Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit während einer Ersatzzeit
Leitsatz (amtlich)
An der Rechtsprechung, daß Zeiten, in denen dem Versicherten die Entrichtung von Beiträgen aus rechtlichen Gründen unmöglich war, keine Ersatzzeiten sein können, wird auch für den Fall festgehalten, daß eine während des militärischen Dienstes bestehende Krankheit der Beitragsentrichtung entgegenstand.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. Dezember 1972 geändert.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 23. April 1970 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Anrechnung einer Zeit des militärischen Dienstes als Ersatzzeit.
Der 1908 geborene Kläger war bis zu seiner im August 1939 erfolgten Einberufung zum Wehrdienst angestelltenversicherungspflichtig tätig. Nach einer im Mai 1942 erlittenen Verwundung befand er sich bis Mai 1945 abwechselnd in Lazaretten und bei Ersatztruppenteilen sowie kurzfristig auch im Arbeitsurlaub. Wegen der Verwundungsfolgen erhielt er in der Zeit von Dezember 1942 bis Mai 1945 Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 24. April 1969 gewährte ihm die Beklagte ab 1. Februar 1969 Berufsunfähigkeitsrente. Seine auf Anrechnung weiterer Beitrags- und Ausfallzeiten gerichtete Klage wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen. Im Berufungsverfahren begehrte der Kläger auch die Anrechnung der Zeit vom 1. Dezember 1942 bis 31. Mai 1945 als Ersatzzeit. Unter Zurückweisung der Berufung im übrigen verurteilte das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte, diese Zeit als Ersatzzeit anzurechnen. Der Kläger habe auch damals militärischen Dienst geleistet. Der Begründung einer Ersatzzeit stehe nicht entgegen, daß er Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit bezogen habe und deshalb nach damaligem Recht versicherungsfrei und nicht in der Lage gewesen sei, rechtswirksam freiwillige Beiträge zu entrichten. Der Wortlaut des § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) mache die Anrechnung einer Ersatzzeit nicht davon abhängig, daß während des Ersatzzeittatbestandes die rechtliche Möglichkeit zur Beitragsentrichtung bestanden habe. Eine einschränkende Auslegung erscheine dann nicht zulässig, wenn - wie hier - eine während des militärischen Dienstes vorliegende Krankheit zu Berufsunfähigkeit und damit zur rechtlichen Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung geführt habe. Die Ursächlichkeit des militärischen Dienstes für die dem Kläger während dieser Zeit entstandenen Nachteile sei durch die mit dem Versicherungsfall oder dem Rentenbezug eingetretene rechtliche Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung nicht unterbrochen worden, denn seine Berufsunfähigkeit und damit der Rentenbezug hätten mit dem militärischen Dienst selbst in unmittelbarem Zusammenhang gestanden. Die Verweigerung einer Ersatzzeit führe in derartigen Fällen zu unbefriedigenden Ergebnissen; ein Versicherter, der neben den mit dem militärischen Dienst allgemein verbundenen Nachteilen noch einen so starken gesundheitlichen Nachteil erlitten habe, daß Berufsunfähigkeit eingetreten sei, würde schlechter gestellt sein als derjenige, der ohne oder mit geringerem gesundheitlichen Nachteil und damit ohne Berufsunfähigkeit oder Rentenbezug den Kriegsdienst überstehen konnte.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte (sinngemäß),
das Urteil des LSG zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG in vollem Umfang zurückzuweisen.
Sie hat mit Bescheid vom 1. November 1973 die dem Kläger gewährte Berufsunfähigkeitsrente in Altersruhegeld umgewandelt, ohne die streitige Zeit als Ersatzzeit zu berücksichtigen. Sie rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Der Grund für die Gleichstellung von Ersatzzeiten und Beitragszeiten liege darin, daß die mit diesen Zeiten verbundenen außergewöhnlichen Umstände eine Beitragsleistung nicht erwarten ließen. Auf den Kausalzusammenhang zwischen dem Kriegsdienst und dem Eintritt der Berufsunfähigkeit komme es deshalb hier nicht entscheidend an.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Aufgrund des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG werden bei Erfüllung auch der in Abs. 2 genannten Voraussetzungen u. a. Zeiten des während eines Krieges geleisteten militärischen Dienstes i. S. des § 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als Ersatzzeiten angerechnet. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, von der auch das LSG nicht generell abweichen will, gilt das jedoch nur, sofern der Versicherte überhaupt die rechtliche Möglichkeit hat, auch während dieser Zeiten Beiträge zur sozialen Rentenversicherung wirksam zu entrichten. Das ergibt sich zwar noch nicht zwingend aus dem Wortlaut dieser Vorschrift; es folgt aber aus dem Wesen der Ersatzzeiten und dem Sinn und Zweck ihrer gesetzlichen Regelung. Ersatzzeiten sollen als "Zeiten ohne Beitragsleistung" (§ 27 Abs. 1 Buchst. b AVG) ihrem Wesen nach Beitragszeiten ersetzen; es sind Zeiten, in denen mit Rücksicht auf die im Gesetz festgelegten besonderen Tatbestände und die mit diesen verbundenen außergewöhnlichen Umstände von dem Versicherten eine Beitragsleistung in der Regel nicht zu erwarten war. Für die Anwendung der Ersatzzeitregelung ist deshalb nur Raum, wenn dem Versicherten infolge dieser außergewöhnlichen Umstände Beitragszeiten verlorengehen konnten. Zeiten, in denen ihm die Entrichtung von Beiträgen aus rechtlichen Gründen ohnehin unmöglich war, können mithin keine Ersatzzeiten sein, weil während solcher Zeiten auch durch außergewöhnliche Umstände kein Beitragsverlust eintreten konnte (BSG in SozR Nr. 8, 16, 21, 22, 58 zu § 1251 RVO; Nr. 5 zu § 119 AusbauG - unter Hinweis auf die entsprechende Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes - sowie Urteil vom 6.2.1974 - 12 RJ 380/72 -).
Entgegen der Auffassung des LSG besteht kein überzeugender Grund, von dieser Rechtsprechung im vorliegenden Fall abzuweichen. Für einen ähnlich gelagerten Fall (Invalidität mit Rentenbezug im Anschluß an den Wehrdienst) hat das bereits der 12. Senat in seinem vorstehend genannten Urteil vom 6. Februar 1974 abgelehnt. Er hat darauf hingewiesen, die "Ersatzfunktion" von Beitragszeiten führe zwingend zur Prüfung, ob der Versicherte in der in Betracht kommenden Zeit rechtlich imstande war, Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten. Wenn Rechtsgründe die Versicherungsmöglichkeit ausschlossen, fehle es an der Ausgangslage, nämlich der versicherungsrechtlichen Benachteiligung, die auszugleichen gerade Sinn und Zweck der Ersatzzeiten ist. Dem schließt sich der erkennende Senat an. Der 12. Senat ist auch dem Argument entgegengetreten, Versicherte mit zur Invalidität bzw. Berufsunfähigkeit und zum Rentenbezug führenden gesundheitlichen Schäden würden gegenüber Versicherten mit geringeren gesundheitlichen Beeinträchtigungen benachteiligt. Er hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, daß sich ein solches nicht immer befriedigendes Ergebnis allein aus dem damaligen Recht zur Versicherungsberechtigung erklärt und daß diese Folgen durch die Rechtsprechung nicht beseitigt werden können. Davon abgesehen werden nachteilige Folgen auch oft - worauf die Beklagte zu Recht hinweist - durch die Regelung des § 36 Abs. 1 Nr. 6 AVG ausgeglichen, wogegen die Rechtsprechung des LSG ihrerseits wieder zu unbefriedigenden Ergebnissen führen würde. Das LSG will den zeitlichen Zusammenhang zwischen der die Berufsunfähigkeit auslösenden Krankheit und dem Wehrdienst genügen lassen; es müßte also auch bei nicht bestehendem ursächlichen Zusammenhang mit dem Wehrdienst Ersatzzeiten zugestehen. Damit würde ohne einleuchtenden Grund danach differenziert, ob eine Krankheit während oder außerhalb des Wehrdienstes zur Berufsunfähigkeit geführt hat.
Ob der Kläger während der streitigen Zeit von Dezember 1942 bis Mai 1945 die rechtliche Möglichkeit hatte, Beiträge zur sozialen Rentenversicherung wirksam zu entrichten, ist nach dem damals geltenden Recht zu beurteilen (SozR Nr. 8, 22 zu § 1251 RVO). Nach diesem war der Kläger sowohl wegen der bei ihm bestehenden Berufsunfähigkeit als auch wegen des darauf beruhenden Ruhegeldbezuges versicherungsfrei; er durfte also weder Pflichtbeiträge (§ 13 AVG in der bis zum 31.5.1945 geltenden Fassung des § 23 der VO vom 1.9.1938, RGBl I, 1142; vgl. Art. 7, 25 der Vereinfachungs-VO vom 17.3.1945, RGBl I, 41) noch freiwillige Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichten (§ 190 AVG aF i. V. m. § 1443 RVO aF).
Eine freiwillige Weiterversicherung in der Arbeiterrentenversicherung war dem Kläger ebenfalls nicht möglich, weil er zu diesem Versicherungszweig bisher keine Pflichtbeiträge entrichtet hatte (§ 1244 Satz 4 RVO aF). Allerdings hätte er in der Arbeiterrentenversicherung möglicherweise eine Selbstversicherung begründen und insoweit freiwillige Beiträge entrichten können, denn er war damals nicht versicherungspflichtig und erst 34 Jahre alt (§ 1243 RVO aF). Auch hinderte Berufsunfähigkeit in der Angestelltenversicherung nicht das Entrichten freiwilliger Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung; das war vielmehr nur beim Bestehen von Invalidität ausgeschlossen (§ 1443 RVO aF). Ob der Kläger aber während der streitigen Zeit invalide war, das ist bisher nicht festgestellt worden. Einer Klärung dieser Frage bedarf es jedoch nicht. Das Entgehen von freiwilligen Beiträgen in der Arbeiterrentenversicherung könnte nur zur Anrechnung von Ersatzzeiten nach § 1251 RVO in dem Versicherungszweig der Arbeiterrentenversicherung führen (vgl. SozR Nr. 22 zu § 1251 RVO, Aa 23). Dann wäre nach § 1251 Abs. 2 RVO Voraussetzung aber auch eine vorherige Versicherung in diesem Versicherungszweig (vgl. § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO). Der Kläger war jedoch vorher nur in der Angestelltenversicherung versichert. Nach alledem hat es die Beklagte mit Recht abgelehnt, bei der Berechnung der Rente des Klägers die Zeit vom 1. Dezember 1942 bis 31. Mai 1945 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen. Auf ihre Revision muß deshalb das Urteil des LSG geändert werden; die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende sozialgerichtliche Urteil ist in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Fundstellen