Orientierungssatz

Die einem Beteiligten nicht mitgeteilte Gerichtskundigkeit einer Tatsache kann im Urteil erst dann verwertet werden, wenn die Beteiligten vorher darauf hingewiesen worden sind und Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen (vergleiche hierzu BSG 1964-10-01 11/1 RA 174/62 = BSGE 22, 19, 20; BSG 1972-11-16 11 RA 42/72 = SozR Nr 91 zu § 128 SGG). Daran ändert auch der Umstand nichts, daß sowohl das SG als auch einer der Beteiligten auf die vom LSG als gerichtskundig angesehene Tatsache hingewiesen hatten. Dieser Hinweis durch andere als das erkennende Tatsachengericht läßt für die Beteiligten noch nicht erkennen, daß auch dieses Gericht die Tatsache als gerichtskundig ansehen und in das Verfahren einführen will.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 2, §§ 62, 162 Abs. 2; GG Art. 103 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. September 1972 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.

Der Kläger hat den erlernten Beruf eines Maschinenschlossers im Jahre 1970 aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben und danach als Magazinarbeiter gearbeitet. Die Beklagte lehnte den am 23. Januar 1970 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 27. August 1970 ab, weil der Kläger nach den vorliegenden Gutachten noch fähig sei, leichte bis mittelschwere Arbeiten ganztägig zu verrichten, so daß er weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig sei.

Das Sozialgericht (SG) hat weiteren Beweis erhoben und die Beklagte am 13. April 1972 unter Aufhebung ihres Bescheides vom 27. August 1970 verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Februar 1970 an eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren und darüber einen Bescheid zu erteilen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil am 23. November 1972 geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei nicht berufsunfähig. Er könne noch leichte bis mittelschwere Arbeiten ganztägig verrichten, die wahlweise im Sitzen, Stehen oder Umhergehen in geschlossenen und temperierten Räumen verrichtet würden. Bei leichten Arbeiten sei nur das ständige Stehen ausgeschlossen. In Handwerksbetrieben fielen solche Tätigkeiten, die diesen Einschränkungen gerecht werden, zwar nicht an. Dem Senat sei jedoch aus zahlreichen Beweisaufnahmen bekannt, daß Schlosser in der Industrie mit leichten Arbeiten, die auch vorwiegend im Sitzen zu verrichten seien, beschäftigt würden, so z.B. Maßkontrollen, Funktionskontrollen und Endmontagen. Arbeitsplätze dieser Art seien in beachtlichem Umfang auf dem Arbeitsmarkt vorhanden.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, die Revision sei nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel. Das LSG habe im Urteil ausgeführt, aus zahlreichen Beweisaufnahmen sei ihm bekannt, daß Schlosser in der Industrie auch mit leichten Arbeiten, die vorwiegend im Sitzen zu verrichten seien, beschäftigt würden. Das möge zwar richtig sein; das LSG habe aber diese gerichtskundige Tatsache nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht, wie dies erforderlich sei. Wenn das Gericht eine Tatsache als gerichtskundig ansehe, so müsse es die Beteiligten darauf hinweisen. Dabei genüge es nicht, nur zu sagen, was das Gericht als festgestellt ansehen wolle; vielmehr müsse das Gericht auch unmißverständlich deutlich machen, daß die festgestellte Tatsache gerichtsbekannt sei.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 13. April 1972 zurückzuweisen;

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zu verwerfen.

Sie ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unstatthaft. Das Verfahren des LSG leide nicht an einem wesentlichen Mangel. Der Kläger habe Gelegenheit genug gehabt, sich zu der vom LSG gegebenen Begründung zu äußern. Im Urteil erster Instanz sei bereits ausgeführt, daß es dem Gericht bekannt sei, daß es auch leichte Schlosserarbeiten gebe, die im Sitzen zu verrichten seien. Auch in der Berufungsbegründung der Beklagten sei unter Bezeichnung der Rechtsprechung des LSG vorgetragen worden, welche Arbeiten es für einen Schlosser und Maschinenschlosser gebe und daß dies gerichtsbekannt sei.

II

Die vom LSG nicht zugelassene Revision des Klägers ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, denn das Berufungsverfahren leidet an einem vom Kläger gerügten wesentlichen Mangel.

Der Kläger rügt mit Recht, das LSG habe den § 128 Abs.2 SGG verletzt. Das Berufungsgericht hat im angefochtenen Urteil ausgeführt, ihm sei aus zahlreichen Beweisaufnahmen bekannt, daß Schlosser in der Industrie mit näher bezeichneten leichten Arbeiten, die auch vorwiegend im Sitzen zu verrichten seien, beschäftigt werden. Zwar ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, wenn das Tatsachengericht entweder die in einem anderen Verfahren erhobenen Beweise selbst oder aber das Ergebnis der Beweisaufnahme als gerichtskundig in das Verfahren einführt. Nach § 128 Abs. 2 SGG müssen die Beteiligten aber Gelegenheit haben, dazu Stellung zu nehmen. Das setzt voraus, daß das Tatsachengericht zu erkennen gibt, daß es die in einem anderen Verfahren erhobenen Beweise oder das Ergebnis dieser Beweisaufnahmen als gerichtskundig in dieses Verfahren einführen will. Nur dann haben die Beteiligten Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Das ist so im vorliegenden Fall, in welchem die Gerichtskundigkeit an die Stelle einer an sich durchzuführenden besonderen Beweisaufnahme tritt. Die den Beteiligten nicht mitgeteilte Gerichtskundigkeit einer Tatsache kann im Urteil erst dann verwertet werden, wenn die Beteiligten vorher darauf hingewiesen worden sind und Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen (vgl. hierzu BSG 22, 19, 20; SozR Nr. 91 zu § 128 SGG). Daran ändert auch der Umstand nichts, daß sowohl das SG als auch die Beklagte auf die vom LSG als gerichtskundig angesehene Tatsache hingewiesen hatten. Dieser Hinweis durch andere als das erkennende Tatsachengericht läßt für die Beteiligten noch nicht erkennen, daß auch dieses Gericht die Tatsache als gerichtskundig ansehen und in das Verfahren einführen will.

Das angefochtene Urteil beruht auch auf diesem vom Kläger gerügten wesentlichen Verfahrensmangel. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und der Entscheidung im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG ist schon dann gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, daß das LSG bei richtiger Anwendung der verfahrenrechtlichen Vorschriften anders entschieden hätte (vgl. SozR Nr. 29 zu § 162 SGG). Die danach ausreichende Möglichkeit einer anderen Entscheidung kann im vorliegenden Falle nicht verneint werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Kläger das LSG durch seinen Vortrag oder entsprechende Anträge dazu veranlaßt hätte, anders zu entscheiden oder jedenfalls weitere Beweise zu erheben, wenn ihm Gelegenheit gegeben worden wäre, zu der vom LSG als gerichtskundig angesehenen Tatsache Stellung zu nehmen.

Durch die Verletzung des § 128 Abs. 2 SGG, der gleichzeitig eine Verletzung des § 62 SGG und des Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) enthält, ist den Tatsachenfeststellungen des LSG die Grundlage entzogen. Da der Senat die fehlenden Tatsachenfeststellungen nicht nachholen kann, hat er das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648605

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