Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisbarkeit von Facharbeitern
Orientierungssatz
Bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten für einen gelernten Maurer darf sich das Gericht nicht lediglich auf Tätigkeiten beschränken, die ihrer Art nach dem erlernten Beruf verwandt sind; vielmehr sind alle Ausbildungsberufe und im gewissen Maße Anlernberufe bei der Prüfung mit einzubeziehen (vgl BSG 1972-11-30 12 RJ 118/72 = SozR Nr 107 zu § 1246 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 20.07.1972) |
SG Detmold (Entscheidung vom 06.10.1971) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Juli 1972 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten besteht Streit, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zusteht. Dabei geht es darum, auf welche Tätigkeiten der Kläger zumutbar verweisbar ist (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der 1919 geborene Kläger war nach dreijähriger Lehrzeit ohne Abschlußprüfung von April 1938 bis 1969 mit Unterbrechungen als Maurer versicherungspflichtig beschäftigt. Nach einer vom Landessozialgericht (LSG) eingeholten Auskunft der Firma Karl L... GmbH vom 5. April 1972 ist der Kläger dort "seit seiner letzten Krankheit" als Maschinist (Bedienen einer Betonmaschine) eingesetzt. Seinen im Januar 1970 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 17. Juli 1970).
Die hiergegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Detmold vom 6. Oktober 1971). Auf die Berufung des Klägers verpflichtete das LSG die Beklagte zur Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente vom 1. Juli 1970 an (Urteil vom 20. Juli 1972). Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß der Kläger nach dem von der Beklagten nicht angegriffenen Gutachten des Dr. P... nur noch leichte körperliche Arbeiten ohne starke Konzentration für sechs bis acht Stunden täglich verrichten könne, wodurch alle Tätigkeiten, die über leichte Arbeiten hinaus gehen, wie etwa häufiges Bücken und schweres Heben und Tragen ausgeschlossen seien. Mit diesen Einschränkungen sei der Kläger im bisherigen Beruf als Maurer oder in ähnlichen Berufen nicht mehr einsetzbar. Auf seine jetzige Tätigkeit sei der Kläger nicht verweisbar, "nachdem sich herausgestellt" habe, daß es sich hierbei um eine Hilfsarbeitertätigkeit handele, die nicht zumutbar sei. Auch die allgemeine Verweisung eines Facharbeiters auf völlig berufsfremde ungelernte Tätigkeiten, die bestimmte charakterliche Eigenschaften voraussetzten und nach kurzer Einweisung verrichtet werden könnten, sei entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht zulässig.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt wesentliche Verfahrensmängel und eine Verletzung des § 1246 Abs. 2 RVO.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern und die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen ist der Kläger in seinem Beruf als gelernter Maurer für typische Maurerarbeiten nicht mehr einsetzbar. Die deswegen nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO gebotene Prüfung, auf welche andere Tätigkeiten der Kläger zumutbar verwiesen werden kann, hat das LSG zu Unrecht lediglich auf Tätigkeiten beschränkt, die ihrer Art nach dem erlernten Beruf verwandt sind. Wie der erkennende Senat mit Urteil vom heutigen Tage in der Sache 12 RJ 118/72 für den auch hier vorliegenden Fall eines gelernten Maurers entschieden hat, findet eine derartige Einschränkung im Gesetz keine Stütze. Vielmehr ist der Kläger unter Einbeziehung aller, auch berufsfremder Industriezweige und Wirtschaftsbereiche zunächst auf andere Ausbildungsberufe verweisbar (vgl. hierzu Berufsbildungsgesetz vom 14.8.1969, BGBl I, 1112 und Bekanntmachung des Verzeichnisses der anerkannten Ausbildungsberufe vom 9.8.1972 - Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 153 vom 17.8.1972), wenn er die hierfür vorgeschriebene Ausbildungszeit mit Erfolg durchlaufen hat oder diese Berufe mit seinen vorhandenen beruflichen Kenntnissen ausüben kann. Daneben kann der Kläger aber auch auf Tätigkeiten verwiesen werden, die nur eine kürzere betriebliche Einweisung und Einarbeitung erfordern, sich aber aus dem allgemeinen Kreis der ungelernten Tätigkeiten - etwa im Hinblick auf ihre Bedeutung innerhalb des Betriebes und ihr Ansehen, aber auch unter Berücksichtigung ihrer tariflichen Einstufung - besonders hervorheben.
Da somit das LSG den Kreis der für den Kläger nach seinem Leistungsvermögen noch in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten zu eng gezogen hat, kann das angefochtene Urteil schon infolge dieser von der Revision zutreffend gerügten Verletzung des materiellen Rechts keinen Bestand haben, ohne daß es insoweit noch darauf ankommt, ob die von der Revision außerdem gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG vorliegen.
Bei seiner neuen Prüfung wird das LSG die im genannten Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage (Az.: 12 RJ 118/72) für die Verweisbarkeit eines gelernten Maurers im einzelnen aufgezeigten Kriterien zu beachten und dementsprechend die Beiziehung berufskundlicher und arbeitsmedizinischer Sachverständiger zu erwägen haben. Dabei wird vorab zu prüfen sein, ob der Kläger auf die nach der Rentenantragstellung noch ausgeübte Tätigkeit als Maschinist verwiesen werden kann. Das LSG hat anscheinend allein aus der Mitteilung des Arbeitgebers, für die Tätigkeit sei nur eine kurze "Anlernzeit" von ca. 14 Tagen erforderlich gewesen, den Schluß gezogen, daß es sich hierbei um eine untergeordnete Hilfsarbeitertätigkeit handele, auf welche der Kläger nicht zumutbar verweisbar sei. Die relativ kurze Einarbeitungszeit kann indes allein für die Frage der Verweisbarkeit im Sinne von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO nicht maßgeblich sein. Es bedarf insoweit vielmehr zusätzlich der Prüfung, welche Bedeutung und welches Ansehen die ausgeübte Maschinenarbeit im Betrieb hat und ob sich die Entlohnung hierfür wesentlich von dem bisherigen Verdienst des Klägers im Maurerberuf oder wenigstens von der tariflichen Einstufung von Arbeitskräften in anerkannten Ausbildungsberufen unterscheidet.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen