Leitsatz (amtlich)
Arbeitseinkünfte, die nur unter unmittelbarer Gefährdung der Gesundheit erzielt werden, schließen Erwerbsunfähigkeit iS des RVO § 1247 Abs 2 nicht aus.
Orientierungssatz
Zum Begriff "Erwerbsunfähigkeit" iS von RVO § 1247 ("Fähigkeit" - "Unfähigkeit").
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Januar 1964 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der im Jahre 1899 geborene Kläger bezieht seit 1957 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Bis dahin arbeitete er in einem größeren Industriebetrieb als Betriebsanstreicher. Damals war bei ihm zu der Lungentuberkulose, an welcher er seit längerem litt, eine Cerebralsklerose in Erscheinung getreten. Mitte 1958 nahm er bei seiner früheren Arbeitgeberin wieder eine Beschäftigung mit leichten Magazinarbeiten und in der Werkzeugausgabe auf.
Im Oktober 1959 beantragte er die Bewilligung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte diese Leistung ab, weil der Kläger noch regelmäßig arbeite und mehr als nur geringfügige Einkünfte erziele (Bescheid vom 29. Januar 1960).
Der auf Aufhebung des ablehnenden Bescheides und Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Oktober 1959 an gerichteten Klage haben Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) stattgegeben. Aufgrund der im Verwaltungsverfahren und in diesem Rechtsstreit eingeholten fachärztlichen Gutachten waren die Instanzrichter davon überzeugt, daß jede regelmäßige Tätigkeit, auch wenn sie nur wenige Stunden täglich dauere, die Kräfte des Klägers übersteige. Die Zerstörung seines Lungengewebes habe in Verbindung mit einer Lungenblähung eine Atmungsinsuffizienz herbeigeführt, die schon bei kleinster Belastung bemerkbar werde. Der Befund berge das Risiko weiterer Gesundheitsschäden in sich. Dem Kläger könnten nur noch gelegentlich Aufsichtsfunktionen von kurzer Dauer übertragen werden. Dieser Sachverhalt rechtfertige die Annahme von Erwerbsunfähigkeit. Dafür sei es unerheblich, daß der Kläger - zumindest während eines längeren Teils der in Betracht kommenden Zeit - in steter Folge erwerbstätig gewesen sei. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie meint, die Tatsache, daß der Kläger durchgehend gearbeitet und mehr als geringfügige Einkünfte gehabt habe, schließe die Annahme von Erwerbsunfähigkeit aus, und zwar auch dann, wenn er dabei - was nicht bestritten werde - die gebotene Rücksicht auf seine Gesundheit außer acht gelassen habe.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er vertritt die Rechtsauffassung, daß § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht auf einen wirklichen Lohnerwerb, sondern auf die Fähigkeit zur entgeltlichen Arbeit in bestimmtem Ausmaß abstelle. Wollte man den Begriff der Erwerbsunfähigkeit anders auffassen, dann würde eine solche Interpretation übergesetzlichen Prinzipien widerstreiten; denn es sei schlechterdings unerträglich, daß wegen eines unter "Raubbau an der Gesundheit" erzielten Arbeitsverdienstes der Anspruch auf die Leistung der Sozialversicherung ausgeschlossen sein solle.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Die Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO ist nicht deshalb zu verneinen, weil der Kläger - ungeachtet einer unmittelbaren Gefahr für seine Gesundheit - regelmäßig gearbeitet und dadurch mehr als geringfügige Einkünfte erzielt hat. Die Tatsache einer anhaltenden Erwerbstätigkeit war zwar geeignet, den Zweifel wachzuhalten, ob die medizinischen Sachverständigen das Leistungsvermögen des Klägers zutreffend eingeschätzt hatten. Diesem Zweifel sind auch die Vorinstanzen nachgegangen, haben ihn aber für behoben angesehen.
In der Tatsache einer regelmäßigen Erwerbsarbeit ist nicht schon von Gesetzes wegen ein Umstand zu sehen, der der Verwirklichung des Tatbestandes der Erwerbsunfähigkeit entgegensteht. Der Wortteil "Unfähigkeit" in Erwerbsunfähigkeit deutet darauf hin, daß es nicht auf ein wirkliches Verhalten und Tun oder auf einen Tätigkeitserfolg ankommt. Es geht vielmehr - wie es die gesetzliche Definition des Begriffs Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs. 2 RVO ausdrückt - um ein "Können", nämlich darum, ob der Betreffende imstande ist, Arbeit zu leisten, die zu einem für andere wirtschaftlich verwertbaren Ergebnis führt und deshalb für den Arbeitenden als Erwerbsquelle dienen kann. Daß auf das Vermögen oder Unvermögen des Menschen zum Gebrauch seiner körperlichen und geistigen Kräfte abzustellen ist, entspricht der Auslegung, die mit der Bezeichnung "Fähigkeit" oder "Unfähigkeit" im Sozialversicherungsrecht seit jeher verbunden worden ist (vgl. Reichsversicherungsamt Nr. 54 Amtliche Nachrichten 1891, 162; Kreil, die Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit in der deutschen Sozialversicherung 1935, 58 ff.). Damit stimmt die Deutung des Wortes "Fähigkeit" in verwandten Gesetzesbegriffen wie in Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs. 2 RVO), Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung (§ 182 RVO), Erwerbsunfähigkeit im Recht der Unfallversicherung (§ 581 RVO, vgl. auch § 30 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) überein. Wenn der Gesetzgeber den Begriff der Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs. 2 RVO in einem abweichenden Sinn hätte verstanden wissen wollen, so hätte er dies klarstellen müssen. Das ist nicht geschehen. Die Gesetzesmaterialien lassen vielmehr erkennen, daß der Gesetzgeber an der herkömmlichen Vorstellung festgehalten hat. § 1247 Abs. 2 RVO geht auf § 1258 Abs. 3 des Regierungsentwurfs zu einem Rentenversicherungsgesetz (BTDr. II 2437) zurück. Dort hieß es, erwerbsunfähig sei, wer "nicht mehr imstande" sei, "durch eine Erwerbstätigkeit Einkünfte zu erzielen". In der Begründung hierzu (BTDr. II 2437) wird die Wendung "nicht mehr imstande ist", abgewandelt in "nicht in der Lage ist". Beide Äußerungen werden aber in der Umgangssprache und in der Sprache des Gesetzes sinngleich mit "nicht mehr fähig" gebraucht. Den Unterschied zwischen Invalidität - oder, wie es jetzt heißt: Berufsunfähigkeit - und Erwerbsunfähigkeit hat der Gesetzgeber darin gesehen, daß Invalide "trotz ihrer Invalidität durchaus noch in der Lage sind, durch Erwerbstätigkeit Mittel für ihren Lebensbedarf zu verdienen", daß aber die Existenz der Erwerbsunfähigen "im Regelfall ausschließlich auf ihrer Rente beruht" (Begründung Seite 72). Diese Verschiedenheit sollte aber nichts daran ändern, daß die gleichen Umstände Voraussetzungen sein sollen sowohl für die Invalidität (= Berufsunfähigkeit) als auch für die Erwerbsunfähigkeit. Der Grad des Kräfteverlustes sollte nicht aufgrund des wirklich erzielten, sondern des noch erzielbaren Verdienstes gemessen werden. Daraus folgt, daß Arbeitseinkünfte nicht in Rechnung zu stellen sind, die nur mit dem Risiko unmittelbarer Schädigung erworben werden. - Eine abweichende Lösung hätte - wie der Kläger zu Recht hervorhebt - unvertretbare Auswirkungen. Wer den Belastungen eines Mindestmaßes von Erwerbsarbeit nicht mehr gewachsen ist, aber trotzdem etwa deshalb weiterarbeitet, weil die Rente als Lebensgrundlage nicht ausreicht, erhielte nicht einmal diese niedrige Rente; er ginge leer aus. Das liefe dem Ziel der gesetzlichen Rentenversicherungen zuwider.
Das haben die Vorinstanzen zutreffend erkannt. Die dagegen von der Beklagten erhobene Revision ist mit der auf § 193 SGG gestützten Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Fundstellen