Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. August 1996 und des Sozialgerichts Koblenz vom 8. Februar 1995 sowie der Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 1994 aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Rücknahmebescheides.
Der 1938 geborene Kläger lebte bis zum Jahre 1966 in der DDR; seit Mitte des Jahres 1966 übte er in der Bundesrepublik Deutschland als Angehöriger der Nationalen Volksarmee (NVA) eine nachrichtendienstliche Tätigkeit aus. Am 17. April 1990, drei Tage vor seiner vorläufigen Verhaftung, erhielt der Kläger von seiner Dienststelle die Aufforderung zum sog „geordneten Rückzug”, nämlich zur Kündigung seines Arbeitsverhältnisses, seiner Wohnung sowie zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten und zur Rückkehr in die DDR; dieser Aufforderung kam der Kläger nicht nach. Mit Urteil vom 15. Juni 1993 wurde er wegen Landesverrats zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt (Oberlandesgericht ≪OLG≫ Koblenz – 3 StE 8/92).
Zwischenzeitlich, mit Befehl Nr 50/90 des Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung, war der Kläger wegen Erfüllung der Dienstzeit im Zusammenhang mit strukturellen Veränderungen zum 31. August 1990 aus dem aktiven Wehrdienst entlassen worden. Am gleichen Tag beantragten Angehörige seiner Dienststelle für ihn die Gewährung einer befristeten erweiterten Versorgung nach der Versorgungsordnung für Angehörige der NVA (Ordnung Nr 005/9/003 des Ministers für Nationale Verteidigung über die soziale Versorgung der Angehörigen der NVA vom 1. September 1982). Als Wohnort war in dem Formularantrag eine Ostberliner Adresse (Berlin, R. …) angegeben. Unter dieser Adresse wurde dem Kläger mit Bescheid vom 30. November 1990 eine befristete erweiterte Versorgung ab 1. September 1990 von 1.417,00 DM zuerkannt. Mit Schreiben vom 9. Januar 1991 teilte der Kläger der Beklagten mit, daß er seinen Wohnsitz von Berlin nach B. … verlegt habe.
Ende Februar 1994 entstanden bei der Beklagten aufgrund eines Hinweises der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) Zweifel sowohl an der Identität des Klägers als auch an seiner Zugehörigkeit zur NVA und – in diesem Zusammenhang – an der Rechtmäßigkeit der gewährten Leistungen. Im Hinblick hierauf forderte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 19. April 1994 zur Stellungnahme auf und wies darauf hin, daß sie zum 1. Mai 1994 die Versorgungsleistungen vorläufig einstellen werde. Im Auftrag des Klägers teilte ua sein ehemaliger Abteilungsleiter mit Schreiben vom 27. April 1994 mit, nachdem das OLG Koblenz den Verfall der Ersparnisse des Klägers angeordnet habe, und der Kläger infolge seines schlechten Gesundheitszustandes ohne Aussicht auf eine Erwerbstätigkeit sei, stehe er ohne die Leistungen vor einem „sozialen Nichts”.
Mit Bescheid vom 17. Mai 1994 hob die Beklagte den Bescheid vom 30. November 1990 mit Wirkung vom 1. September 1990 auf und stellte die Zahlung ab 1. Mai 1994 ein. Sie führte ua aus: Nach der Grundsatzentscheidung des Ministers für Abrüstung und Verteidigung vom 6. Juli 1990, die mit Art 20 Abs 7 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. Mai 1990 ≪WWSUVtr≫ (BGBl II S 537) übereinstimme, habe der Kläger gemäß Teil I Abschnitt 4 Nr 401 Ziff 1 Abs 1 der Versorgungsordnung keinen Anspruch auf die Versorgungsleistung, da er vor dem 19. Mai 1990 seinen Wohnsitz außerhalb der DDR gehabt habe. Er habe das Staatsgebiet der DDR vor dem 19. Mai 1990 verlassen und bis zum 3. Oktober 1990 nicht wieder betreten. Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend: Er habe als Offizier der ehemaligen NVA seinen Hauptwohnsitz immer auf dem Staatsgebiet der DDR gehabt; gleichzeitig legte er einen Mietvertrag vom 6. April 1990 über die Wohnung Berlin, R. …, vor.
Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 1994 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück: Die Sach- und Rechtslage habe ergeben, daß der angefochtene Bescheid nicht zu beanstanden sei; den Unterlagen sei zweifelsfrei zu entnehmen, daß der Kläger bereits seit 1972 in der Bundesrepublik Deutschland lebe und demnach zu keinem Zeitpunkt die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung der befristeten erweiterten Versorgung erfüllt habe.
Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat durch Urteil vom 8. Februar 1995 die Klage abgewiesen; es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 30. November 1990 lägen vor. Dieser Bescheid sei von Anfang an rechtswidrig gewesen. Der Kläger habe unabhängig davon, ob er nach den Bestimmungen des Zivilgesetzbuches der DDR als Spion seinen Erstwohnsitz in der DDR gehabt habe, sich lange vor dem 18. Mai 1990 in der Bundesrepublik Deutschland gewöhnlich aufgehalten. Ohne Vertrauensabwägung sei die Beklagte berechtigt gewesen, den Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen; denn dieser beruhe auf den vorsätzlichen bzw grob fahrlässigen, in wesentlicher Beziehung unrichtigen Angaben des Klägers hinsichtlich seines Aufenthaltsortes. Im Hinblick hierauf habe die Beklagte Ermessenserwägungen nicht anstellen müssen; es sei von einer „Ermessensreduktion auf Null” auszugehen.
Vor dem Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger anläßlich einer Anhörung am 29. September 1995 ua angegeben: Nachdem er den Bewilligungsbescheid vom 30. November 1990 erhalten habe, seien ihm keine Bedenken hinsichtlich dessen Rechtmäßigkeit gekommen; er habe sich den Inhalt erläutern lassen und gemeint, der Bescheid sei richtig. Der Bewilligungsbescheid sei unter der Adresse Berlin, R. …, zugestellt und ihm von seinem ehemaligen Führungsoffizier, der ermächtigt gewesen sei, seine Post entgegenzunehmen, an seinen Wohnort in B. … zugeschickt worden. Er selbst sei nie in der Wohnung Berlin, R. …, gewesen und habe auch keine Schlüssel für die Wohnung besessen.
Mit Urteil vom 30. August 1996 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen und unter Bezugnahme auf das Urteil des SG ua ergänzend ausgeführt: Der Bescheid vom 30. November 1990 sei rechtswidrig gewesen, da der Kläger keinen ständigen Wohnsitz in der DDR und demnach keinen Anspruch auf die befristete erweiterte Versorgung gehabt habe. Er habe seit 1966 bis zu seiner Verhaftung im April 1990 ununterbrochen im Bundesgebiet gelebt und nie einen Wohnsitz in Berlin, R. …, begründet. Der Aufforderung zum „geordneten Rückzug” und zur Rückkehr in die DDR sei er nicht nachgekommen. Er sei nicht etwa auf Anordnung seiner Dienststelle aus gesundheitlichen Gründen in der Bundesrepublik Deutschland verblieben. Auf schutzwürdiges Vertrauen könne sich der Kläger nicht berufen. Die vorsätzlich falschen Angaben der Mitarbeiter seiner früheren Dienststelle im Formularantrag müsse er sich zurechnen lassen. Er sei darüber hinaus bösgläubig gewesen; er habe bewußt den Irrtum der Beklagten bezüglich seines Wohnortes aufrechterhalten, indem er ihr mit Schreiben vom 9. Januar 1991 die „Verlegung” seines Wohnsitzes von Berlin, R. …, nach B. … mitgeteilt habe. Die fehlende Ermessensbetätigung der Beklagten sei unschädlich. Denn bei Bösgläubigkeit sei der rechtswidrig begünstigende Verwaltungsakt grundsätzlich zurückzunehmen; das in § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) vorgesehene Ermessen sei auf Null reduziert. Die Beklagte habe auch die Zehn-Jahres-Frist und auch die Jahresfrist für die rückwirkende Aufhebung des Bescheides eingehalten.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung von § 45 SGB X und trägt vor:
Der Bescheid vom 30. November 1990 sei nicht rechtswidrig gewesen. Er habe durch seine nachrichtendienstliche Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland seinen Wohnsitz in der DDR gemäß § 466 Abs 4 des Zivilgesetzbuches der DDR nicht verloren. Er habe sich nur im Hinblick auf seine Tätigkeit vorübergehend außerhalb der DDR aufgehalten. Zudem genieße er Vertrauensschutz; er habe die Versorgung verbraucht; weiteres Einkommen stehe ihm nicht zur Verfügung. Nachdem er Beiträge in das Versorgungssystem eingezahlt habe, habe er schließlich darauf vertrauen dürfen, daß er Versorgungsbezüge erhalten werde. Im übrigen stehe der Rechtswidrigkeit § 1 Abs 1 Satz 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I S 1606, 1677) entgegen, wonach ein Verlust von Anwartschaften als nicht eingetreten gelte, soweit die Regelungen der Versorgungssysteme einen derartigen Verlust bei einem Ausscheiden aus dem Versorgungssystem vor dem Leistungsfall vorgesehen hätten. Es treffe nicht zu, daß er im April 1990 generell die Rückkehr in die DDR abgelehnt habe. Er habe sich lediglich gegen einen geordneten Rückzug gewandt, da er seit Herbst 1989 krankgeschrieben gewesen sei und die im Zusammenhang mit einem geordneten Rückzug auszusprechende Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses den Sicherheitsbehörden aufgefallen wäre. Zu einer sofortigen Rückkehr in die DDR habe er sich bereiterklärt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. August 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 8. Februar 1995 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 1994 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die nach ihrer Auffassung zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils und trägt ergänzend vor: Wenn der Kläger am 17. April 1990 die Rückkehr in die DDR abgelehnt habe, so sei ihm nicht daran gelegen gewesen, dort einen Wohnsitz zu begründen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet.
Die Urteile der Vorinstanzen sind ebenso wie der angefochtene Bescheid vom 17. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben (§ 54 Abs 1 SGG). Der Rücknahmebescheid (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides) ist insgesamt, sowohl was die Aufhebung des Bescheides vom 30. November 1990 für die Vergangenheit als auch für die Zukunft betrifft, rechtswidrig. Denn die Beklagte hat die für die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X erforderliche Ermessensentscheidung nicht getroffen (Ermessensnichtgebrauch). Das hat zur Folge, daß der Bescheid vom 30. November 1990, mit dem dem Kläger eine befristete erweiterte Versorgung zuerkannt worden war, weiterhin Bestand hat und Rechtsgrundlage für die Leistungen auch für die Zeit ab Mai 1994 ist.
Nach § 45 SGB X, der hier allein als Rechtsgrundlage in Betracht kommt, darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Abs 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft und auch mit Wirkung für die Vergangenheit (bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe, Abs 3 Satz 3 aaO) zurückgenommen werden (Abs 1). Er darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Abs 2 Satz 1). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Abs 2 Satz 3), oder soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Abs 2 Satz 3 Nr 3 Halbsatz 1). § 45 Abs 1 SGB X regelt mithin die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes; bei deren Vorliegen der Verwaltungsträger eine Ermessensentscheidung treffen „darf” (vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 32 S 104; Nr 39 S 124; BSGE 66, 204, 206 = SozR 3-1300 § 45 Nr 1 S 3; Nr 5 S 20).
Zwar sind, wie das LSG zutreffend festgestellt hat, die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Rücknahme des die erweiterte Versorgung bewilligenden Bescheides vom 30. November 1990 gegeben. Dieser Bescheid war ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt iS des § 45 SGB X. Rechtswidrig war er, weil dem Kläger kein Anspruch auf die befristete erweiterte Versorgung zustand, da er jedenfalls bis zum 3. Oktober 1990 seinen ständigen Wohnsitz nicht in der DDR hatte; dies wäre jedoch nach Teil I Abschnitt 4 Nr 401 Ziff 1 Abs 1 der Versorgungsordnung Voraussetzung für einen derartigen Anspruch gewesen.
Die Vorschriften der Versorgungsordnung fanden gemäß Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr 9 Buchst e des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands (EV) vom 31. August 1990 (BGBl II S 889) als sekundäres Bundesrecht Anwendung. Danach sind die in den Versorgungssystemen enthaltenen Regelungen über Versorgungsleistungen aufgrund vorzeitiger Entlassung am 31. Dezember 1990 außer Kraft getreten; Anspruch auf solche Versorgungsleistungen haben nach dieser Bestimmung des EV nur solche Personen, die am 3. Oktober 1990 die Voraussetzungen für die Versorgungsleistungen (nach der Versorgungsordnung) erfüllt hatten und bis zum 31. Dezember 1990 entlassen worden waren. Mithin wurde insoweit außerhalb des Überführungsprogramms des EV (EV Nr 9 Buchst b), nach dem sämtliche in den Versorgungssystemen zurückgelegten, versorgungsrechtlich relevanten Zeiten in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen waren, übergangsrechtlich eine spezielle Regelung für Berechtigte geschaffen, die unter den og Voraussetzungen einen Anspruch auf befristete erweiterte Versorgung haben. Der Kläger hatte jedoch das nach der Versorgungsordnung (Teil I Abschnitt 4 Nr 401 Ziff 1 Abs 1) erforderliche anspruchsbegründende Merkmal des „ständigen Wohnsitzes in der DDR” bis zum 3. Oktober 1990 nicht erfüllt. Denn er hatte weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt, also den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse (vgl hierzu BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 8) in der ehemaligen DDR. Nach den tatsächlichen, vom Kläger mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hatte der Kläger – zudem – spätestens am 17. April 1990 seine Absicht, in die DDR zurückzukehren, endgültig aufgegeben, als er der Aufforderung seiner Dienststelle zur Rückkehr in die DDR nicht nachgekommen war.
Entgegen der Auffassung des Klägers betrifft Nr 6 der Grundsatzentscheidung zur Versorgungsordnung vom 6. Juli 1990 eine andere Fallgestaltung. Die Vorschrift gilt nur für diejenigen Empfänger, die bereits eine „Rente” bezogen und nach dem 18. Mai 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland genommen hatten; in diesen Fällen wurde die „Rente” weitergezahlt. Die Art 20 Abs 7 des Staatsvertrages entsprechende, am Wohnsitz bzw gewöhnlichen Aufenthalt orientierte Regelung ist nicht zu beanstanden. Sie war – auch – maßgebend für das jeweils anzuwendende Recht (vgl hierzu entsprechend Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫, Beschluß vom 11. November 1996 – 1 BvL 4/88).
§ 1 Abs 1 Satz 2 AAÜG greift ebenfalls nicht ein. Die Bestimmung, die nahtlos an das Überführungsprogramm des EV Nr 9 anschließt, dient allein der „Überleitung” der Ansprüche und Anwartschaften aus den Versorgungssystemen in die Rentenversicherung und ist bereits deshalb auf Ansprüche, die, wie die befristete erweiterte Versorgung, gerade nicht in die gesetzliche Rentenversicherung überführt worden sind (§ 9 Abs 1 Nr 1d AAÜG), nicht anwendbar.
Der Kläger kann sich auch nicht auf Vertrauensschutz berufen, da er bösgläubig iS von § 45 Abs 3 iVm Abs 2 Satz 2 und 3 SGB X war. Er muß sich sowohl die von den Angehörigen seiner Dienststelle hinsichtlich seines angeblichen Wohnsitzes in Berlin (R. …) gemachten falschen Angaben zurechnen lassen, die kausal waren für die Bewilligung der befristeten erweiterten Versorgung, als auch sein eigenes zumindest grob fahrlässiges Verhalten. Denn sollte er die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides nicht gekannt haben, so hat er die Kenntnis hiervon jedenfalls aufgrund einer besonders schwerwiegenden Verletzung der erforderlichen, ihm zumutbaren Sorgfalt nicht erlangt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, auf die sich das Revisionsgericht zur Beurteilung der richtigen Anwendung des og Rechtsbegriffs stützen kann (vgl hierzu BSG SozR 3-1300 § 50 Nr 16 S 41), hat der Kläger – wie er bei seiner Anhörung vor dem LSG am 29. September 1995 angegeben hat – den an die Ostberliner Adresse gesandten Bescheid sich erläutern lassen. Gerade im Hinblick hierauf und auch auf seine langjährige Zugehörigkeit zur Versorgungsordnung hätte ihm bei Erhalt des (zunächst an die Berliner Adresse gesandten) Bescheides zumindest deutlich vor Augen stehen müssen, daß er mangels Wohnsitzes in der DDR nicht anspruchsberechtigt war, die Leistungen aufgrund dieses Bescheides also ohne Rechtsgrund erhalten werde. Ein weiteres Indiz für seine Bösgläubigkeit ist im übrigen auch die kurze Zeit später erfolgte Mitteilung an die Beklagte über die Verlegung seines Wohnsitzes nach B. … im Januar 1991. Unerheblich ist, wann der Bescheid dem Kläger iS von § 37 SGB X bekanntgegeben wurde, ob er also durch Aushändigung an seinen ehemaligen Führungsoffizier oder an ihn selbst in B. … ordnungsgemäß zugestellt worden ist. Denn die Voraussetzungen für sein individuelles Verschulden beurteilen sich nach seiner persönlichen Urteils- und Einsichtsfähigkeit (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 11 S 25), also danach, wie er selbst die Rechtmäßig- bzw Rechtswidrigkeit des Bescheides beurteilen mußte. Dies erfordert seine persönliche Kenntnis von dem Inhalt des Bescheides unabhängig davon, ob zuvor bereits eine ordnungsgemäße Zustellung an einen Dritten erfolgt war und ob er sich dessen Bösgläubigkeit ggf zurechnen lassen muß (für den Normalfall der Bekanntgabe bei Zustellung an den Betroffenen: BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 24 S 82).
Somit liegen die tatbestandsmäßígen Voraussetzungen des § 45 Abs 1 SGB X für die Rücknahme des Bescheides vom 30. November 1990 vor. Die Beklagte hat es jedoch – fehlerhaft – unterlassen, ihr Ermessen auszuüben (Ermessensnichtgebrauch).
Eine derartige Ermessensentscheidung setzt gemäß § 39 Abs 1 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) voraus, daß der Verwaltungsträger sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten hat. Der gemäß § 39 Abs 1 SGB I von der Ermessensentscheidung Betroffene hat – korrespondierend – einen Anspruch auf die pflichtgemäße Ausübung fehlerfreien Ermessens (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB I). In diesem – eingeschränkten – Umfang unterliegt die Ermessensentscheidung der richterlichen Kontrolle (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Rechtswidrig können Verwaltungsakte demnach sein bei Ermessensnichtgebrauch, Ermessensüberschreitung und bei Ermessensfehlgebrauch (näher zum Ermessensgebrauch und zu dessen Überprüfung, Senatsurteil vom 14. Dezember 1994 – 4 RA 42/94 = SozR 3-1200 § 39 Nr 1).
Die Frage, ob überhaupt eine Ermessensentscheidung ergangen ist, und ob diese ggf rechtmäßig war, beurteilt sich nach dem Inhalt des Rücknahmebescheides, insbesondere nach seiner Begründung (vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 32 S 105; Nr 39 S 124; SozR 3-1300 § 45 Nr 5 S 20; Nr 10 S 35). Diese muß die Ermessensentscheidung erkennen lassen; sie muß darüber hinaus grundsätzlich auch diejenigen Gesichtspunkte aufzeigen, von denen der Verwaltungsträger bei Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (vgl BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 5 S 20).
Daß die Beklagte eine derartige Ermessensentscheidung getroffen hat, kann weder dem Bescheid vom 17. Mai 1994 noch dem Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 1994 entnommen werden. Die Beklagte hat erkennbar von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht. In diesen Bescheiden hat sie allein die tatbestandsmäßigen Rücknahmevoraussetzungen des § 45 SGB X geprüft und bejaht und im Hinblick hierauf eine Rücknahmeentscheidung getroffen. Es fehlt mithin an einer durch den Zweck der Ermächtigung vorgeschriebenen Abwägung und angemessenen Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles, also an einer Ermessensentscheidung überhaupt. Die Beklagte ist irrigerweise – aus welchen Gründen auch immer – davon ausgegangen, daß sie verpflichtet ist, den Verwaltungsakt aus Rechtsgründen zurückzunehmen. Sie hat mithin bis zum Abschluß des Vorverfahrens keine nach außen, für den Kläger erkennbare Ermessensbetätigung und dementsprechend auch keine entsprechende Begründung abgegeben, so daß der Rücknahmebescheid rechtswidrig ist.
Eine andere rechtliche Beurteilung läßt sich auch der Entscheidung des erkennenden Senats vom 25. Januar 1994 (4 RA 16/92 = SozR 3-1300 § 50 Nr 16) nicht entnehmen. Auch danach ist Voraussetzung für die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X eine Ermessensentscheidung, die – allerdings – nicht schriftlich begründet zu werden brauchte. Der Senat hatte sich insoweit auf § 35 Abs 2 Nr 2 SGB X berufen. Danach bedarf die Ermessensentscheidung keiner Begründung, wenn dem Adressaten des Verwaltungsaktes die Auffassung der Behörde über die Sach- und Rechtslage bereits bekannt oder auch ohne schriftliche Begründung ohne weiteres erkennbar ist. Hiervon war in dem entschiedenen Fall auszugehen. Denn der Kläger, der infolge Bösgläubigkeit iS von § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X die Darlegungslast für ermessensrelevante Tatsachen hatte, war der Aufforderung der Verwaltung, derartige Umstände darzulegen, nicht nachgekommen; ihm war mithin bekannt, daß für die Beklagte ermessensrelevante Gesichtspunkte ohne seine Darlegungen nicht erkennbar waren; eine Verpflichtung der Behörde – dennoch – theoretisch denkbare Umstände „ins Blaue hinein” zu ermitteln, bestand nicht. Die folgenden Ausführungen zur Ermessensreduktion auf Null setzten somit eine Ermessensentscheidung der Behörde voraus, hier allerdings eine solche, die wegen fehlender ermessensrelevanter Anhaltspunkte zur Ermessensreduktion auf Null führte.
Die fehlende Ermessensentscheidung der Beklagten hat die – endgültige – Rechtswidrigkeit des Rücknahmebescheides für die Vergangenheit zur Folge; sie kann von der Beklagten nicht mehr nachgeholt werden, da die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X abgelaufen ist. Die Beklagte hatte die gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X notwendige Rechts- und Tatsachenkenntnis hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 30. November 1990 und auch die Kenntnis von der weiteren Rücknahmevoraussetzung des § 45 SGB X, nämlich von der Bösgläubigkeit des Klägers (vgl hierzu BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 24 S 81), spätestens nach Anhörung des Klägers vor dem LSG im Termin vom 29. September 1995 erlangt; nicht erforderlich war insoweit, ihr Wissen über ihre Verpflichtung zur Ermessensausübung (vgl BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 5 S 22; Nr 10 S 36).
Der Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides war nach alledem im Hinblick auf die fehlende Ermessensentscheidung der Beklagten insgesamt rechtswidrig und somit – ebenso wie die Urteile der Vorinstanzen – aufzuheben. Die Revision des Klägers hat mithin Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen