Orientierungssatz

Mit dem Begriff der Gelegenheitsursache werden zwar die rechtlich unerheblichen - nicht wesentlichen - Bedingungen bezeichnet. Die Wertung einer Erfolgsbedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn als bloße Gelegenheitsursache ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu (etwa) derselben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte oder diese sogar ohne jede äußere Einwirkung zutage getreten wären (vergleiche BSG 1961-09-26 2 RU 209/59 = SozR Nr 47 zu § 542 RVO aF.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 3

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. Mai 1973 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger war als Angestellter (Vertreter) bei der Firma Gebrüder H. Maschinenfabrik in M, beschäftigt. Er begehrt von der für dieses Unternehmen zuständigen beklagten Berufsgenossenschaft die Zahlung einer Verletztenrente mit der Begründung, er habe am 30. Dezember 1968 ein von ihm montiertes zentnerschweres Schneeräumgerät seiner Arbeitgeberin, das ihm beim Ausprobieren von der Terrasse seines Hauses über einen Hang abgerutscht sei, mit großer Anstrengung zurückgezogen und sei dabei zusammengebrochen; dadurch habe er sich eine Rückgratverletzung zugezogen.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 12. Oktober 1970 die Gewährung einer Entschädigung ab und führte aus: Nach dem Bericht des Assistenzarztes Dr. S -- II. Medizinische Klinik ... in M - vom 6. November 1969 leide der Kläger an einer isolierten Zerstörung des 12. Brustwirbelkörpers. Als Ursache der Wirbelkörperdestruktion sei von der Orthopädischen Universitätsklinik M eine isolierte Osteoporose angenommen worden. Die Probearbeit am 30. Dezember 1968 sei nur der äußere Anlaß - die Gelegenheitsursache - für das wahrnehmbare Hervortreten der bereits vorhanden gewesenen Osteoporose gewesen; diese hätte aber auch bei jedem anderen Anlaß in Erscheinung treten können. Ein Arbeitsunfall habe daher nicht vorgelegen.

Das Sozialgericht (SG) Landshut hat ein schriftliches Gutachten von Professor Dr. V/Dr. R (Orthopädische Klinik M) eingeholt, das am 23. September 1971 erstattet worden ist. Durch Urteil vom 8. November 1971 hat es die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 16. Mai 1973 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Assistenzarzt Dr. S habe ausgeführt, daß eine isolierte Osteoporose sicher nicht von einem erstmaligen und einmaligen Unfallereignis herrühre und die angeblichen Unfallfolgen - keine Fraktur, keine tuberkulöse oder metastatische ossöre Veränderung, sondern eine osteoporotische - mit dem angegebenen einmaligen Ereignis nicht zu vereinbaren seien. Immerhin habe Dr. S die endgültige Klärung durch Kontrolluntersuchungen in einer orthopädischen Klinik empfohlen. Diese Klärung sei durch das Gutachten von Prof. Dr. V/Dr. R herbeigeführt worden. Diese Sachverständigen hätten zwar dargelegt, daß die von ihnen angenommene Spontanverformung des 12. Brustwirbelkörpers durch das vom Kläger angeschuldigte Ereignis verursacht worden sei, zugleich jedoch mit Bestimmtheit hervorgehoben, daß dieses Ereignis nur als Gelegenheitsursache zu werten sei, weil die Wirbelsäule erheblich stabilitätsgemindert sei. Dem Einwand des Klägers, nach dem Bericht von Dr. S habe es sich nicht nur um eine isolierte Destruktion des 12. Brustwirbelkörpers, sondern auch um eine (nur) isolierte Osteoporose gehandelt, sei entgegenzuhalten, daß von Prof. Dr. V/Dr. R eine generalisierte Osteoporose der Wirbelsäule sowie eine Spondylose, Spondylarthrose und Osteochondrose der Wirbelsäule festgestellt worden seien. Im übrigen hätten diese Sachverständigen überzeugend darauf hingewiesen, daß die hochgradige Osteoporose auf den Röntgenaufnahmen schon im Januar 1968 zum Ausdruck gekommen sei und, da eine so hochgradige Veränderung sich nicht innerhalb von 1 - 2 Monaten ausbilden könne, mit Sicherheit anzunehmen sei, daß auch schon vor dem angeschuldigten Ereignis eine hochgradige Osteoporose der gesamten Wirbelsäule vorgelegen habe, die eine erhebliche Stabilitätsminderung zur Folge gehabt habe. Diese in ihrer Schlußfolgerung unbedenkliche Sachverständigenäußerung sei durch anderslautende nicht erschüttert oder gar widerlegt. Angesichts der röntgenologisch nachgewiesenen erheblichen Vorschädigung der gesamten Wirbelsäule, welche die bei dem Kläger am 30. Dezember 1968 aufgetretenen Beschwerden zwanglos erkläre, habe sich das Gericht nicht von einer wesentlichen Mitverursachung durch schädigende Einwirkungen der betrieblichen Tätigkeit überzeugen können.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der vom LSG nicht zugelassenen Revision und rügt eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie einen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG). Er trägt vor: Das LSG hätte, wie von ihm angeregt, ein weiteres ärztliches Gutachten zur Klärung des ursächlichen Zusammenhangs einholen müssen. Die Begründung, mit der im Gutachten von Prof. Dr. V/Dr. R eine Gelegenheitsursache bejaht worden sei, entspreche nicht den in der Rechtsprechung feststehenden Grundsätzen. Für die Verformung des 12. Brustwirbelkörpers anläßlich der außerordentlichen Anstrengung beim Heraufziehen eines zentnerschweren Schneeräumers an einem Hang sei nur deshalb eine Gelegenheitsursache angenommen worden, "weil eine normale Wirbelsäule bei ähnlicher Belastung nicht mit einer Verformung eines Wirbelkörpers reagiert" hätte. Dies reiche jedoch für die Annahme einer Gelegenheitsursache nicht aus. Bei Anlegung des richtigen Maßstabes und nach der insoweit noch erforderlichen Sachaufklärung hätte sich ergeben, daß nicht jedes andere alltägliche Ereignis etwa zu derselben Zeit die Gesundheitsstörung ausgelöst hätte. Das LSG hätte außerdem die von den Ärzten unterschiedlich beantwortete, entscheidungserhebliche Frage klären müssen, ob überhaupt eine Osteoporose vorliege und - gegebenenfalls - ob diese generalisiert oder isoliert sei.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Bayerischen LSG vom 16. Mai 1973 und des SG Landshut vom 8. November 1971 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Schädigung des 12. Brustwirbelkörpers Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. zu gewähren,

hilfsweise,

die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Nach ihrer Ansicht ist es zweifelhaft, ob das LSG die Kausalitätsnorm im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG überhaupt angewendet hat. Sie meint: Das angefochtene Urteil enthalte keine Feststellungen darüber, daß der vom Kläger geschilderte Vorgang am 30. Dezember 1968 ein Arbeitsunfall gewesen sei und zwischen diesem Vorgang und dem vom Kläger darauf zurückgeführten Leidenszustand ein ursächlicher Zusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn bestehe. Selbst wenn man jedoch davon ausgehe, daß diese Feststellungen im Urteil getroffen seien, lägen die vom Kläger gerügten Mängel nicht vor. Insbesondere sei nicht erkennbar, inwiefern das Berufungsgericht die von ihm zutreffend zitierte Kausalitätsnorm verletzt habe.

II

Die - nicht zugelassene - Revision ist statthaft, da der Kläger zu Recht eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Sie ist auch insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Unzutreffend ist die Ansicht der Beklagten, auf § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG könne die Revision nicht gestützt werden, weil das LSG schon die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls sowie den ursächlichen Zusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn - also in tatsächlicher Hinsicht - nicht bejaht und damit die Kausalitätsnorm überhaupt nicht angewendet habe. Wie dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe mit noch hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, hat das LSG vielmehr geprüft, ob eine Destruktion des 12. Brustwirbelkörpers durch eine schädigende Einwirkung wesentlich verursacht oder mitverursacht worden ist, die sich bei einer mit der versicherten Tätigkeit des Klägers zusammenhängenden Verrichtung - bei einem mit großer Anstrengung vorgenommenen Heraufziehen eines Schneeräumers an einem Hang - am 30. Dezember 1968 ereignet hat. In der hiernach vom LSG angestellten Prüfung, ob eine Bedingung zum Eintritt eines Erfolges wesentlich mitgewirkt hat, liegt aber die Anwendung der für das Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm. Die Übernahme der gutachtlichen Äußerungen von Prof. Dr. V/Dr. R in die Entscheidungsgründe - die Schädigung sei durch das Ereignis verursacht worden, jedoch nur im Sinne einer Gelegenheitsursache - ist als tatsächliche Feststellung des LSG zu werten, daß ein ursächlicher Zusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn gegeben ist.

Das LSG hat die Kausalitätsnorm unrichtig angewendet und damit das Gesetz im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG verletzt.

Die beim Kläger bestehende Gesundheitsstörung, vom LSG als Destruktion des 12. Brustwirbelkörpers bezeichnet, ist nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG sowohl "durch das vom Kläger angeschuldigte Ereignis" als auch durch eine hochgradige Osteoporose der gesamten Wirbelsäule im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn verursacht worden. Beide Faktoren kommen daher als wesentliche Bedingungen und somit als Ursachen oder Mitursachen im Rechtssinne der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre in Betracht (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Auf., S. 480 k II mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum). Die Bedeutung der einzelnen Bedingungen war hiernach vom LSG in abwägender Beurteilung zu ermitteln. Das LSG hat zwar am Ende der Entscheidungsgründe ausgeführt, von einer wesentlichen Mitverursachung durch schädigende Einwirkungen der betrieblichen Tätigkeit habe es sich angesichts der erheblichen Vorschädigung der gesamten Wirbelsäule des Klägers nicht zu überzeugen vermocht. Es fehlt jedoch an der Abwägung der einzelnen Erfolgsbedingungen.

Für seine Annahme, bei dem Kläger habe eine - nicht nur isolierte, sondern eine generalisierte - Osteoporose der Wirbelsäule mit der Folge einer erheblichen Stabilitätsminderung auch schon vor dem angeschuldigten Ereignis bestanden, hat sich das LSG allerdings auf entsprechende Ausführungen in dem von Prof. Dr. V/Dr. R am 23. September 1971 erstatteten Gutachten gestützt. Es kann dahinstehen, ob die in diesem Gutachten enthaltene, vom LSG übernommene Zeitangabe "Januar 1968", zu der eine hochgradige Osteoporose bereits zum Ausdruck gekommen sein soll, auf einem Schreibfehler beruht; daß in Wirklichkeit der Januar 1969 gemeint ist, lassen die Ausführungen auf Seite 6 und 7 des Gutachtens vermuten, nach denen die Osteoporose schon auf den 1 - 2 Monate nach dem Unfall (30. Dezember 1968) angefertigten Röntgenaufnahmen erkennbar gewesen sei. Hinsichtlich der Bedeutung aber, die dem Unfallereignis für die Gesundheitsstörung des Klägers beizumessen ist, hat das LSG lediglich ausgeführt, daß die Gutachter mit Bestimmtheit hervorgehoben hätten, dieses Ereignis sei nur als Gelegenheitsursache zu werten, weil die Wirbelsäule erheblich stabilitätsgemindert sei. Mit dem Begriff der Gelegenheitsursache werden zwar die rechtlich unerheblichen - nicht wesentlichen - Bedingungen bezeichnet (vgl. Brackmann aaO S. 480 k II, 488 l, jeweils mit Nachweisen). Die Wertung einer Erfolgsbedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn als bloße Gelegenheitsursache ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu (etwa) derselben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte oder diese sogar ohne jede äußere Einwirkung zutage getreten wären (vgl. z. B. BSG in SozR Nr. 47 zu § 542 RVO aF; Brackmann aaO S. 480 k II, 488 k ff. mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum, vgl. auch S. 488 m II zur Frage der unfallbedingten Verschlimmerung, wenn das Unfallereignis stärker als ein ähnlich gelagertes alltägliches Ereignis eingewirkt hat). Zur Annahme einer Gelegenheitsursache bedarf es folglich für die vorzunehmende Wertung der einzelnen Erfolgsbedingungen zunächst entsprechender tatsächlicher Feststellungen. Solche enthält das angefochtene Urteil jedoch nicht, wie die Revision zu Recht gerügt hat. Selbst wenn zur Ergänzung der fehlenden Feststellungen die gutachtlichen Ausführungen von Prof. Dr. V/Dr. R berücksichtigt werden könnten, wäre dieser Mangel nicht behoben. Denn auch die Sachverständigen haben sich nicht darüber geäußert, ob die Gesundheitsstörung des Klägers durch jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis etwa zu derselben Zeit entstanden wäre. Falls der Beurteilung im Gutachten vom 23. September 1971 die Meinung seiner Verfasser zugrunde liegen sollte, das Unfallereignis sei schon deshalb nur als Gelegenheitsursache zu werten, weil "eine normale Wirbelsäule ... bei einer ähnlichen Belastung nicht mit einer Verformung eines Wirbelkörpers reagieren" würde, hätte sich das LSG, da der Begriff der Gelegenheitsursache verkannt wäre, dem Gutachten auch aus diesem Grunde nicht anschließen dürfen.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG wegen Verletzung der Kausalitätsnorm statthafte Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das LSG (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Es ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es - wie vom Kläger im Berufungsverfahren bereits angeregt - bei zutreffender Anwendung der Kausalitätsnorm die für die Annahme einer Gelegenheitsursache rechtserheblichen tatsächlichen Umstände festgestellt und aufgeklärt hätte.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648743

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