Entscheidungsstichwort (Thema)

Schlechte Behandlung und Ernährung in der Kriegsgefangenschaft

 

Leitsatz (redaktionell)

Schlechte Behandlung und Ernährung in der Kriegsgefangenschaft sowie sonstige Maßnahmen gegen Kriegsgefangene stellen keine Feindeinwirkung dar.

 

Normenkette

RVO § 1263a Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1949-06-17

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. Oktober 1957 und des Sozialgerichts Hamburg vom 13. März 1956 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin erstrebt die Gewährung eines Ruhegelds wegen Berufsunfähigkeit aus der Rentenversicherung der Angestellten (AV.). Sie war von November 1941 bis März 1945 als Krankenschwester beim Deutschen Roten Kreuz pflichtversichert und anschließend von April bis August 1945 in russischer Kriegsgefangenschaft. Hierdurch legte sie insgesamt 46 Versicherungsmonate in der AV. zurück. Im Februar 1947 wurde sie wegen tuberkulöser Erkrankungen berufsunfähig. Die Tuberkulose wurde als Schädigung im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anerkannt. Die Klägerin erhält eine Versorgungsrente. Ihr Antrag auf Gewährung von Ruhegeld wurde dagegen abgelehnt, weil die Wartezeit mit 46 Versicherungsmonaten nicht erfüllt sei (Bescheid vom 12. Oktober 1954).

Das Sozialgericht (SG.) Hamburg verurteilte die Beklagte, das Ruhegeld zu gewähren (Urteil vom 13. März 1956). Das Landessozialgericht (LSG.) Hamburg bestätigte durch das angefochtene Urteil diese Entscheidung: Die Wartezeit sei zwar nicht erfüllt, sie müsse aber als erfüllt gelten, weil die Klägerin "infolge Feindeinwirkung" (§ 31 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - a.F. in Verbindung mit § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO - a.F.) berufsunfähig geworden sei; die Gesundheitsschäden der Klägerin gingen auf die schlechten Verhältnisse während der russischen Kriegsgefangenschaft zurück; auch Einwirkungen durch eine Kriegsgefangenschaft müßten als "Feindeinwirkung" angesehen werden (Urteil vom 18. Oktober 1957).

Das LSG. ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 22. November 1957 zugestellte Urteil des LSG. am 16. Dezember 1957 Revision ein und begründete sie am 21. Januar 1958. Sie rügte die Verletzung des Begriffs "Feindeinwirkung" in § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO a.F. und beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragte, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit, auf den die Klägerin ihren Antrag auf Ruhegeld stützt, ist 1947 eingetreten. Er ist nach dem damals geltenden Recht zu beurteilen, somit hinsichtlich der Wartezeit nach den Vorschriften des § 31 AVG a.F. in Verbindung mit den §§ 1262 bis 1263 a RVO a.F.. Für den vorliegenden Rechtsstreit hat das am 1. Januar 1957 in Kraft getretene "Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten" vom 23. Februar 1957 (AnVNG) insoweit keine Änderungen gebracht. Die neue Regelung der fiktiven Erfüllung der Wartezeit in Art. 1 § 29 AnVNG ist bei Versicherungsfällen, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind, nur im Rahmen des Art. 2 § 10 AnVNG anzuwenden (vgl. Bundessozialgericht - BSG. - Sozialrecht zu § 1263 a RVO a.F. Aa Nr. 1 und zu § 1252 RVO n.F. Aa Nr. 1). Danach gilt für die in diesem Fall allein in Betracht kommenden Vorschriften des Art. 1 § 29 Nr. 2 und 3 AnVNG die allgemeine Regel, daß für Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind, das bis dahin geltende Recht maßgebend bleibt. Es liegt keiner der Ausnahmefälle des Art. 2 § 43 AnVNG vor (Art. 2 §§ 6, 43, Art. 3 § 7 AnVNG). Davon sind sowohl die Beklagte als auch das LSG. mit Recht ausgegangen.

Die Gewährung von Ruhegeld setzt u.a. die Erfüllung der Wartezeit voraus (§ 26 AVG a.F.). Die Wartezeit ist mit 46 Beitragsmonaten - statt der vom Gesetz geforderten 60 Beitragsmonate (§ 31 AVG a.F., §§ 1262, 1263 RVO a.F.) - nicht erfüllt. Sie gilt jedoch als erfüllt, wenn der Versicherte "in Kriegszeiten während der Ableistung von Kriegs-, Sanitäts- oder ähnlichen Diensten für das Deutsche Reich" (§ 31 AVG a.F., § 1263 a Abs. 1 Nr. 2 RVO a.F.) oder "infolge Feindeinwirkung" (§ 31 AVG a.F., § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO a.F.) berufsunfähig geworden ist. Die zuerst erwähnte Vorschrift erfordert einen zeitlichen Zusammenhang zwischen den dort genannten Diensten und dem Eintritt der Berufsunfähigkeit. Dieser zeitliche Zusammenhang ist im Fall der Klägerin nicht gewahrt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ist die Klägerin 1945 zurückgekehrt und erst 1947 berufsunfähig geworden. Das LSG. hat deshalb diese Vorschrift mit Recht nicht zu Gunsten der Klägerin angewendet. Die Berufsunfähigkeit der Klägerin beruht auch nicht auf einer "Feindeinwirkung".

Der Begriff "Feindeinwirkung" ist im Gesetz nicht definiert. Das BSG. hat ihn aber bereits in zwei Entscheidungen näher erläutert (vgl. BSG. a.a.O.). Dabei ist das Gericht in beiden Fällen davon ausgegangen, daß die Grenzen dieses Begriffs eng gehalten werden müssen, weil die Fiktion einer Wartezeiterfüllung dem Wesen der Rentenversicherung widerstrebt und als Ausnahme von dem Grundsatz der Erfüllung der Wartezeit durch Beiträge nur vom Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet werden kann. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats liegt eine "Feindeinwirkung" zum Beispiel vor, wenn es sich um eine aktive und planmäßig gelenkte Handlung des Kriegsgegners handelt und nicht um ein Ereignis, das außerhalb der menschlichen Einflußnahme und Berechnung liegt, selbst wenn der Gegner daraus schädigende Folgen für den Einzelnen in der Zukunft erwartet und möglicherweise voraussieht. Diese Auslegung ist aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des § 1263 a RVO a.F. gewonnen worden. Darüber hinaus hat das BSG. zur Deutung des umstrittenen Begriffs die Tatbestände des § 2 der Personenschäden-Verordnung vom 10. November 1940 herangezogen. Das ist berechtigt, weil der Reichsarbeitsminister die Träger der Rentenversicherungen schon vor der Einführung der fiktiven Wartezeiterfüllung bei einer Berufsunfähigkeit "infolge Feindeinwirkung" (Artikel 17 der "Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung" vom 17. März 1945) angewiesen hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung entsprechend zu verfahren und dabei unter "Feindeinwirkung" die Fälle des § 2 der Personenschäden-Verordnung verstanden haben wollte (Erlaß vom 25. Januar 1945, angeführt in der Entscheidung Nr. 97 des Bayer. Landesversicherungsamts - Breithaupt 1953 S. 1127 -). Nach den Ermittlungen des Berufungsgerichts gehen die tuberkulösen Erkrankungen der Klägerin, die die Berufsunfähigkeit zur Folge haben, mit auf die schlechte Behandlung und Ernährung während der Kriegsgefangenschaft zurück. Dieser Sachverhalt erfüllt aber keinen der Tatbestände des § 2 der Personenschäden-Verordnung. Die Krankheiten der Klägerin sind nicht verursacht worden durch "Kampfhandlungen", "Einwirkungen von Kampfmitteln", "Maßnahmen deutscher Behörden in unmittelbarer Folge von Kampfhandlungen" oder "die Flucht vor Maßnahmen des Gegners" (§ 2 Abs. 1 a, b und d Personenschäden-Verordnung); sie sind es auch nicht durch "Maßnahmen oder Handlungen gegnerischer Behörden oder Organisationen, die sich gegen das Deutsche Reich, das Deutschtum oder gegen den Beschädigten richten" (§ 2 Abs. 1 c Personenschäden-Verordnung). Unter diesen Maßnahmen sind solche zu verstehen, die sich - wie etwa Tumulte gegen Auslandsdeutsche, Verschleppungen von Geiseln, Festhalten von Reisenden - gegen die Zivilbevölkerung wenden; Maßnahmen gegen Kriegsgefangene fallen nicht darunter (ebenso: Büchner-Hoffmann, Kriegsschäden-Verordnungen, S. XVI und 203). Allgemein ungünstige Kriegsverhältnisse werden von § 2 der Personenschäden-Verordnung nicht mit umfaßt. Sie stellen keine "Feindeinwirkung" dar. Die Voraussetzungen des § 1263 a RVO a.F. sind im Fall der Klägerin nicht gegeben. Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit dem neuen, vom 1. Januar 1957 an geltenden Rentenrecht. In diesem ist der Begriff der "Feindeinwirkung" durch den der "unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 BVG" ersetzt worden (§ 29 AVG n.F.). Die Kriegsgefangenschaft gehört nicht dazu. Sie wird im BVG (§ 1 Abs. 2 b) neben der "unmittelbaren Kriegseinwirkung" (§ 1 Abs. 2 a BVG) gesondert aufgeführt und behandelt. § 5 BVG bezieht sich nur auf § 1 Abs. 2 a BVG, mithin nicht auf Schädigungen durch eine Kriegsgefangenschaft. Selbst die Anwendung des neuen Rentenrechts brächte also kein Ergebnis, das für die Klägerin günstiger wäre.

Die Klägerin beruft sich - mit dem LSG. - für ihre abweichende Meinung zu Unrecht auf die Entscheidung Nr. 97 des Bayer. Landesversicherungsamts (Breithaupt 1953 S. 1127). In dieser Entscheidung wird ausgeführt, daß nicht nur Einwirkungen durch Kampfmittel "Feindeinwirkungen" sind, sondern daß unter Umständen auch Einwirkungen, denen ein Versicherter in der Kriegsgefangenschaft ausgesetzt war, dazu gehören können. Das Landesversicherungsamt hatte jedoch einen anders gelagerten Sachverhalt zu beurteilen. Der Kläger im damaligen Rechtsstreit war im Alter von 16 Jahren bereits als Soldat an der Front verletzt worden (Wirbelsäulenprellung) und danach in Kriegsgefangenschaft geraten; später wurde eine Wirbelsäulentuberkulose festgestellt. Nach den gerichtlichen Ermittlungen war sein Leiden schon während des Wehrdienstes ausgebrochen, jedoch erst später erkannt worden. Das Landesversicherungsamt hat in den Gründen seines Urteils noch betont, daß es die Entscheidung auf den Einzelfall abgestellt hat (S. 1133). Soweit seine Ausführungen trotzdem allgemein gehalten sind, hat der Senat ihnen nicht folgen können.

Aus diesen Überlegungen rechtfertigt sich die getroffene Entscheidung (§ 170 Abs. 2, § 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324028

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