Leitsatz (amtlich)
Bei einem Versicherten, der als Erntehelfer oder sonst vorübergehend in der Landwirtschaft eingesetzt gewesen und bei dieser Tätigkeit verunglückt ist, gilt für die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes auch dann RVO § 941 Abs 2, wenn kein Versicherungsverhältnis bei einem Träger der Allgemeinen Unfallversicherung besteht, das zu einem Lastenausgleich nach RVO § 942 führen würde ( Vergleiche BSG 1958-06-26 2 RU 58/56 = BSGE 7, 269).
Normenkette
RVO § 941 Abs. 2 Fassung: 1942-03-09, § 942 Fassung: 1942-03-09, § 564 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 24. November 1955 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 31. August 1945 einen Arbeitsunfall. Über den Sachverhalt hat das Landessozialgericht (LSG.) folgendes festgestellt: Der jetzt 63 Jahre alte Kläger war vom Jahre 1923 bis zum staatlichen Zusammenbruch im Mai 1945 als Buchhalter, Büroleiter und Revisor bei den B Wasserwerken mit einem Bruttogehalt von 721,18 RM monatlich beschäftigt. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in B wurde er zunächst einem sogenannten Räumungskommando zugeteilt, welches der Ausplünderung von B Betrieben sowie der Verbringung ihrer Maschinen und Einrichtungsgegenstände nach Rußland diente. Als diese Plünderungen nach der Besetzung Berlins durch die Westmächte eingestellt werden mußten, wurden den Räumungskommandos wieder andere Arbeiten zugeteilt. Der Kläger wurde schließlich Ende Juli 1945 von seinem Arbeitsamt mit einem Trupp von etwa 100 Mann zur Ernteeinbringung nach P vermittelt. Er arbeitete dort als Erntehelfer auf dem Stadtgut K und zog sich bei dieser Tätigkeit am 31. August 1945 eine Verletzung des rechten Zeigefingers mit nachfolgender Phlegmone zu, die zu einer Versteifung der Finger der rechten Hand und einer Bewegungseinschränkung des rechten Handgelenks führte.
Die Versicherungsanstalt B (VAB.) gewährte dem Kläger für die Folgen des Unfalls durch Bescheid vom 1. April 1948 eine Verletztenrente vom 1. Oktober 1946 an in Höhe von 50 v. H. der Vollrente. Der Rentenberechnung legte sie einen Jahresarbeitsverdienst von 7.200,- RM zugrunde. Durch Bescheid vom 3. Juni 1948 setzte die VAB. die Rente auf 40 v. H. der Vollrente herab. Der Jahresarbeitsverdienst blieb unverändert. Durch Bescheid vom 13. Juli 1951 wurde die Rente auf Grund des 9. Nachtrags zur Satzung der VAB. umgerechnet.
Im April 1953 übersiedelte der Kläger, der bisher im sowjetischen Sektor von B gewohnt hatte, nach West-Berlin und beantragte beim Landesverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften Weiterzahlung der Verletztenrente. Die Bearbeitung übernahm zunächst die H landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft.
Sie stellte durch Bescheid vom 8. Juli 1953 die Rente mit Wirkung vom 1. April 1953 neu fest. Der Rentenberechnung legte sie eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v. H. zugrunde. Den Jahresarbeitsverdienst stellte sie entsprechend dem für den Bereich der H landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft festgesetzten Durchschnittssatz mit 1.200,- DM fest.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger beim Sozialversicherungsamt (SVA.) Berlin Einspruch erhoben und beansprucht, daß der Rentenberechnung der monatliche Arbeitsverdienst von 721,18 RM zugrunde gelegt werde. Mit Schriftsatz vom 28. Februar 1954 hat die Beklagte sich in das Verfahren, das nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Sozialgericht (SG.) Berlin übergegangen war (§ 218 Abs. 2, § 215 Abs. 2 SGG), eingeschaltet. Sie hat darauf hingewiesen, daß der Bescheid der H landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft vom 8. Juli 1953 kein "rechtskräftiger" Bescheid sei, sondern nur die Festsetzung einer vorläufigen Fürsorge darstelle; er sei deshalb nicht "berufungsfähig".
Mit Schriftsatz vom 2. Oktober 1954 hat die Beklagte folgendes mitgeteilt:
"Entgegen unserem Schriftsatz vom 28.2.1954 soll von der Erteilung eines neuen Bescheides Abstand genommen und der Bescheid vom 8.7.1953 als rechtsverbindlich im Sinne von § 17 Abs. 6 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes anerkannt werden, sofern gerichtsseitig hiergegen Einwendungen nicht erhoben werden. Die Vielzahl der an uns übergeleiteten Fremdrentenfälle läßt solche Maßnahmen notwendig erscheinen, da im vorliegenden Fall dem von der H landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft erteilten und vom Kläger angefochtenen Bescheid von hier beigetreten werden kann".
Durch Urteil vom 5. Januar 1955 hat das SG. Berlin entsprechend dem im Termin von der Beklagten gestellten Antrag die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG. ausgeführt: § 941 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beziehe sich nur auf vorübergehende Tätigkeiten und finde keine Anwendung, wenn ein Arbeitsverhältnis zu einem landwirtschaftlichen Unternehmer begründet worden sei. Im vorliegenden Fall sei der Kläger zur Zeit seiner Arbeitslosigkeit als landwirtschaftlicher Arbeiter und Erntehelfer vermittelt worden und habe daher in einem festen Arbeitsverhältnis zu dem landwirtschaftlichen Unternehmer gestanden. Daher fänden auf ihn die allgemeinen Vorschriften der landwirtschaftlichen Unfallversicherung Anwendung.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger beim LSG. Berlin Berufung eingelegt.
Durch Urteil vom 24. November 1955 hat das LSG. unter Aufhebung des Urteils des SG. Berlin vom 5. Januar 1955 den Bescheid der Hannoverschen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft vom 8. Juli 1953 dahin geändert, daß dem Kläger die aus Anlaß seines Unfalls vom 31. August 1945 mit Wirkung vom 1. April 1953 weitergewährte Verletztenrente nach einem Jahresarbeitsverdienst von 7.200,- DM zu berechnen ist.
Die Revision ist vom LSG. zugelassen worden, weil es sich hinsichtlich der Auslegung des § 941 Abs. 2 RVO um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handele. Zur Begründung hat das LSG. ausgeführt: Abgesehen davon, daß das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses die Anwendung des § 941 Abs. 2 RVO nicht ausschließe, weil ein solches in der Regel auch bei einer nur vorübergehenden Tätigkeit begründet werde, entspreche die Annahme eines "festen Arbeitsverhältnisses" auch nicht der tatsächlichen Sachlage. Der Kläger habe sicherlich nicht die Absicht gehabt, seinen jahrzehntelang ausgeübten Beruf aufzugeben und in die Landwirtschaft überzuwechseln, außerdem sei auch die landwirtschaftliche Beschäftigung der seinerzeit auf Weisung der Russen erfaßten und nach Beendigung der Plünderungsaktion auf die Bauernhöfe dirigierten Arbeitstrupps offenbar von vornherein nur als vorübergehender Einsatz gedacht gewesen. Tatsächlich seien die Trupps auch nach Beendigung der Erntearbeit sämtlich wieder nach Berlin zurückgekehrt. Bei dieser Sachlage könne nicht von einem aus eigener Initiative und eigenem Interesse begründeten Arbeitsverhältnis in der Landwirtschaft gesprochen werden. Die Tätigkeit des Klägers sei vielmehr der eines Erntehelfers oder sonst vorübergehend in der Landwirtschaft Eingesetzten im Sinne des § 941 Abs. 2 RVO gleichzusetzen. Der dieser Bestimmung zugrunde liegende Gedanke, den vorübergehend in einem landwirtschaftlichen Unternehmen im betrieblichen und allgemein volkswirtschaftlichen Interesse helfenden Berufsfremden vor Nachteilen zu schützen, treffe in vollem Umfang auch auf den Kläger zu. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger vor dem landwirtschaftlichen Einsatz in keinem anderen Beschäftigungsverhältnis mehr gestanden habe (abweichend Bayer. LVAmt vom 17.2.1950 und 17.3.1950, Amtsblatt 1950 S. 284, 471). Das Bayer. LVAmt berufe sich zu Unrecht auf den Erlaß des RAM. vom 2. Juli 1940 (AN. 1940 S. 213). Hierbei handele es sich nur um einen Vorläufer des Sechsten Änderungsgesetzes, und die Vorschrift des § 941 Abs. 2 RVO zwinge nicht zu dem Schluß, daß sie auf die in diesem Erlaß geregelten Sonderfälle beschränkt sein sollte. Bei den vom Bayer. LVAmt entschiedenen Fällen handele es sich zudem um Personen, die nicht irgendwie zwangsweise eingesetzt, sondern völlig freiwillig tätig geworden seien. Das Urteil ist der Beklagten am 28. Dezember 1955 zugestellt worden.
Mit Schriftsatz vom 2. Januar 1956, beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen am 3. Januar 1956, hat die Beklagte gegen das Urteil Revision eingelegt.
Mit Schriftsatz vom 9. Februar 1956, beim BSG. eingegangen am 11. Februar 1956, hat die Beklagte die Revision begründet. Sie beantragt,
das Urteil der Vorinstanz aufzuheben, den Bescheid der H landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft vom 8. Juli 1953 wiederherzustellen und das Urteil des SG. Berlin vom 5. Januar 1955 zu bestätigen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II
Die Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG) und ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist zulässig. Sachlich hatte sie jedoch keinen Erfolg.
Das beim SVA. Berlin eingelegte Rechtsmittel des Klägers richtete sich gegen den Bescheid der H landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft vom 8. Juli 1953. An dem Verfahren war zunächst auch nur diese Berufsgenossenschaft als Beklagte beteiligt. Die jetzige Beklagte ist erst während des auf das SG. Berlin übergegangenen Verfahrens anstelle der H landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft als Beklagte in das Verfahren eingetreten. Der Kläger hat diesem Wechsel des beklagten Beteiligten nicht widersprochen. Die Klage gegen die jetzige Beklagte ist jedoch nur zulässig, wenn auch diese zu dem mit der Klage geltend gemachten Anspruch in einem Verwaltungsakt Stellung genommen hat. Im einzelnen wird hierzu auf das Urteil des erkennenden Senats vom 30. Juli 1959 verwiesen, das in BSG. Band 10 S. 218 veröffentlicht ist. Wie in diesem Urteil - mit weiteren Nachweisen - ausgeführt ist, kann dieser als Grundlage für das Klageverfahren erforderliche Verwaltungsakt jedoch auch durch eine Prozeßhandlung gesetzt werden. Das ist hier der Fall. Die Erklärung der Beklagten im Schriftsatz an das SG. Berlin vom 2. Oktober 1954, der im Verfahren streitbefangene Bescheid der Hannoverschen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft vom 8. Juli 1953 solle "als rechtsverbindlich ... anerkannt werden", ist trotz der Bezugnahme auf § 17 Abs. 6 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (BGBl. 1953 I S. 848, 1956 I S. 17 - FremdRG -) dahin auszulegen, daß in dieser Prozeßerklärung zugleich die Erklärung liegt, die Beklagte wolle den von der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft erlassenen Verwaltungsakt als eigene Regelung der durch das FremdRG zwischen dem Kläger und ihr geschaffenen öffentlich-rechtlichen Beziehungen ansehen, d. h. zu ihrem eigenen Verwaltungsakt machen.
Die Klage ist auch zu Recht gegen die jetzige Beklagte gerichtet, denn für den Anspruch des Klägers gelten § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 des am 1. April 1952 in Kraft getretenen FremdRG, und die Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Nr. 1 FremdRG.
Der Senat konnte die Frage offen lassen, ob die Beklagte auf Grund von § 17 Abs. 6 FremdRG daran gebunden ist, daß die - damals noch ungeteilte - VAB. in den Bescheiden vom 1. April 1948 und 3. Juni 1948 den Jahresarbeitsverdienst mit 7.200 RM festgestellt hat, denn das LSG. hat ohne Rechtsirrtum entschieden, daß dieser Jahresarbeitsverdienst nach § 941 Abs. 2 RVO der Rentenberechnung zugrunde zu legen ist.
Der Senat hat zu § 941 Abs. 1 RVO in Verbindung mit § 564 Abs. 1 Nr. 5 RVO bereits entschieden, daß diese Vorschrift auch dann anzuwenden ist, wenn der vorübergehend unentgeltlich in der Landwirtschaft Tätige nicht außerdem noch in einem Versicherungsverhältnis steht, das einen Lastenausgleich nach § 941 RVO ermöglicht (vgl. BSG. 7 S. 269). Das gilt ebenso für § 941 Abs. 2 RVO. Wie das LSG. zutreffend ausgeführt hat, zwingt die Vorgeschichte des durch das 6. Änderungsgesetz in die RVO eingefügten § 941 nicht zu einer anderen Auslegung (vgl. die nähere Darstellung dieser Vorgeschichte bei Schultze-zur Wiesch, BG. 1951 S. 131). Der Erlaß des RAM. vom 2. Juli 1940 (AN. 1940 S. 213), auf den sich insbesondere die vom LSG. angeführten Urteile des Bayer. LVAmt stützen, betraf allerdings nur Fälle, in denen Arbeiter gewerblicher Betriebe, deren Beschäftigungsverhältnis durch einen solchen "Einsatz" vorübergehend unterbrochen wurde, zu Arbeiten in der Landwirtschaft "eingesetzt" wurden oder einen Urlaub zu derartigen Arbeiten benutzten. Dieser Erlaß war jedoch nur eine teilweise Vorwegnahme des späteren § 941 RVO, und der Wortlaut des § 941 RVO bietet keinen Anhalt dafür, daß der Gesetzgeber die Anwendung dieser neuen Vorschriften auf diese Fälle beschränken wollte. Der Wortlaut des § 941 Abs. 2 RVO erfordert nur, daß es sich um Personen handelt, die sonst nicht in der Landwirtschaft tätig sind und die auch nicht die Absicht haben, in einen landwirtschaftlichen Beruf überzuwechseln, die also nur "vorübergehend" eine für sie an sich berufsfremde Tätigkeit in der Landwirtschaft ausüben. Diese Voraussetzungen sind nach den insoweit nicht angefochtenen tatsächlichen Feststellungen des LSG. (vgl. § 163 SGG) im vorliegenden Fall zweifellos gegeben. Der Senat konnte dahingestellt lassen, wie das Erfordernis, daß die unter § 941 Abs. 2 RVO fallenden Personen in der Landwirtschaft "eingesetzt" sind, zu umgrenzen ist, um die Fälle völliger Freiwilligkeit ggf. als nicht unter § 941 Abs. 2 RVO fallend auszuscheiden (vgl. z. B. LSG. Celle, Niedersächsisches MinBl. 1957, Rechtsprechungsbeilage, S. 46). Denn nach den Feststellungen des LSG. war der Kläger einem der auf Befehl der russischen Besatzungsmacht aufgestellten Arbeitskommandos "zugeteilt" worden und wurde, nachdem er zunächst in Berlin selbst beschäftigt worden war, schließlich in die Landwirtschaft "dirigiert". Das ist aber der typische Fall eines zeitlich begrenzten, unfreiwilligen "Einsatzes", dem sich der Kläger nicht entziehen konnte. Ob dabei ein Arbeitsverhältnis im Sinne des § 537 Nr. 1 RVO zu einem landwirtschaftlichen Unternehmen begründet worden ist, kann dahingestellt bleiben; denn dies würde, wie das LSG. zutreffend ausgeführt hat, der Anwendung des § 941 Abs. 2 RVO nicht entgegenstehen.
Die Revision ist somit unbegründet und war zurückzuweisen (§ 170 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht auf Grund von § 193 SGG.
Fundstellen