gesetzt worden seien, in dieser Allgemeinheit nicht für zutreffend. Das VerfolgtenG sei nur insoweit aufgehoben, als seine Bestimmungen den im ArVNG getroffenen Regelungen entgegenstünden oder mit diesen gleichlautend seien. Dies müsse jeweils geprüft werden. Die Berücksichtigung einer Verfolgungszeit als Ersatzzeit nach neuem Recht sei beim Bestehen von Beweisschwierigkeiten geboten. Sonst komme es darauf an, welche der beiden Regelungen - VerfolgtenG oder § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO - der Wiedergutmachung am besten gerecht werde. In dem vorliegenden Fall sei der Versicherungsträger nach § 4 VerfolgtenG verpflichtet, dem Kläger im Hinblick auf seine letzten Beitragsleistungen vor der Verfolgung 537 Wochenbeiträge der Klasse VII gutzubringen.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die - zugelassene - Revision der Beklagten. Sie meint, daß aus Gründen der Gleichbehandlung aller Ersatzzeittatbestände die Zeit der politischen Verfolgung des Klägers nur als Ersatzzeit i.S. des § 1251 RVO bewertet werden könne. Die Anwendung des § 4 VerfolgtenG komme für Versicherungsfälle nach 1956 nicht mehr in Betracht. Sie stellt den Antrag,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17. März 1965 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 25. März 1964 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Der von dem Kläger geltend gemachte Anspruch auf Erhöhung der Rente ergibt sich nicht aus § 4 Abs. 3 VerfolgtenG . Diese Vorschrift ist durch Art. 3 § 2 ArVNG außer Kraft gesetzt worden, sie kann daher auf Versicherungsfälle nach 1956 - um einen solchen Fall handelt es sich hier - keine Anwendung finden. Der erkennende Senat hat keinen Anlaß, von der hierzu bestehenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) - vgl. Urteile vom 9. Mai 1967, Az.: 1 RA 295/65; 31. Mai 1967, Az.: 12 RJ 80/66; 29. Juni 1967, Az.: 4 RJ 633/64; 6. Juli 1967, Az.: 5 RKn 72/64 - abzuweichen. Das LSG hat seine Entscheidung aber offensichtlich auf § 4 Abs. 3 VerfolgtenG gestützt. Dies ist zwar nicht ausdrücklich ausgesprochen, es ergibt sich aber aus der Gesamtheit der Entscheidungsgründe. Die Verpflichtung der Beklagten zur Anrechnung von 537 Wochenbeiträgen der Klasse VII ist nämlich damit begründet worden, daß der Kläger vor Beginn der Verfolgungsmaßnahmen Beiträge dieser Klasse erbracht habe. Das Urteil kann daher nur auf § 4 Abs. 3 VerfolgtenG - hier heißt es u.a., daß sich die Höhe der Steigerungsbeträge für Verfolgungszeiten nach dem zuletzt entrichteten Beitrag richte - abgestellt sein.

Auch aus dem von der Beklagten ausgestellten Ersatzzeitschein kann der Kläger seinen Anspruch nicht herleiten. Eine Verpflichtung der Beklagten des Inhalts, daß dem Kläger für die Zeit der politischen Verfolgung 537 Beiträge der Klasse VII gutzubringen seien, ergibt sich daraus nicht. Die Ausstellung des Ersatzzeitscheines beruht auf § 9 VerfolgtenG i.V.m. § 6 der 1. Verordnung zur Durchführung des VerfolgtenG im Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1950 (GVBl S. 93). Hier heißt es, daß, soweit ein Anspruch auf Rentenleistung noch nicht bestehe, für die Feststellung der Ersatzzeiten und Verdiensteinbußen das Verfahren nach § 1445 Abs. 2 RVO entsprechend gelte. Diese Vorschrift lautete: "Der Versicherte kann von der Versicherungsanstalt die Feststellung der Gültigkeit der verwendeten Marken verlangen. Hat die Versicherungsanstalt die Versicherungspflicht oder die Versicherungsberechtigung anerkannt, so kann der Rentenanspruch nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß die Marken zu Unrecht verwendet sind". Auf sie ist nur hinsichtlich des anzuwendenden Verfahrens Bezug genommen worden. Allenfalls kann durch die Bezugnahme auch auf eine Bindung der Beklagten aus dem Ersatzzeitschein an die Anerkennung der Verfolgung und ihre zeitliche Dauer geschlossen werden. Beides ist jedoch nicht streitig. Die Erwähnung der Beitragsklasse VII ist, wie die Anführung der §§ 3 und 4 VerfolgtenG erkennen läßt, lediglich ein Hinweis auf die - sich aus der damaligen Gesetzeslage ergebende - Rechtsfolge der Ersatzzeitanerkennung. Sie ist durch das ArVNG überholt.

Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, daß in dem vorliegenden Fall die Entscheidung des LSG im Ergebnis richtig ist. Es ist nämlich zu beachten, daß die Abs. 4 und 5 des § 4 VerfolgtenG durch das ArVNG nicht aufgehoben worden sind, sondern sinngemäß fortgelten. Dies ergibt sich aus dem dem VerfolgtenG innewohnenden Wiedergutmachungsgrundsatz; er ist durch das ArVNG nicht beseitigt worden. Von der Weitergeltung dieser Vorschriften ist das BSG bereits in mehreren Entscheidungen ausgegangen - vgl. u.a. die bereits erwähnten Urteile vom 29. Juni 1967 und vom 6. Juli 1967 -; an dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Es muß dem Verfolgten unbenommen bleiben, einen von § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO nicht erfaßten Schaden auf dem Gebiete der Rentenversicherung auch in nach 1956 eingetretenen Versicherungsfällen geltend zu machen. Dieser muß ihm - bei Glaubhaftmachung - unter sinnentsprechender Anwendung des § 4 Abs. 4 oder 5 VerfolgtenG ersetzt werden.

Der erkennende Senat vermag jedoch keine abschließende Entscheidung zu treffen; das Urteil des LSG enthält nicht die dafür erforderlichen Feststellungen. Insbesondere ergibt sich kein Anhalt dafür, daß das LSG als glaubhaft gemacht angesehen hat, der Kläger habe für den Fall, daß er von Verfolgungsmaßnahmen verschont geblieben sei, auch weiterhin Beiträge der Klasse VII entrichtet. Zwar hat er bis November 1930 Beiträge dieser Klasse gezahlt, jedoch war er bereits von da an - also lange vor Beginn der Verfolgungsmaßnahmen - arbeitslos.

Der Rechtsstreit muß hiernach an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2365181

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