Leitsatz (amtlich)
Die Erhöhung der Witwenrente wegen Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes (RVO § 1268 Abs 2 Nr 2) entfällt jedenfalls, wenn das Kind volljährig wird.
Orientierungssatz
Ein Redaktionsversehen muß, um den Richter zur Gesetzeskorrektur zu ermächtigen, offensichtlich und aus dem Werdegang des Gesetzes zu erklären sein. Zum Begriff "Erziehung" in RVO § 1268 Abs 2 Nr 2.
Normenkette
RVO § 1268 Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 1. Dezember 1966 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Zwischen den Beteiligten ist es streitig, ob die Höhe der Witwenrente der Klägerin davon beeinflußt wurde, daß ihr waisenrentenberechtigter Sohn das 21. Lebensjahr vollendete.
Die Klägerin hatte die erhöhte Witwenrente bezogen, weil sie ein waisenrentenberechtigtes Kind erzog (§ 1268 Abs. 2 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Der Sohn der Klägerin befand sich in Schulausbildung. Vom 1. Oktober 1965 an setzte die Beklagte die Witwenrente auf den Satz von sechs Zehntel der Berufsunfähigkeitsrente herab (§ 1268 Abs. 1 RVO), weil der Sohn volljährig geworden war, die Klägerin also nicht mehr erziehungsberechtigt sei (Bescheid vom 7. Oktober 1965). Erst von Juli 1966 an, dem Monat, in dem die Klägerin das 45. Lebensjahr beendet hatte, gestand ihr die Beklagte die erhöhte Witwenrente wieder zu.
Mit der Klage hat die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Leistung der höheren Rente auch für die Zwischenzeit begehrt. Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat mit Urteil vom 1. Dezember 1966 der Klage stattgegeben. Seines Erachtens beruht die Gesetzesfassung, "solange der Berechtigte ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht," auf einem Redaktionsversehen. Der Ausdruck "erzieht" sei aus älteren Vorschriften übernommen worden. Dort habe dieses Wort nicht den Sinn gehabt, das Recht auf Rente in seiner Dauer zu beschränken. Vielmehr sei Waisenrente früher überhaupt nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gewährt worden. Infolgedessen sei auch dem Bezug der Witwenrente eine Zeitgrenze gesetzt gewesen; diese habe vor dem Ablauf des Erziehungsrechts gelegen. An eine Zeitschranke habe aber der Gesetzgeber nicht gedacht, als er den Begriff "erzieht" in § 1268 RVO aufgenommen habe.
Das SG hat die Berufung zugelassen. Die Beklagte hat unmittelbar Revision eingelegt. Sie beantragt, das sozialgerichtliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie versteht § 1268 Abs. 2 Nr. 2 RVO dahin, daß die "große" Witwenrente nur derjenigen Witwe zustehen solle, die ihrer Erziehungsaufgabe nachkomme und deshalb an einem regelmäßigen Lohnerwerb gehindert werde. Auch sonst stelle es das Gesetz für den Bezug dieser Witwenrente auf Umstände ab, die - wie ein höheres Lebensalter oder die Einbuße der Erwerbsfähigkeit - eine Verdienstmöglichkeit erfahrungsgemäß erschwerten. Dagegen werde dem Geldbedarf des erwachsenen Kindes, das sich noch in Schul- oder Berufsausbildung befinde, durch die Gewährung von Waisenrente Rechnung getragen.
Die Klägerin ist im gegenwärtigen Rechtszuge nicht vertreten.
Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig (§ 161 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und begründet.
Nach § 1268 Abs. 2 Nr. 2 RVO hatte die Klägerin einen Anspruch auf die erhöhte Witwenrente nur, "solange" sie ihren waisenrentenberechtigten Sohn "erzog". Was das bedeutet, wird durch die gedankliche Verbindung mit dem Lebens- und Rechtsverhältnis zwischen der Witwe und ihrem Kinde verdeutlicht. Der in erster Linie im Familienrecht verwendete Begriff der Erziehung ist - wenigstens in seinen Grundzügen - auch für das Recht der Rentenversicherungen zu beachten. Ob dieser Begriff hier ohne jede Abwandlung den gleichen Inhalt wie im bürgerlichen Recht hat, kann auf sich beruhen. Es besteht aber kein Anlaß für die Annahme, daß hier von Erziehung noch die Rede sein soll, wenn nach der bürgerlich-rechtlichen Ordnung davon nicht mehr zu sprechen wäre. Infolgedessen ist davon auszugehen, daß das Recht und die Pflicht der Klägerin zur Erziehung ihres Sohnes mit dem Eintritt seiner Volljährigkeit endeten (§§ 2, 1626, 1631 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -).
Der Überlegung des SG, daß der Ausdruck "erzieht" versehentlich in die Fassung des § 1268 RVO eingegangen sei, kann man nicht zustimmen. Ein Redaktionsversehen müßte, um den Richter zur Gesetzeskorrektur zu ermächtigen, offensichtlich und aus dem Werdegang des Gesetzes zu erklären sein. Das trifft nicht zu. Die Entwicklungsgeschichte der Normen über Witwenrente in den Rentenversicherungen im allgemeinen und die Entstehungsgeschichte des § 1268 Abs. 2 RVO im besonderen lassen den Gedanken an einen redaktionellen Gesetzesfehler nicht aufkommen. Vielmehr wurde in der Vergangenheit dem Merkmal der Erziehung für die Gestaltung und Anwendung dieser Vorschriften eine besondere Tragweite beigemessen. Die Idee der "Erziehungswitwenrente" wurde in der Arbeiterrentenversicherung 1938 durch das sogenannte Ausbaugesetz verwirklicht. Schon bald nach dieser ersten Regelung wurde gefragt, ob "Erziehung" gleichzusetzen sei mit Besitz und Ausübung der elterlichen Gewalt, unabhängig davon, ob das Kind im Haushalt der Witwe lebe und von dieser betreut werde (dazu: RVA in AN 1939, 454), oder ob und in welcher Weise "Erziehung" zu unterscheiden sei von der "Pflicht zur Sorge" oder von der "tatsächlichen Sorge" für das Kind, von "Unterhalten" oder (Beisich-) "Haben" des Kindes (vgl. Bothe, Deutsche Rentenversicherung 1939, 20, 21). Dieser verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten war sich der Gesetzgeber der Rentenversicherungsreform des Jahres 1957 bewußt. Er bediente sich beispielsweise nicht der Formel des § 41 Abs. 1 Buchst. c des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), wonach Ausgleichsrente die Witwen erhalten, die für mindestens ein Kind "zu sorgen haben" (in der Neufassung vom 20. Januar 1967 heißt es einfach "sorgen"; zur Änderung: Bundesratsdrucksache 370/66, Begr. zu Nr. 36 (§ 41); ferner BSG SozR Nr. 3 zu BVG § 40). Zur Neuregelung der Arbeiterrentenversicherung hatte die SPD-Fraktion im § 29 ihres Entwurfs (Bundestagsdrucksache II/2314) vorgeschlagen, gegenüber anderen Witwen diejenige durch eine gesteigerte Leistung besser zu stellen, die "beim Tode des Versicherten Kinder unter 18 Jahren zu versorgen hat". Zum Unterschied davon sah die Regierungsvorlage eine Lösung vor, welche die Mitte hielt zwischen der Forderung, daß die Witwe für das Kind wirklich und ständig betreuend tätig sein müsse, und dem Gedanken, daß es genüge, wenn sie bloß geistig-seelisch für die Entwicklung des Kindes wirke. Nach § 1272 des Regierungsentwurfs (Bundestagsdrucksache II/2437) sollte die Leistungssteigerung davon abhängig sein, daß die Witwe ein waisenrentenberechtigtes Kind "im eigenen Haushalt erzieht". Die Worte "im eigenen Haushalt" wurden vom Ausschuß für Sozialpolitik gestrichen, weil nicht unterschieden werden sollte, ob das Kind im Haushalt der Witwe oder mit dieser beim Großvater aufgenommen sei. Damit wurde eine Fassung gewählt, die einer Verweisung auf die bürgerlich- und familienrechtliche Ordnung nahe kommt (vgl. auch § 590 Abs. 2 Satz 1 RVO).
Schon früher ist mit Rücksicht auf das Tatbestandsmerkmal "erzieht" das Bedenken erhoben worden, daß eine wortgetreue Gesetzesauslegung über den Zweck des Witwenrentenanspruchs hinausgehen könnte, nämlich dann, wenn die Witwe für ihr Kind tatsächlich nicht sorgt. War doch für die gesetzliche Regelung mit bestimmend, daß eine Witwe sich ohne Existenzsorgen ihren Aufgaben als Mutter solle widmen können; daran sollte sie möglichst nicht durch Lohnarbeit und Beschaffung der Unterhaltsmittel gehindert werden (vgl. RVA in AN 1939, 454). Daß auch die Zielsetzung des § 1268 Abs. 2 RVO auf solche und ähnliche wirtschaftlichen Belange der Witwe abgestimmt ist, wird durch die übrigen Tatbestände dieser Vorschrift verdeutlicht. Von diesem Zweck her muß es um so mehr gerechtfertigt erscheinen, daß die wegen Erziehung eines Kindes gewährte Leistungszulage jedenfalls dann entfällt, wenn der gesetzliche Erziehungsauftrag der Witwe gegen Volljährigkeit des Kindes überhaupt erloschen und daher von ihr ein Verwertung der freigewordenen Arbeitskraft zu erwarten ist.
Hiernach ist der Bescheid der Beklagten rechtmäßig, das angefochtene Urteil ist nicht aufrecht zu erhalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen