Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialversicherungsrechtlichen Begriff "Ausland". Begriffe "Geltungsbereich der RVO" und "Ausland"
Leitsatz (redaktionell)
Zum sozialversicherungsrechtlichen Begriff "Ausland":
1. Für die Rentenversicherung sind nach RVO §§ 1315 ff über die Zahlung von Leistungen bei Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs der RVO die deutschen Ostgebiete nicht "Ausland"; auch nach Inkrafttreten des Warschauer Vertrages am 1972-06-03 sind die von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete nicht Ausland geworden mit der Folge, daß die Rentenversicherungsträger nunmehr Rente in die deutschen Ostgebiete auszuzahlen hätten.
2. Begriffe "Geltungsbereich der RVO" und "Ausland":
Die Begriffe "Geltungsbereich dieses Gesetzes", "Ausland" und "Gebiete außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes" verwendet die RVO mit folgender Bedeutung: "Geltungsbereich dieses Gesetzes" ist das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin; "Ausland" sind die Gebiete auswärtiger Staaten; "Gebiete außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes" sind die Gebiete, die Teile des Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31.12.1937 waren, aber nicht zur Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin gehören.
Normenkette
RVO § 1317 Fassung: 1960-02-25, § 1321 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25, Abs. 3 Fassung: 1960-02-25; BezVtr POL Fassung: 1970-12-07
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Juli 1975 insoweit aufgehoben, als es die Beklagte zur Auszahlung der Witwenrente verurteilt hat.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 9. August 1973 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin wurde im Jahr 1899 in A, Kreis G, Regierungsbezirk O (Oberschlesien), geboren und lebt noch dort; der Ort heißt jetzt W sw. A. Sie ist deutsche Staatsangehörige geblieben, wie das Landessozialgericht (LSG) festgestellt hat. Im Jahr 1972 beantragte sie Witwenrente nach ihrem im selben Jahr gestorbenen Ehemann Otto S. Mit Bescheid vom 14. Februar 1973 erkannte die Beklagte den Anspruch auf Witwenrente an, lehnte aber die Zahlung ab, weil sich die Klägerin außerhalb des Geltungsbereichs der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufhalte (§ 1317 RVO).
Mit der Klage hat die Klägerin beantragt, den Bescheid zu ändern und die Beklagte zur Zahlung der Rente zu verurteilen. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat mit Urteil vom 9. August 1973 die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat mit Urteil vom 17. Juli 1975 erkannt:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 10. Kammer des Sozialgerichts Düsseldorf vom 9. August 1973 abgeändert und die Beklagte unter entsprechender teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 14. Februar 1973 verurteilt, die mit diesem Bescheid festgestellte Rente für die Zeit ab 3. Juni 1972 an die Klägerin auszuzahlen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtlichen Kosten erster und zweiter Instanz zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Aufenthaltsort der Klägerin liege im Ausland, und zwar seit dem 3. Juni 1972, d. h. seit dem Tag, an dem der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 (BGBl 1972 II 361, 362, 651 - Warschauer Vertrag) völkerrechtlich verbindlich geworden sei. Deshalb sei von diesem Tag ab die Rente auszuzahlen, wie sich aus § 1318 RVO, dessen sonstige Voraussetzungen vorlägen, ergebe.
Mit der Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 1318 RVO und des Warschauer Vertrages. Sie ist der Meinung, daß der Wohnort der Klägerin und auch die anderen vom Warschauer Vertrag betroffenen deutschen Ostgebiete weiterhin - auch im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland - Gebiete des Deutschen Reichs in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 sind und damit keinen irgendwie gearteten Auslandscharakter haben.
Sie beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufung der Klägerin in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht den Aufenthaltsort der Klägerin als Ausland angesehen und deshalb den Bescheid der Beklagten insoweit aufgehoben. Dieser Bescheid ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Auszahlung der Witwenrente.
Nach § 1317 RVO ruht die Rente eines Deutschen, solange er sich "außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes" aufhält. Nach § 1318 Abs. 1 RVO wird die Rente, soweit sie auf im Geltungsbereich dieses Gesetzes zurückgelegte Versicherungsjahre entfällt, auch für Zeiten des Aufenthalts im "Ausland" gezahlt. Nach § 1321 Abs. 1 RVO kann Deutschen, die sich gewöhnlich im "Gebiet eines auswärtigen Staates" aufhalten, in dem die Bundesrepublik eine amtliche Vertretung hat, die Rente insoweit gezahlt werden, als sie nicht auf nach dem Fremdrentengesetz (FRG) gleichgestellte Zeiten usw. entfällt. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften sind hier nicht erfüllt.
Die RVO beschränkt sich in ihren Vorschriften über die "Zahlung von Leistungen" (Überschrift des Unterabschnittes D des 2. Abschnittes im 4. Buch) aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach §§ 1315 bis 1323 a RVO nicht auf die Einteilung von Territorien in "Inland" und "Ausland". Sie hat vielmehr eine Dreiteilung vorgenommen:
"Geltungsbereich dieses Gesetzes", d. h. der RVO; das ist das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin;
"Ausland";
das sind die Gebiete auswärtiger Staaten;
"Gebiete außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes", d. h. der RVO;
das sind die Gebiete, die Teile des Deutschen Reichs in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 waren, aber nicht zur Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin gehören.
Diese Dreiteilung beruht auf der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands nach dem Zusammenbruch 1945. Die Zerreißung Deutschlands in mehrere Teile unter der Verwaltung unterschiedlicher Besatzungsmächte mit unterschiedlichen neuen Anordnungen und Rechtsvorschriften führte dazu, daß die Leistungen aus der Rentenversicherung auf solche Personen beschränkt wurden, die in dem jeweiligen Gebiet ihren Wohnsitz hatten. Das Bundessozialgericht (BSG) hat aus dieser Entwicklung gefolgert, daß der Wohnsitzgrundsatz der tragende Grundsatz für die "Entwirrung der sozialrechtlichen Beziehungen" Versicherter in den verschiedenen Teilen des ehemaligen Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 sein muß. Jeder Versicherter muß "als schicksalsmäßig verhaftet mit der Entwicklung des Sozialversicherungsrechts an seinem Wohnsitz bei Beginn der Aufsplitterung" angesehen werden (vgl. BSG 3, 286, 291 f; SozR Nr. 7 zu § 1317 RVO). Es hat damit im interlokalen Rentenversicherungsrecht - anders als im internationalen Sozialversicherungsrecht (vgl. BSG 33, 280, 282, 283) - den strengen Wohnsitzgrundsatz angewandt. Infolgedessen werden die Gebiete des früheren Deutschen Reichs, die 1945 unter fremde Verwaltung kamen und nicht zur Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin gehören, in der RVO nicht vom Begriff "Ausland" erfaßt, sondern als Gebiete "außerhalb des Geltungsbereiches" der RVO bezeichnet. Danach ist das Gebiet, in dem die Klägerin wohnt, nicht Ausland, sondern gehört zu der Kategorie der Gebiete "außerhalb des Geltungsbereiches" der RVO.
Hieran hat sich durch den Warschauer Vertrag nichts geändert. Das Gebiet, in dem die Klägerin wohnt, ist durch den Warschauer Vertrag nicht "Ausland" geworden.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in dem Beschluß vom 7. Juli 1975 - 1 BvR 274, 209/72, 195, 194, 184/73 und 247/72 (BVerfGE 40, 141, 164, 170) ausgeführt, bestimmend für die Auslegung des Vertrages sei der politisch-geschichtliche Hintergrund und sein Ziel, politische Beziehungen des Bundes zu regeln, indem er einem neuen außenpolitischen Konzept die Bahn bereite und auf dem Gebiet der Ostpolitik eine auf Dauer angelegte, der Entspannung und Friedenssicherung dienende Politik einleiten solle. Der Warschauer Vertrag befaßt sich in Art. I mit "Grenzregelungen" (BVerfGE aaO S. 171). Für das Verständnis der Vereinbarungen in Art. I, worüber der Senat für die gesetzliche Rentenversicherung zu entscheiden hat, ist Art. IV des Vertrages zu berücksichtigen. Danach berührt der Vertrag nicht die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen. Die Drei Mächte haben in dem Notenwechsel vom 19. November 1970 zum Warschauer Vertrag die Auffassung geteilt, "daß der Vertrag die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte, wie sie in den bekannten Verträgen und Vereinbarungen ihren Niederschlag gefunden haben, nicht berührt und nicht berühren kann" (BGBl 1972 II 364 bis 368). Zu diesen früheren Vereinbarungen gehört der Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952. In Art. 2 des Deutschlandvertrages haben sich die Drei Mächte "die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" vorbehalten. In Art. 7 des Deutschlandvertrages haben die Unterzeichnerstaaten erklärt, sie seien "darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll", und "daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß". Diese früheren Vereinbarungen sind durch Art. IV des Warschauer Vertrages ausdrücklich in den Vertrag hineingenommen worden. Entsprechend dieser vertraglichen Beschränkung konnte die Bundesrepublik Deutschland über den staats- und völkerrechtlichen Status der von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete nicht verfügen. Ihr Vertragspartner konnte sie nicht für befugt halten, Verfügungen zu treffen, die eine friedensvertragliche Regelung vorwegnehmen (vgl. BVerfGE aaO S. 141, 171 bis 175).
Diese Sach- und Rechtslage schließt es aus, Art. I des Warschauer Vertrages so zu verstehen, daß die deutschen Ostgebiete "Ausland" geworden seien.
Der staats- und völkerrechtlichen Lage entspricht die rentenversicherungsrechtliche Lage: Die von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete sind durch Art. I des Warschauer Vertrages nicht Ausland im Sinne der §§ 1315 ff RVO mit der Wirkung geworden, daß die Rentenversicherungsträger durch den Warschauer Vertrag verpflichtet worden wären, Renten an die in diesen Gebieten wohnenden Versicherten auszuzahlen. Die durch die Zerreißung des Deutschen Reichs notwendig gewordene "Entwirrung" der rentenversicherungsrechtlichen Beziehungen von Versicherten mit Wohnsitz in jenen Ostgebieten ist durch den Warschauer Vertrag noch nicht bewirkt worden. Der Vertrag enthält nichts, was unmittelbar die gesetzliche Rentenversicherung betrifft. Wie das BVerfG dargelegt hat, folgt aus dem Zweck des Vertrages, das "politische Klima" für weitere Schritte zu schaffen, daß ein übereinstimmender Wille der Vertragspartner, konkrete rechtliche Handlungs- und Verhaltenspflichten - hier auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung - zu begründen, nur angenommen werden darf, wenn und soweit dies der Vertragstext unzweideutig zum Ausdruck bringt (BVerfG aaO S. 141, 164). Der Warschauer Vertrag hat aber durch Art. III nur die Grundlage für das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 (BGBl 1976 II 393, 396) geschaffen.
Im übrigen würden allein mit der Auffassung, jene Ostgebiete wären durch Art. I des Warschauer Vertrages "Ausland" geworden oder seien "wie Ausland" zu behandeln, die rentenversicherungsrechtlichen Verhältnisse der in diesen Gebieten wohnenden Versicherten noch nicht "entwirrt"; denn dazu gehört nicht nur die Frage, ob Renten der gesetzlichen Rentenversicherung an Versicherte in diesen Gebieten auszuzahlen sind, sondern wesentlich ua auch die Regelung, welche Versicherungszeiten von welchen Versicherungsträgern jeweils anzurechnen sind. Diese Fragen sind erst durch das Abkommen vom 9. Oktober 1975, in Kraft getreten am 1. Mai 1976 (BGBl 1976 II 463), zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen erschöpfend geregelt worden.
Da die Klägerin sich sonach zwar außerhalb des Geltungsbereichs der RVO, aber nicht im Ausland aufhält, hat sie keinen Anspruch auf Auszahlung der Witwenrente. Auf die Revision der Beklagten ist die Berufung der Klägerin daher in vollem Umfang zurückzuweisen.
Da die Klägerin im Ergebnis unterlegen ist, sind in allen Rechtszügen keine Kosten zu erstatten; die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen