Leitsatz (redaktionell)

Versicherungsschutz für einen auf dem Heimweg gelegentlich einer kurzen Besorgung erlittenen Verkehrsunfall.

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. November 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerinnen sind die Hinterbliebenen des am 24. Oktober 1960 an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorbenen Holzarbeiters Hans G (G.). Dieser war in dem Sägewerk der Firma Christian K in Bremerhaven beschäftigt und wohnte in Sellstedt. Den Weg nach und von der Arbeitsstätte legte er im allgemeinen mit seinem Moped zurück. Aus Anlaß der Heimfahrt von der Arbeit verunglückte er am 22. Oktober 1960. Über den Hergang des Unfalls enthält das in der vorliegenden Streitsache ergangene Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen folgende Feststellungen: Am Unfalltage verließ G. nach Arbeitsende um 12.30 Uhr seine Arbeitsstätte, um nach Hause zu fahren. Sein Heimweg führte ihn durch die Ortschaft Schiffdorf. In diesem Ort bog er von der rechten Straßenseite nach links ab und fuhr zur gegenüberliegenden Straßenseite. Dort hielt er vor einem Verkehrskiosk, der an einem Wendeplatz für Omnibusse der Bremerhavener Verkehrsgesellschaft steht. Er lieferte durch das der Straße zugewandte Verkaufsfenster einen Lotto- oder Totoschein ein. Anschließend wollte er mit seinem Moped die Straße wieder nach der rechten Straßenseite hin überqueren und nach Hause weiterfahren. Dabei wurde er auf der Straße von einem in Richtung Bremerhaven fahrenden Volkswagen erfaßt und tödlich verletzt.

Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch durch Bescheid vom 25. April 1961 mit folgender Begründung ab: Für G. als Mopedfahrer sei allein die rechte Fahrbahn der Straße als versicherter Heimweg in Betracht gekommen. Wohl werde es nach der Rechtsprechung für Fußgänger als belanglos angesehen, ob sie den rechten oder linken Gehweg benutzen. Kraftfahrer hingegen dürften die allein zulässige rechte Straßenseite nicht verlassen. Wenn sie die Straße überqueren, um sich einer rein privaten Besorgung auf der gegenüberliegenden Straßenseite zuzuwenden, liege ein Abweg vor. Der Versicherungsschutz werde für diese Zeit unterbrochen und lebe erst wieder auf, wenn die Heimfahrt auf der rechten Straßenseite wieder erreicht sei. G. sei verunglückt, als er sich noch nicht auf der rechten Fahrbahn befunden habe. Deshalb entfalle die Entschädigungspflicht der Beklagten.

Auf die gegen den Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht Stade am 6. Juni 1962 die Beklagte verurteilt, an die Klägerinnen die beantragte Hinterbliebenenentschädigung zu zahlen. Es ist der Ansicht, einem Mopedfahrer steht für den Heimweg von der Arbeitsstätte die ganze Straße zur Verfügung, so daß G. durch das Aufsuchen des Kiosk an der linken Straßenseite nicht eine rechtlich wesentliche Unterbrechung des an sich versicherten Heimweges herbeigeführt habe.

Die Berufung der Beklagten hiergegen hat das LSG, das zur Klärung der örtlichen Verhältnisse an der Unfallstelle die Anfertigung von Lichtbildern veranlaßt und Zeugenbeweis erhoben hatte, durch Urteil vom 26. November 1963 zurückgewiesen. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Als G. die Straße zu dem unmittelbar an der durch einen Radfahrweg begrenzten Straßenseite gelegenen Kiosk überquert habe, sei er im Gefahrenbereich der Straße geblieben. Auch während seines Aufenthalts an dem Kiosk habe er den Straßenbereich nicht verlassen. Da dieser Aufenthalt nur kurze Zeit gedauert habe, sei keine rechtlich erhebliche Unterbrechung des Heimwegs eingetreten, so daß G. bei dem zum Unfall führenden Überqueren der Straße den Versicherungsschutz nicht verloren habe. Entscheidend sei, daß G. wieder nach Hause unterwegs gewesen sei, als er die Straße erreicht habe. Es erscheine geboten, den Versicherungsschutz ohne Rücksicht auf die von dem Beschäftigten gewählte Fortbewegungsmöglichkeit auf die gesamte Straße zu erstrecken, zumal da der Versicherte sowohl in der Wahl des Weges als auch der Art und Weise dessen Zurücklegung grundsätzlich frei sei. Eine unterschiedliche Behandlung von Fußgängern und Kraftfahrzeugbenutzern sei nicht gerechtfertigt.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Beklagten am 18. Januar 1964 zugestellt worden. Diese hat am 29. Januar 1964 Revision eingelegt und sie am 5. Februar 1964 wie folgt begründet: Das LSG habe verkannt, daß G. den Bereich der Straße verlassen habe, als er am Kiosk gewesen sei. Schon mit dem Überqueren der Straße zum Kiosk sei der Versicherungsschutz G.'s unterbrochen worden und hätte erst wiederaufleben können, wenn die Fahrt auf der rechten Fahrbahn fortgesetzt worden wäre. Es widerspräche der Bedeutung des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF als einer eng auszulegenden Ausnahmevorschrift, den Versicherungsschutz auf den gesamten Bereich der Straße zu erstrecken, auf welcher der Weg nach und von der Arbeitsstätte zurückgelegt werde. Auf das Einschieben der privaten Besorgung am Kiosk sei es zurückzuführen, daß G. an die Unfallstelle habe gelangen können.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerinnen beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie nehmen auf die Begründung des angefochtenen Urteils Bezug und verweisen auf die neuerliche Rechtsprechung des erkennenden Senats in ähnlich liegenden Fällen.

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Das LSG hat zu Recht angenommen, daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls unter Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF gestanden hat. Zwar hat sich, wie in dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt ist, der Unfall nicht bei einer Tätigkeit ereignet, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Zurücklegen des Heimwegs von der Arbeit stand. In diesen Heimweg hatte G. eine seinen privaten Zwecken dienende Betätigung eingeschoben. Er war in einer Ortschaft, durch die er mit seinem Moped kam, auf die linke Straßenseite gefahren, um an einem dort befindlichen Kiosk einen Lotto- oder Totoschein einzuliefern und anschließend zur Fortsetzung seiner Heimfahrt wieder auf die rechte Fahrbahn zurückzukehren. Hierbei handele es sich unzweifelhaft nicht um eine Betätigung, die unmittelbar auf das Erreichen der Wohnung gerichtet war. Sie ist ihrer Zielrichtung und Zweckbestimmung nach vielmehr von dem Zurücklegen der Heimfahrt klar abzugrenzen. Aber gleichwohl steht auch diese private, zum Unfall führende Betätigung G.'s mit dem Zurücklegen des Weges von der Arbeitsstätte in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Revision mit Recht geltend macht, dieser Zusammenhang werde dadurch in Frage gestellt, daß der Kiosk nicht unmittelbar an der Straße, sondern, von dieser durch einen Pflasterstreifen abgegrenzt, hinter einem Wendeplatz für Verkehrsomnibusse gestanden habe. Denn der Unfall ist nach den insoweit nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht auf dem nach Ansicht der Revision außerhalb des örtlichen Bereichs der Straße befindlichen Platz eingetreten, sondern hat sich ereignet, als G. die Fahrstraße schon wieder erreicht hatte. In Fällen dieser Art ist, wie der erkennende Senat in dem Urteil vom 28. Februar 1964 (BSG 20, 219 = SozR Nr. 49 zu RVO § 543 aF) ausgeführt hat, auf einem nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF geschützten Weg nicht jede von der Zurücklegung des Weges örtlich abgrenzbare, ihr nicht unmittelbar dienende Tätigkeit rechtlich als eine Unterbrechung des Heimweges von der Arbeit zu werten. Eine solche Zwischentätigkeit hat die Unterbrechungswirkung nur, wenn sie nach Art und Umfang so erheblich ins Gewicht fällt, daß während ihrer Dauer die ursächliche Verknüpfung mit dem versicherten Zurücklegen des Heimweges so in den Hintergrund gedrängt wird, daß sie als rechtlich unwesentlich unberücksichtigt zu bleiben hat. Das ist, wenn sich die zum Unfall führende Verrichtung noch oder wieder im Bereich der Straße abgespielt hat, regelmäßig nicht der Fall.

Von den in dieser Entscheidung dargelegten Grundsätzen abzuweichen, bietet entgegen der Meinung der Revision der vorliegende Streitfall keine Veranlassung. Das LSG ist daher ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gelangt, daß G. im Zeitpunkt des Unfalls wieder unterwegs gewesen ist, um den nach seiner vorangegangenen versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Heimweg fortzusetzen. Vor allem hat es hierbei zu Recht dem Umstand, daß G. den Heimweg nicht zu Fuß, sondern mit dem Kraftrad zurücklegte, eine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen. Dies steht mit der in dem vorstehend angeführten Urteil des erkennenden Senats vom 28. Februar 1964 dargelegten Auffassung im Einklang, nach der es bei der Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalles für die Beurteilung des Versicherungsschutzes keine entscheidende Rolle spiele, daß der Fußgänger zur Fortbewegung beliebig die Gehwege auf beiden Straßenseiten benutzen könne, während der Kraftfahrer an seine verkehrsordnungsmäßig vorgeschriebene Fahrbahn gebunden sei. Im vorliegenden Fall ergab sich für G. aus der Benutzung des Mopeds die Notwendigkeit, die linke Straßenseite wieder zu verlassen, um auf der vorgeschriebenen Fahrbahn die Heimfahrt fortzusetzen.

Bei diesem Sachverhalt ist nach der Auffassung des erkennenden Senats die Annahme gerechtfertigt, daß jedenfalls das Überqueren der Straße mit der versicherten Tätigkeit G.'s in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang steht. Der bei dem Überqueren der Straße eingetretene Unfall hat daher als Arbeitsunfall zu gelten.

Dieses Ergebnis sprengt nicht den Rahmen, der für die Anwendbarkeit des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF gegeben ist. Diese Vorschrift, die durch Art. 2 des Zweiten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 (RGBl I 97) in der Gestalt des § 545 a in das Dritte Buch der RVO eingefügt worden ist, hat auch für die Unfälle auf dem Wege nach und von der Arbeitsstätte den Versicherungsschutz vorgesehen. In welchen Grenzen sich die Ausdehnung des Versicherungsschutzes bei den sogenannten Wegeunfällen zu halten hat, bestimmt sich aus Sinn und Zweck dieser Regelung selbst. Sie ist entgegen der Meinung der Revision keine Ausnahmevorschrift im gesetzestechnischen Sinne und wäre im übrigen, auch wenn sie diese Bedeutung hätte, nicht allein deshalb eng auszulegen.

Die Revision war somit als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380230

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