Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriegsopferversorgung. Zusammenhangsbeurteilung. Schädigungsfolge. freie Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Das Gericht verletzt sein Recht auf freie Beweiswürdigung, wenn es bei der Beurteilung des Zusammenhangs einer geltend gemachten Schädigungsfolge (Verlangsamung der Auffassungsgabe) mit einer Kriegseinwirkung ein ärztliches Sachverständigengutachten zu dieser Frage ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe übergeht (vgl BSG 1955-08-25 4 RJ 120/54 = SozR SGG § 128 Nr 2).
Normenkette
SGG § 128; BVG § 1 Abs. 3
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 21.08.1969) |
SG Berlin (Entscheidung vom 09.09.1968) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 21. August 1969 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der 1916 geborene Kläger, von Beruf Maschinen- (Karosserie-) Schlosser, bezieht seit 1. Januar 1964 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. wegen traumatischer Hirnschädigung mit Hirnleistungsschwäche und Verlustes des linken Augapfels, Splitter in der linken Augenhöhle und am Orbitalrand, Narbe am Oberlid, Hornhautnarben außerhalb der Sehlinie am rechten Auge (Bescheid vom 12. März 1963; Bescheid gemäß § 40 VerwVG vom 29. März 1966). Der weitergehende Antrag des Klägers, die Versorgungsverwaltung solle auch "vegetativ-zentrale Regulierungsstörungen und Wesensänderung" mit einer MdE um 90 v. H. anerkennen, hatte keinen Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 9. September 1968 die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht hat mit Urteil vom 21. August 1969 die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen, soweit die Berufung eine weitere Erhöhung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins betrifft; im übrigen hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Soweit der Kläger eine Erhöhung der MdE wegen beruflichen Betroffenseins begehrt, sei die Berufung nach § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, weil davon weder die Schwerbeschädigteneigenschaft noch die Gewährung von Grundrente abhänge. Mängel des Verfahrens (§ 150 Nr. 2 SGG) würden zwar gerügt, aber sie beträfen nicht die weitere Erhöhung der MdE wegen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Dagegen werde mit dem Neufeststellungsverfahren die Wehrdienstbedingtheit weiterer Gesundheitsstörungen geltend gemacht, so daß wegen dieses Streites in der Zusammenhangsfrage (§ 150 Nr. 3 SGG) die Berufung zwar zulässig, aber nicht begründet sei. Seit der Untersuchung durch Dr. C (1956) hätte sich der Befund auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet nicht verschlimmert. 1956 habe noch keine Wesensänderung bestanden; sie bestehe auch heute nicht. Es seien auch nicht nachträglich Befunde hinzugetreten, die als Wesensänderung anzusehen seien. Dr. K habe lediglich unverändert gebliebene Verhältnisse anders beurteilt. Die vegetativen Störungen, die Dr. K und Dr. D erblicken, seien bereits im wesentlichen von Dr. C festgestellt worden, so Schwindelerscheinungen, Schwarzwerden vor den Augen, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Ermüdungserscheinungen und Angstzustände. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision nicht zugelassen.
Gegen das dem Kläger am 6. Oktober 1969 zugestellte Urteil hat dieser mit dem am 4. November 1969 eingegangenen Schriftsatz vom 3. November 1969 Revision eingelegt und mit dem am 5. Januar 1970, also noch innerhalb der bis zum 6. Januar 1970 verlängerten Revisionsbegründungsfrist, eingegangenen Schriftsatz vom 3. Januar 1970 begründet. Er rügt, das LSG habe seine Aufklärungspflicht (§§ 103, 106 SGG), das Beweiswürdigungsrecht (§ 128 SGG) und die in der Kriegsopferversorgung (KOV) geltende Kausalitätsnorm (§ 1 BVG) verletzt.
Nach seiner Auffassung habe das LSG dadurch gegen § 128 SGG verstoßen, daß es beim Vergleich des Vorgutachtens (Gutachten des Versorgungsarztes Dr. C vom 4. Juli 1956) gegenüber dem Gutachten des Nervenfacharztes Dr. K vom 2. Juni 1967, auf das sich das Berufungsgericht gestützt habe, eine wesentliche Verschlimmerung des Leidenszustandes verneint habe. Dem Berufungsgericht hätte auffallen müssen, daß die von Dr. K festgestellte "ausgeprägte Verlangsamung", die als Wesensänderung zu beurteilen sei, früher nicht vorhanden gewesen sei. Diese Wesensänderung sei von der Hirnleistungsschwäche, zu der Merkfähigkeitsstörungen und Konzentrationsschwäche rechnen, zu unterscheiden, sei also noch nicht anerkannt worden und stelle deshalb eine Leidensverschlimmerung dar. Das Vordergericht habe unterlassen, sich mit dieser Wesensänderung des Klägers auseinanderzusetzen. Hätte das Berufungsgericht sich mit der Verlangsamung befaßt, so hätte es zwangsläufig zu einem dem Kläger günstigeren Urteil kommen müssen. Die anerkannte Schädigungsfolge hätte um das Einzelleiden "Wesensänderung" erweitert werden müssen, was zu einer höheren MdE geführt hätte. Zur Verlangsamung seien auch Schweißausbrüche hinzugekommen, die als vegetativ-zentrale Regulierungsstörungen hätten Anerkennung finden müssen. Im Zweifel hätte das Berufungsgericht hierüber ärztliche Sachverständige hören müssen, wenn es die ärztlichen Befunde nicht ausräumen könne. So aber sei das Gericht, ohne einen medizinischen Sachverständigen zu hören, über diese beiden Leidensformen (Verlangsamung, Schweißausbrüche) hinweggegangen. Das LSG habe dadurch das Beweiswürdigungsrecht überschritten und seiner Aufklärungspflicht nicht genügt.
Der Kläger beantragt,
in Abänderung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheides vom 29. März 1966 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 29. November 1966 den Beklagten zu verurteilen, vegetativzentrale Regulierungsstörungen und Wesensänderung als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen und vom 1. Januar 1964 an Versorgung nach einer MdE um 90 v. H. und vom 1. Oktober 1964 an die Rente eines Erwerbsunfähigen zu gewähren,
hilfsweise,
das Urteil des LSG Berlin vom 21. August 1969 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zu verwerfen.
Wesentliche Verfahrensmängel seien nicht ersichtlich. Die Rügen des Klägers, welche auf eine Verletzung des Beweiswürdigungsrechts und der Sachaufklärungspflicht hinzielen, könnten nicht durchgreifen. Das Berufungsgericht habe sich mit den verschiedenen Gutachten eingehend auseinandergesetzt; es habe dargelegt, weshalb es dem Sachverständigen Dr. K nur teilweise gefolgt sei. Eine nicht erschöpfende Beweiswürdigung betreffe nicht den Gang des Verfahrens, sondern nur den Inhalt der getroffenen Entscheidung.
Die Revision nebst ihrer Begründung ist rechtzeitig und in gehöriger Form beim Revisionsgericht eingegangen (§ 164 SGG). Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist daher nur statthaft, wenn der Kläger mit Erfolg rügt, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Insoweit greift die auf einen Mangel in der Beweiswürdigung hinzielende Rüge des Klägers durch.
Nach § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es überschreitet die Grenzen des Beweiswürdigungsrechts, wenn es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Vorgänge durch Sachverständige hinweggeht (SozR SGG § 128 Nr. 2).
Das LSG hat bei Prüfung der geltend gemachten Leidensverschlimmerung zwar nicht unterlassen zu prüfen, ob vegetativ-zentrale Regulierungsstörungen und eine Wesensänderung zum bisherigen 1957 festgestellten Leidenszustand (Bescheid des Versorgungsamts Berlin I vom 6. März 1957) hinzugetreten sind. Es hat insoweit den Gutachten des Dr. B vom 25. Februar 1965 und des Dr. K vom 2. Juni 1967/6. Juni 1968 entnommen, daß sich die Befunde zwischen 1957 und 1965/68 nicht geändert hätten, daß sich die Befunde auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet nicht verschlimmert hätten und auch keine Wesensänderung hinzugekommen sei. Das Berufungsgericht hat sich aber nicht damit befaßt, ob eine Leidensverschlimmerung durch Verlangsamung eingetreten sei und dies eine Wesensveränderung darstelle. Der Sachverständige Dr. K hat in seinem Gutachten ausgeführt: Herr H. ist in seiner Auffassung verlangsamt. Trotzdem ist er in seiner zusammenfassenden Beurteilung auf diese Verlangsamung nicht eingegangen und hat darüber hinaus eine Verschlimmerung des Versorgungsleidens verneint. Der Senat läßt dahingestellt, ob schon das Gutachten des Dr. K insoweit widerspruchsvoll ist, da bisher eine Verlangsamung in der Auffassung nicht vermerkt gewesen ist. Auf jeden Fall hätte das Berufungsgericht der Verlangsamung nachgehen und prüfen müssen, ob sie Schädigungsfolge und damit für die Zusammenhangsfrage wesentlich ist. Dies hat das LSG nicht getan. Es hat somit unterlassen darzulegen, inwiefern die von dem Sachverständigen Dr. K festgestellte "Verlangsamung" entweder seit 1957 zum bisherigen 1957 festgestellten Leidenszustand nicht hinzugetreten oder nicht Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG ist. Da das LSG somit keine Feststellungen über die Wesensänderung getroffen und sich mit der vom Kläger als neues Leiden geltend gemachten Verlangsamung nicht auseinandergesetzt hat, kann aus den Urteilsgründen eine Rechtfertigung für die Ablehnung einer Wesensänderung durch Verlangsamung als weiterer Schädigungsfolgen nicht ersehen werden. Das LSG hat hiernach nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens, nämlich eine vom Gutachter Dr. K festgestellte Verlangsamung berücksichtigt. Das angefochtene Urteil leidet daher an einem wesentlichen Mangel, weil nicht auszuschließen ist, daß das Gericht bei vollständiger Prüfung der mit der Wesensänderung geltend gemachten Beschwerden zu einem dem Kläger günstigeren Urteil gelangt wäre. Hierin liegt eine Verletzung des Beweiswürdigungsrechts (§ 128 SGG). Da dieser Mangel wesentlich ist, braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob auch noch ein anderer vom Kläger geltend gemachter Verfahrensmangel durchgreift. Auf den Hilfsantrag des Klägers war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Bei seiner neuen Entscheidung wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob die vom Kläger geltend gemachte Verlangsamung vorliegt, ob sie nach 1956 eingetreten ist und ob sie Folge wehrdienstbedingter Schädigungsvorgänge ist. Es wird sich darüber hinaus auch mit den vom Kläger geltend gemachten Schweißausbrüchen zu befassen haben, wenn diese nicht der vegetativ-zentralen Regulierungsstörung zugerechnet werden.
Der Kostenausspruch bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen