Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 13. März 1996 und des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juli 1995 aufgehoben.
Der Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 1994 wird abgeändert; die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 1. Februar 1992 eine Erwerbsunfähigkeitsrente unter Berücksichtigung der nach Art 6 § 5 FANG idF von Art 16 Nr 2 des Rentenreformgesetzes 1992 zu bewertenden Fremdbeitragszeiten zu zahlen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist der monatliche Wert eines Rechts auf Erwerbsunfähigkeitsrente für Bezugszeiten ab 1. Februar 1992.
Der 1928 in Polen geborene Kläger ist Verfolgter des Nationalsozialismus iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er wanderte im Jahre 1957 von Polen nach Israel aus; seither besitzt er die israelische Staatsangehörigkeit.
Die Beklagte merkte mit Bescheid vom 3. Mai 1993 die Beitragszeiten iS von § 15 des Fremdrentengesetzes (FRG) vor und bewertete diese (ua nach Wirtschaftsbereichen) gemäß § 22 Abs 1 FRG idF des Art 14 des Renten-Überleitungsgesetzes (RÜG) vom 25. Juli 1991. Den insoweit eingelegten Widerspruch wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 1994).
Mit Bescheid vom 13. Dezember 1994 bewilligte die Beklagte dem Kläger ein Recht auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente ab 1. Februar 1992; bei der Feststellung des monatlichen Wertes dieses Rechts bewertete sie jeweils – entsprechend ihren Ausführungen in dem Vormerkungsbescheid – die anerkannten Beitragszeiten gemäß § 22 Abs 1 FRG in der og Fassung; dies führte im Vergleich zu dem Recht, das bis zum 30. Juni 1990 gegolten hatte, zu einem niedrigeren monatlichen Rentenwert.
Die am 2. August 1994 beim Sozialgericht (SG) eingegangene Klage, mit der der Kläger die Bewertung der FRG-Zeiten gemäß § 22 FRG in der bis zum 30. Juni 1990 geltenden Fassung (= Art 6 § 5 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes ≪FANG≫) ohne Zuordnung zu Wirtschaftsbereichen begehrt hatte, hat das SG Berlin abgewiesen (Urteil vom 28. Juli 1995). Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 13. März 1996 zurückgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Bewertung seiner FRG-Zeiten nach Art 6 § 5 FANG. Nach Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 FANG sei Voraussetzung hierfür, daß der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen habe, was bei dem Kläger jedoch nicht der Fall gewesen sei. Art 4 Abs 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit (DISVA) greife nicht ein.
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung von Art 6 § 4 Abs 3 und Art 6 § 5 FANG iVm § 22 FRG sowie von § 4 Abs 1 DISVA. Er nimmt Bezug auf die Entscheidung des Senats vom 29. April 1997 (4 RA 123/95) und weist darauf hin: Ihm müsse Vertrauensschutz gemäß Art 6 § 4 Abs 3 FANG gewährt werden. Jedenfalls sei Art 4 Abs 1 DISVA einschlägig. Die Gebietsgleichstellung nach dieser Vorschrift sei umfassend. Wenn israelische Antragsteller über das DISVA grundsätzlich so zu behandeln seien, als wenn sie sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, so müsse diese Gleichstellung, wenn sie zwischen den Vertragspartnern gewollt gewesen sei, auch so umfassend sein, daß Sachverhalte, wie sie in der Übergangsregelung nach Art 6 § 4 Abs 3 FANG geregelt seien, davon erfaßt würden. Es sei nicht erkennbar, daß Art 6 § 4 Abs 3 FANG nur auf Berechtigte nach § 1 FRG mit Wohnsitz im Bundesgebiet Anwendung finden solle und daß mit dieser Vorschrift die Regelungen des DISVA hätten ausgeschlossen werden sollen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 13. März 1996 und des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juli 1995 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 13. Dezember 1994 zu verurteilen, die anerkannten FRG-Zeiten nach Art 6 § 5 FANG idF des Art 16 Nr 2 Rentenreformgesetz (RRG) 1992 zu bewerten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Die Beklagte hat in der Sitzung vom 30. September 1997 den Vormerkungsbescheid vom 3. Mai 1993 zurückgenommen, soweit bei der Bewertung der FRG-Zeiten eine Zuordnung nach Wirtschaftsbereichen vorgenommen worden war.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet; die Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides zu verurteilen, dem Kläger eine Erwerbsunfähigkeitsrente unter Berücksichtigung der nach Art 6 § 5 FANG zu bewertenden Fremdbeitragszeiten zu zahlen.
Der Rentenbewilligungsbescheid vom 13. Dezember 1994 ist hinsichtlich der Feststellung des Wertes des Rechts auf Erwerbsunfähigkeitsrente rechtswidrig.
1. Gegenstand des Verfahrens ist der monatliche Wert eines Rechts auf Erwerbsunfähigkeitsrente für Bezugszeiten ab 1. Februar 1992. Der obengenannte Rentenbescheid, in dem der Wert der Rente ua unter Zuordnung der FRG-Zeiten zu Wirtschaftsbereichen berechnet worden war, ist in entsprechender Anwendung von § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden. Das LSG hat in der Sache auch über das Begehren des Klägers auf endgültige Berechnung des monatlichen Wertes des Rechts auf Erwerbsunfähigkeitsrente (mit-)entschieden.
2. Der Kläger hat – entgegen der Auffassung des LSG – einen Anspruch darauf, daß die Beklagte den monatlichen Wert seiner Rente nicht unter Anwendung des § 22 FRG idF des RÜG, sondern nach Maßgabe des Art 6 § 5 FANG (entsprechend § 22 FRG aF, ohne Einordnung in Wirtschaftsbereiche) bestimmt und damit die Beitragszeiten, die nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen, höher bewertet.
a) Der monatliche Wert des Rechts auf Rente bestimmt sich nach den Vorschriften des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI), weil Bezugszeiten ab Februar 1992 umstritten sind, also Zeiträume nach dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1992 (§ 300 Abs 1 SGB VI).
Gemäß § 64 Nr 1 SGB VI ergibt sich der Monatsbetrag der Rente ua aus den ermittelten Entgeltpunkten; diese werden bestimmt durch das Verhältnis des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts zum Durchschnittsverdienst aller Versicherten für dasselbe Kalenderjahr (§ 70 Abs 1 SGB VI). Bei Versicherten, die das Vertreibungsschicksal erlitten haben und deswegen für den Verlust ihrer rentenversicherungsrechtlichen Position im Herkunftsgebiet nach dem FRG entschädigt werden, stehen die im Herkunftsgebiet zurückgelegten Beitragszeiten den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich (§ 15 Abs 1 Satz 1 FRG). § 22 FRG (aF und nF) bestimmt, welche fingierten Bruttoarbeitsentgelte zur Ermittlung dieser gleichgestellten Beitragszeiten heranzuziehen sind.
b) Die Bruttoarbeitsentgelte, die für die (FRG-)Beitragszeiten die persönliche Bemessungsgrundlage des Klägers mitbestimmen, sind nicht nach § 22 FRG idF des RÜG festzustellen. Vielmehr ist die Bewertung dieser Zeiten nach Art 6 § 5 FANG idF des Art 16 Nr 2 RRG 1992, also aufgrund insoweit modifizierter Anwendung des FRG nF ohne Anwendung des Branchenmodells vorzunehmen (s zur Begründung dieser Modifizierung BT-Drucks 11/5530 S 67 zu Abschnitt B). Nach Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 und Art 6 § 5 Abs 1 FANG sind den nach §§ 15, 16 FRG anzurechnenden Zeiten noch die – höheren – Bruttoarbeitsentgelte zuzuordnen.
Fälle der vorliegenden Art werden zwar nicht vom Wortlaut des Art 6 § 4 Abs 2 und Abs 3 FANG erfaßt; insoweit liegt jedoch eine – bei verfassungsorientierter Auslegung des Gesetzes – planwidrige Lücke vor. Sie ist durch eine entsprechende Anwendung des Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 FANG zu schließen (vgl hierzu näher: Urteil des Senats vom 29. April 1997 – 4 RA 123/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Art 6 § 4 FANG nF enthält das – im Kern verfassungsrechtlich gebotene – Übergangsrecht zu den grundlegenden Änderungen des Fremdrentenrechts, die seit Juli 1990 (für Rentenzahlungsansprüche frühestens zum 1. Juli 1990) und beginnend mit Art 16 RRG 1992 eingeleitet worden sind. Die inzwischen mehrfach geänderte Vorschrift enthält in ihrem Abs 1 zunächst eine (hier nicht einschlägige) Härteklausel. In Abs 2 und Abs 3 aaO sind die allgemeinen Übergangsbestimmungen, in Abs 3a aaO eine – hier nicht beachtliche – Ergänzung dazu aufgeführt; in Abs 4 aaO wird für den Fall, daß – ausnahmsweise – die Anwendung des § 22 Abs 1 FRG nF zu einer höheren Rente führt als die Anwendung des Art 6 § 5 FANG (also inhaltlich des alten § 22 FRG), eine Betragsbegrenzung unter bestimmten Voraussetzungen auf den niedrigeren Betrag vorgeschrieben.
Art 6 § 4 Abs 2 und 3 FANG unterscheidet zwischen drei Stufen der Anwendung des FRG: Das „alte” FRG bleibt uneingeschränkt anwendbar, wenn vor dem 1. Juli 1990 ein „Anspruch auf Zahlung” einer Rente bestand. Die zweite Stufe ist geregelt in Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 und Satz 2 aaO; gemäß Art 6 § 5 FANG kommt hiernach unter Ausschluß des Branchenmodells neues Recht zur Anwendung. Die dritte Stufe besteht in der uneingeschränkten Anwendung der Neufassung des FRG. Sie ist vorgesehen, wenn ein Vollrecht auf Rente erstmals nach dem 31. Dezember 1995 entsteht (Art 6 § 4 Abs 3 Satz 3 aaO).
Der Kläger wird vom Wortlaut keiner dieser Regelungen des Art 6 § 4 FANG erfaßt; jedoch ist Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 (und Satz 2) FANG entsprechend – lückenfüllend – anzuwenden; die Anwendbarkeit der Vorschrift ergibt sich auch iVm Art 4 Abs 1 DISVA (c).
Den Gesetzesmaterialien ist kein Hinweis dafür zu entnehmen, das Konzept des Art 6 § 4 FANG ziele darauf ab, vor allem die Mehrzahl der vertriebenen Verfolgten, die im Ausland wohnt, aber auch eine Vielzahl von deutschen Versicherten, die am 30. Juni 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland (ohne das Beitrittsgebiet und die Vertreibungsgebiete) genommen hatten, von der vertrauensschützenden Übergangsregelung auszunehmen. Durchgängiges Thema der Beratungen war, wie das FRG nach Beendigung der Nachkriegszeit und unter den geänderten Verhältnissen bei den sogenannten Rentenneuzugängen sachgerechter und kostensparender – unter Wahrung von Vertrauensschutz – zu gestalten sei (stellv BT-Drucks 11/5530, S 67 f; BT-Drucks 12/630 S 15). An keiner Stelle wird deutlich, es sei auch nur ansatzweise erwogen worden, den vertriebenen Verfolgten und den anderen Anwartschaftsrechtsinhabern im Ausland mit bereits aus dem FRG erworbenen Rechtsvorteilen solle ein geringerer Vertrauensschutz in der Übergangszeit bis Ende 1995 gewährt werden als den Anwartschaftsrechtsinhabern, die sich gewöhnlich in Deutschland aufhielten. Der Stichtag diente vielmehr ausschließlich dazu, die rechtliche Grenze zwischen den Personen zu markieren, die bereits aufgrund der räumlichen Anwendbarkeit des FRG Rechtsvorteile hieraus erlangt hatten, und denjenigen, die erst nach dem Stichtag durch Zuzug in das „alte” Bundesgebiet unter den (räumlichen) Anwendungsbereich des FRG gelangten und sich dann gewöhnlich hier aufhielten.
Vor diesem Hintergrund ist die planwidrige Lückenhaftigkeit der Vertrauensschutzregelung des Art 6 § 4 Abs 2 und Abs 3 FANG deutlich. Es lag – wie ausgeführt – nicht im Konzept des am 18. Dezember 1989 beschlossenen RRG 1992, vor allem die vertriebenen Verfolgten im Ausland dazu aufzufordern, bis Ende Juni 1990 in das damalige Bundesgebiet zu ziehen oder – in aller Regel – eine Wertminderung ihrer bereits erworbenen Rechtspositionen ohne vertrauensschützende Übergangsregelung hinzunehmen. Es gibt vielmehr keinen Hinweis darauf, daß die Rechtsstellung der Anwartschaftsrechtsinhaber mit Wohnsitz im Ausland und bereits erlangten Rechtsvorteilen aus dem FRG überhaupt bedacht worden ist. Da keine verfassungsrechtlich haltbare Alternative aufgezeigt oder sonst ersichtlich ist, daß diese Lücke anders geschlossen werden könnte als durch entsprechende Anwendung des Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 und 2 FANG, hätte die Beklagte diese Vorschriften im Falle des Klägers entsprechend anwenden müssen.
c) Dieses Ergebnis folgt hier auch aus Art 4 Abs 1 DISVA, einem zweiseitigen völkerrechtlichen Vertrag. Danach gelten (soweit das Abkommen nichts anderes bestimmt) die Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates, nach denen die Entstehung von Ansprüchen auf Leistungen oder die Gewährung von Leistungen oder die Zahlung von Geldleistungen vom Inlandsaufenthalt abhängig ist, nicht für die in Art 3 Abs 1 DISVA genannten Personen, die sich im Gebiet des anderen Vertragsstaates aufhalten. Nach dieser Vorschrift wäre der Kläger als Staatsangehöriger Israels mit ständigem Aufenthalt in Israel wie ein im – „alten” – Bundesgebiet wohnender deutscher Versicherter zu behandeln. Nach Nr 3 Buchst a Spiegelstrich 2 des Schlußprotokolls zum DISVA bestand zwischen den Vertragsparteien insoweit Einverständnis, daß Art 4 Abs 1 DISVA nicht die deutschen Rechtsvorschriften über Leistungen aus Versicherungszeiten berührt, die nicht nach Bundesrecht zurückgelegt sind. Damit wird allerdings nur klargestellt, daß zB FRG-Zeiten bei einem in Israel lebenden israelischen Staatsbürger nach denselben Vorschriften rechtliche Bedeutung haben, die für einen versicherten deutschen Staatsbürger gelten, der sich in Israel oder in einem anderen Staat gewöhnlich aufhält.
Nach alledem war der Bescheid der Beklagten rechtswidrig, soweit die Anwendung vertrauensschützenden Übergangsrechts, nämlich diejenige des Art 6 § 5 FANG, abgelehnt worden ist. Die Revision hat daher Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen