Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. November 1960 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger war im Dezember 1959 bei der beklagten Allgemeiner. Ortskrankenkasse (AOK) als Arbeitnehmer für den Fall der Krankheit pflichtversichert. Vom 21. Dezember 1959 an war er 26 Wochen lang arbeitsunfähig erkrankt. Das Krankengeld belief sich für die ersten 6 Wochen der Arbeitsunfähigkeit auf 428,88 DM und für die weiteren 20 Wochen der Arbeitsunfähigkeit auf 1.319,64 DM. Von seiner Forderung auf Krankengeld in Höhe von insgesamt 1.748,52 DM zahlte die Beklagte etwas weniger als die Hälfte, nämlich 843,72 DM, an den Kläger nicht aus. Sie begründete dies damit, daß sie insoweit gegen den Krankengeldanspruch mit einer in dieser Höhe unbestritten bestehenden Forderung aufrechne, die ihr gegen den früher als Arbeitgeber tätigen Kläger auf Abführung von Krankenkassenbeiträgen für seine Arbeitnehmer zustehe.

Der Kläger legte gegen diese Aufrechnung Widerspruch ein. Die beklagte AOK hat den Widerspruch mit der Begründung zurückgewiesen, sie sei zur Aufrechnung der Beitrags schuld des Klägers gegen dessen Krankengeldforderung nach § 223 Abs. 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) berechtigt gewesen (Bescheid vom 18. Februar 1960). Der Kläger ist der Auffassung, die AOK hätte bei der Aufrechnung zumindest die Lohnpfändungsfreigrenze (§ 850 c der Zivilprozeßordnung – ZPO–) berücksichtigen müssen. Er hat daher beim Sozialgericht (SG)

Klage erhoben mit dem Antrage,

unter Abänderung der angefochtenen Bescheide die Beklagte zu verurteilen, ihm das Krankengeld unter Berücksichtigung der Pfändungsfreigrenze auszuzahlen.

Das SG hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 3. Mai 1960).

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der beklagten AOK das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 9. November 1960). Zur Begründung hat es ausgeführt:

Die Beklagte könne nach § 223 Abs. 2 RVO gegen die Forderung des Klägers auf Krankengeld mit Beitragsrückständen aufrechnen, die der Kläger als früherer Arbeitgeber von versicherungspflichtigen Personen, also aus einem anderen Versicherungsverhältnis, schulde. Weder schließe der Wortlaut dieser Vorschrift eine solche Aufrechnung aus, noch verlange die Rechtsnatur der Aufrechnung, daß Forderung und Gegenforderung aus demselben Rechtsverhältnis stammten, Die Voraussetzungen der Aufrechnung, nämlich Personengleichheit, Gleichartigkeit und Fälligkeit der Forderungen, seien im vorliegenden Falle erfüllt. Die Pfändungsfreigrenze (§ 850 c ZPO) brauche die beklagte AOK nicht zu beachten. Vielmehr sei nach § 223 Abs. 3 RVO nur zu berücksichtigen, daß Ansprüche auf Krankengeld nur bis zur Hälfte des Krankengeldes aufgerechnet werden dürfen. Selbst wenn man aber § 394 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auf die hier gegenübergestellten öffentlich-rechtlichen Forderungen für anwendbar hielte, würde die Aufrechnung nicht durch die Pfändungsfreigrenzen des § 850 c ZPO begrenzt. Diese Vorschrift könne nämlich nicht angewandt werden, weil nach § 850 i Abs. 4 ZPO die Bestimmungen der Sozialversicherungsgesetze über die Pfändung von Ansprüchen bestimmter Art unberührt bleiben. Durch diese Vorschrift sei klargestellt, daß die Sondervorschrift des § 119 RVO über die Unpfändbarkeit bestimmter Ansprüche nicht etwa durch die §§ 850 ff ZPO als spätere gesetzliche Normen außer Kraft gesetzt worden seien. Nach § 119 Abs. 1 Nr. 4 RVO könnten aber Ansprüche des Berechtigten mit rechtlicher Wirkung nur wegen rückständiger Beiträge gepfändet werden, die nicht seit länger als 3 Monaten fällig seien. Da die Beitragsschuld des Klägers aber viel älter und somit nach § 119 RVO die Pfändung überhaupt unzulässig sei, könne zwangsläufig die Vorschrift über die Pfändungsfreigrenze nicht angewandt worden.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt mit dem Antrage,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die ab 21. Dezember 1959 bestehende Arbeitsunfähigkeit das Krankengeld unter Berücksichtigung der Pfändungsfreigrenzen auszuzahlen.

Zur Begründung seiner Revision hat der Kläger vorgetragen:

Die Anwendbarkeit der §§ 850 ff ZPO werde durch die Vorschrift des § 223 RVO nicht berührt. Aus § 223 Abs. 3 RVO könne nur gefolgert werden, daß Ansprüche auf Krankengeld, die mehr als zur Hälfte der Pfändung nach den Vorschriften der §§ 850 ff unterlägen, nur bis zur Hälfte gepfändet werden könnten. Diese Auslegung des § 223 RVO ergebe sich schon aus der Aufnahme der Bestimmung in ein Gesetz, dem im wesentlichen sozialpolitische Gesichtspunkte zugrunde lägen. Auf die Entscheidungen des früheren Reichsversicherungsamtes (RVA) könne nicht mehr zurückgegriffen werden, da die Entwicklung zum sozialen Rechtsstaat inzwischen erhebliche Fortschritte gemacht habe. Es sei unvertretbar, daß Krankengeldbezüge, die ja nur an Staatsbürger in bedrängter Lage geleistet würden, schärferen Pfändungsvorschriften unterworfen sein könnten als anderes Arbeitseinkommen.

Die Beklagte hat die Zurückweisung der Revision beantragt. Sie ist der Auffassung, daß eine Auslegung des § 223 RVO im Sinne des Klägers den vom Gesetz gewollten Sinn und Zweck dieser Bestimmung, nämlich dem besonderen Schutz der öffentlich-rechtlichen Forderung, widersprechen würde.

Die Revision ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die von der beklagten AOK durchgeführte Aufrechnung gegen den Krankengeldanspruch des Klägers für rechtmäßig angesehen.

Die Aufrechnung mit Forderungen der Sozialversicherungsträger gegen Ansprüche der Berechtigten ist im Sozialversicherungsrecht nur in beschranktem Maße zulässig. Die Voraussetzungen für die Aufrechnung durch die Träger der Krankenversicherung (KrV) sind in § 223 Abs. 2 und 3 RVO bestimmt (vgl. für die Rentenversicherungen § 1299 RVO und § 78 AVG). Hiernach dürfen Ansprüche des Berechtigten u. a. auf „geschuldete Beiträge” aufgerechnet werden. In der RVO ist der Begriff „Aufrechnung” nicht definiert. Aus dem Fehlen solcher näheren Bestimmungen ist zu schließen, daß die Sozialversicherungsgesetze, wenn sie die Aufrechnung behandeln, von einem anderweit bestimmten Begriff der Aufrechnung ausgegangen sind, wie er vor allem im bürgerlichen Recht seine Ausprägung gefunden hat (vgl. BSG 15, 36, 37). Demnach setzt die Aufrechnung auch im Sozialversicherungsrecht Gleichartigkeit der Forderungen, Fälligkeit der Forderung und Gegenforderung und Personengleichheit voraus (vgl. § 387 BGB).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Forderung der AOK auf rückständige Beiträge (§ 393 RVO) steht die Forderung des Klägers auf Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Abs. 3 RVO) gegenüber. Beide Forderungen sind auf Geld gerichtet und fällig.

Die Personengleichheit ist ebenfalls gegeben. Die beklagte AOK ist zugleich Schuldnerin der Gegenforderung und Gläubigerin der anderen Forderung; ebenso ist der Kläger Gläubiger der Gegenforderung und Schuldner der anderen Forderung.

Hingegen setzt die Aufrechnung nach § 223 Abs. 2 und 3 RVO ebensowenig wie im bürgerlichen Recht einen einheitlichen Schuldgrund für Forderung und Gegenforderung voraus, wie er etwa für die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts (vgl. § 273 Abs. 1 BGB) gegeben sein muß. Das folgt aus der Übernahme des bürgerlich-rechtlichen Aufrechnungsbegriffs in das Sozialversicherungsrecht. Auch die Fassung der Vorschrift (§ 223 Abs. 2 RVO), die ohne jede Einschränkung „geschuldete Beiträge” den Ansprüchen des Berechtigten als aufrechnungsfähig gegenüberstellt, unterstützt die Auffassung, daß die geschuldeten Beiträge nicht demselben Versicherungsverhältnis wie der Gegenanspruch des Berechtigten zu entspringen brauchen. Eine dahin zielende Einschränkung – wäre sie vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen – im Text der Vorschrift zum Ausdruck zu bringen, hätte umso näher gelegen, als gerade in der KrV der Fall relativ häufig eintreten kann, daß die rückständigen Beiträge aus einer ganz anderen Rechtsbeziehung – nämlich als früherer Arbeitgeber (vgl. § 393 RVO) – geschuldet werden als derjenigen, aus der der Leistungsanspruch des Versicherten entspringt. Demnach ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des RVA (GE Nr. 3650, AN 1930, 72; GE Nr. 4738, AN 1934, 54) daran festzuhalten, daß die Krankenkasse gegenüber dem Anspruch eines Versicherten auf Krankengeld nach § 223 Abs. 2 und 3 RVO auch mit Beitragsrückständen aufrechnen darf, die dieser als früherer Arbeitgeber schuldet.

Hierbei ist die Krankenkasse – entgegen der Annahme des Klägers – bei der Aufrechnung nicht an die Pfändungsschutzvorschriften der §§ 850 ff ZPO gebunden. Zwar schreibt § 394 Satz 1 BGB vor, daß die Aufrechnung gegen der Pfändung nicht unterworfene Forderungen unzulässig ist. Ware diese Vorschrift im vorliegenden Falle anzuwenden, so wäre die Aufrechnung sogar im vollen Umfange unstatthaft. Der Anspruch des Versicherten auf Krankengeld ist nämlich wegen rückständiger Beiträge nur pfändbar, wenn diese nicht seit länger als drei Monaten fällig sind (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 4 RVO i.V.m. § 850 i Abs. 4 ZPO, wonach die Regelung des Sozialversicherungsrechts über die Pfändbarkeit von Ansprüchen der der ZPO vorgeht), Der Kläger schuldete die Beitragsrückstände im Zeitpunkt der Aufrechnung jedoch bereits seit mehreren Jahren.

Die Koppelung von Unpfändbarkeit der Forderung und Aufrechnungsverbot ist aber gerade für den hier vorliegenden Fall, daß geschuldete Beiträge gegen die „aus Krankenkassen … zu beziehenden Hebungen” aufgerechnet werden, in der gleichen Vorschrift ausdrücklich aufgehoben (§ 394 Satz 2 BGB). Demnach kann auch gegen unpfändbare Forderungen eines Versicherten auf Versicherungsleistungen mit „geschuldeten Beiträgen” aufgerechnet werden. Dem entspricht die Regelung des § 223 Abs. 2 und 3 RVO, die in jedem Falle als Spezialregelung des Aufrechnungsrechts – insbesondere, was die in § 394 Satz 2 BGB nicht genannten Gegenforderungen betrifft, die nicht „geschuldete Beiträge” sind – gegenüber § 394 Satz 1 BGB Vorrang hat (vgl. BGB, Reichsgerichtsräte-Komm., 11. Aufl., Bd. I, 2. Teil, § 394, Anm. 6 und 12). Demnach findet die Aufrechnung in einem Falle wie den vorliegenden ihre alleinige Schranke in § 223 Abs. 3 RVO, wonach Ansprüche auf Krankengeld nur bis zur Hälfte aufgerechnet werden dürfen (so auch schon das RVA, GE Nr. 4378, AN 1934, 54, 55).

Diese Grenze hat die beklagte AOK bei ihrer Aufrechnung beachtet. Demnach war die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Unterschriften

Dr. Bogs, Geyser, Dr. Langkeit

 

Fundstellen

Haufe-Index 674125

BSGE, 131

NJW 1966, 424

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