Leitsatz (amtlich)
Zur beruflichen Verweisbarkeit von Facharbeitern (hier: Maurer).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2. März 1972 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger die Versicherungsrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren ist. Dabei geht es darum, auf welche Tätigkeiten der Kläger als gelernter Maurer zumutbar verwiesen werden kann (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der 1923 geborene Kläger war bis zum Jahre 1950 in der Landwirtschaft tätig. Von April 1950 bis Februar 1953 wurde er zum Maurer umgeschult. Nach Ablegung der Gesellenprüfung war er sodann bis September 1968 als Maurer versicherungspflichtig beschäftigt. Im August 1967 hatte der Kläger einen Verkehrsunfall erlitten. Nach Durchführung einer stationären neurologischen Beobachtung und eines Heilverfahrens stellte er im Oktober 1969 Rentenantrag. Diesen lehnte die Beklagte ab, weil der Kläger weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig sei (Bescheid vom 7. April 1970).
Auf die Klage verpflichtete das Sozialgericht (SG) die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit; im übrigen wies es die Klage ab (Urteil vom 27. April 1971). Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung im wesentlichen aus folgenden Gründen: Nach dem Ergebnis der vorliegenden ärztlichen Gutachten könne der Kläger vollschichtig nur noch leichte, kurzfristig auch mittelschwere körperliche Arbeiten verrichten. Dabei seien jedoch Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten oder an sich rasch drehenden bzw. sich bewegenden Maschinen ebenso ausgeschlossen wie häufiges Bücken und Heben bzw. sich Drehen. Mit diesem Leistungsvermögen sei der Kläger als Maurer nicht mehr einsetzbar. Auf die dem Maurerberuf verwandten Tätigkeiten eines Lager-, Material- oder Werkzeugverwalters, Platzmeisters, Bauschreibers, Bei- oder Nachputzers und eines Kolonnenführers im Biegeschuppen könne der Kläger nicht verwiesen werden, weil nach dem Ergebnis einer vom erkennenden Senat bei 30 Baufirmen im Rhein-Ruhr-Gebiet durchgeführten Befragung für solche Berufe entweder kein offener Arbeitsmarkt vorhanden sei oder das Leistungsvermögen des Klägers ebenfalls überfordert werde. Letzteres gelte auch für Hausmeistertätigkeiten. Außerdem lasse die Facharbeitereigenschaft nicht schlechthin eine Verweisung auf den Beruf eines Hausmeisters zu, zumal dieser besondere Charaktereigenschaften - wie Vertrauenswürdigkeit, Verantwortungsbewußtsein, Ordnungssinn - voraussetze, welche nicht bei allen Facharbeitern unterstellt werden könnten. Die allgemeine Verweisung eines Facharbeiters auf völlig berufsfremde ungelernte Tätigkeiten, die bestimmte charakterliche Eigenschaften voraussetzten und nach kurzer Einweisung verrichtet werden könnten, sei entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf die Entscheidungen in BSG 29, 96, 99, vom 16.3.1971 - 4 RJ 405/70 - und vom 12.11.1970 - 5 RKn 61/67) nicht zulässig (Urteil vom 2. März 1972).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt wesentliche Verfahrensmängel, die sie insbesondere auf mangelnde Sachaufklärung, fehlerhafte Beweisaufnahme und Beweiswürdigung sowie unzureichende Gewährung des rechtlichen Gehörs durch das Berufungsgericht stützt. Des weiteren rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1246 Abs. 2 RVO, weil der Kreis der für den Kläger in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten erheblich weiter sei, als das LSG ihn gezogen habe. Die vom LSG in enger Anlehnung an das sogenannte Dreistufenschema (gelernte, angelernte, ungelernte Arbeiter) vorgenommene Betrachtungsweise werde den tatsächlichen Verhältnissen in der heutigen Arbeitswelt nicht mehr gerecht.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben bzw. zu ändern und die Klage abzuweisen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG ist der Kläger in seinem Beruf als gelernter Maurer für typische Maurerarbeiten nicht mehr einsetzbar. Die deswegen nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO gebotene Prüfung, auf welche andere Tätigkeiten der Kläger zumutbar verwiesen werden kann, hat das LSG zu Unrecht lediglich auf Tätigkeiten beschränkt, die ihrer Art nach dem erlernten Beruf verwandt sind. Wie das BSG gerade für den auch hier vorliegenden Fall eines gelernten Maurers bereits entschieden hat (vgl. die Urteile vom 11. Juli 1972 - 5 RJ 105/72 - und vom 11. August 1972 - 4 RJ 95/72 -), findet eine derartige Einschränkung im Gesetz keine Stütze. Schon infolge dieser von der Revision zutreffend gerügten Verletzung des materiellen Rechts kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben, ohne daß es insoweit noch darauf ankommt, ob die von der Revision außerdem gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG vorliegen.
Der erkennende Senat hat bereits im Urteil vom 29. März 1963 (BSG 19, 57 = SozR Nr. 24 zu § 1246 RVO) entschieden, daß für einen gelernten Arbeiter nicht nur die Ausübung eines anerkannten Anlernberufs (mit einer vorgeschriebenen ein- bis zweijährigen Anlernzeit) im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO zumutbar ist, sondern auch die Verrichtung solcher ungelernter Tätigkeiten, die sich aus dem Kreis sonstiger ungelernter Tätigkeiten deutlich hervorheben. In den Urteilen vom 17. Dezember 1965 (BSG 24, 181, 182) und vom 11. Juli 1972 aaO wird diese Rechtsauffassung ausdrücklich bestätigt. Das Urteil vom 11. August 1972 aaO kommt - wenn auch mit zum Teil abweichender Begründung - zu dem gleichen Ergebnis. Zwar wird es je nach dem bisherigen Beruf des Versicherten u.U. angebracht sein, zunächst die Verweisungsmöglichkeiten für solche Berufe zu prüfen, die im Sinne der "Klassifizierung der Berufe" (Ausgabe 1970) mit dem bisherigen Beruf verwandt sind und für deren Ausübung die beruflichen Kenntnisse und die verbliebene gesundheitliche Leistungsfähigkeit ausreichen. Da aber die Verweisung eines Facharbeiters auf einen anerkannten Anlernberuf im herkömmlichen Sinne in aller Regel schon an dem fehlenden (erfolgreichen) Abschluß der vorgeschriebenen Anlernzeit scheitert, wird das LSG bei der neuen Prüfung sein Augenmerk besonders auf Tätigkeiten zu richten haben, die lediglich eine kürzere betriebliche Einweisung und Einarbeitung erfordern, andererseits sich aber aus dem allgemeinen Kreis der ungelernten Tätigkeiten - etwa im Hinblick auf ihre Bedeutung und ihr Ansehen innerhalb des Betriebes, aber auch unter Berücksichtigung ihrer tariflichen Einstufung - besonders hervorheben.
Der Senat ist im Urteil vom 29. März 1963 aaO allerdings davon ausgegangen, daß derartige, auch für einen Facharbeiter zumutbare Verweisungstätigkeiten nur ausnahmsweise in Betracht kommen. Diese Annahme ist indes in Anbetracht der auf allen Arbeitsgebieten fortschreitenden Industrialisierung und Technisierung nicht mehr gerechtfertigt. Bereits in der Entscheidung vom 7. Juli 1970 (Az.: 12 RJ 576/66) hat der erkennende Senat in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die gesamte wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklung immer mehr zur "Mobilität" aller Arbeitenden führt. Das hat zur Folge, daß bei der Berufsausübung die Grenzen zwischen den bisher üblicherweise dreifach abgestuften Gruppen der gelernten, angelernten und ungelernten Arbeiter fließend sind (ebenso Urteil vom 11.8.1972 aaO mit Literaturnachweisen; im Berufsbildungsgesetz vom 14.8.1969, BGBl I 1112, und in der Bekanntmachung des Verzeichnisses der anerkannten Ausbildungsberufe vom 9.8.1972 - Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 153 vom 17.8.1972 - ist nicht von "Lehr-" und "Anlern-" berufen, sondern nur noch von "Ausbildungsberufen" mit verschieden langer Ausbildungszeit die Rede). Die zunehmende Mechanisierung und Automation des Arbeitsprozesses läßt es zu, bei der Besetzung von Arbeitsplätzen nicht so sehr die - vormals entscheidenden - handwerklich-manuellen Fertigkeiten des herkömmlich ausgebildeten Facharbeiters, sondern technisches Verständnis, Konzentrationsvermögen, Reaktions- und Übersichtsfähigkeit, Ausdauer, aber auch Verantwortungsbewußtsein und Zuverlässigkeit des Bewerbers in den Vordergrund zu stellen. Zu denken ist hierbei vor allem an das weite Feld der Revisions- und Überwachungsarbeiten, der Anlagenkontrollen, der Meßwart- und Schalttafeltätigkeiten, der mechanisierten Produktionsarbeiten mittels Bedienung von Apparaten und dergleichen. Für diese Tätigkeiten ist eine besondere Ausbildung im Sinne einer vorgeschriebenen Ausbildungszeit meist nicht erforderlich; es genügt vielmehr eine in der Regel am Arbeitsplatz vorzunehmende Einweisung in den Betriebsablauf. Trotzdem können die Arbeiter, welche diese Tätigkeiten ausführen, im Betrieb - auch insoweit ist der Ansicht im Urteil vom 11. August 1972 aaO zuzustimmen - eine ebenso angesehene, wenn nicht gar wichtigere Stellung einnehmen als Facharbeiter mit der hergebrachten Ausbildung. Ein vergleichsweise hohes Ansehen derartiger Einweisungstätigkeiten in den Augen der Umwelt wird in aller Regel von einer entsprechend hohen tariflichen Einstufung oder tatsächlichen Entlohnung im Einzelfall, womöglich aber zusätzlich oder auch ausschließlich von anderen Faktoren - wie Sicherheit und Sauberkeit des Arbeitsplatzes, Fehlen körperlicher Belastungen sowie störender Umwelteinflüsse und dergleichen - abhängen. Dabei kann nicht allgemein gesagt werden, ob einem Bewertungsmerkmal oder mehreren zusammen und gegebenenfalls welchen Kriterien bei der Prüfung der Verweisungsberufe letztlich die entscheidende Bedeutung zukommt (vgl. die BSG-Urteile vom 17.2.1970 - Az.: 4 RJ 305/67 - und vom 12.11.1970 = SozR Nr. 90 zu § 1246 RVO). Im übrigen wird es für die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit im aufgezeigten Sinne auch wesentlich darauf ankommen, ob und inwieweit die Beklagte im Rahmen der ihr obliegenden Regelleistungen im Sinne des § 1235 Nr. 1 RVO dem Kläger Hilfe zur Erhaltung oder zur Erlangung einer für ihn noch geeigneten Arbeitsstelle geben kann (vgl. § 1237 Abs. 3 Satz 1 Buchst. c und Satz 2 RVO).
Das LSG wird somit unter Einbeziehung aller, auch berufsfremder Industrie- und Wirtschaftszweige zu prüfen haben, auf welche Tätigkeiten der Kläger unter Berücksichtigung seines körperlichen und geistigen Leistungsvermögens im Sinne von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO verweisbar ist. Dabei dürfte zur Frage, welche Anforderungen insbesondere die Einweisungstätigkeiten der aufgezeigten Art im einzelnen stellen, die Anhörung berufskundlicher Sachverständiger und sodann zur weiteren Frage, ob der Gesundheitszustand des Klägers diesen Anforderungen nicht nur körperlich, sondern auch geistig genügt, die Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens angezeigt sein.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen