Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisbarkeit von Facharbeitern
Orientierungssatz
Bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten für einen gelernten Maurer darf sich das Gericht nicht lediglich auf Tätigkeiten beschränken, die ihrer Art nach dem erlernten Beruf verwandt sind; vielmehr sind alle Ausbildungsberufe und im gewissen Maße Anlernberufe bei der Prüfung mit einzubeziehen (vgl BSG 1972-11-30 12 RJ 118/72 = SozR Nr 107 zu § 1246 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 13.01.1972) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 24.03.1970) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Januar 1972 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit hat. Dabei ist maßgeblich, auf welche Tätigkeiten sich der Kläger als gelernter Maurer verweisen lassen muß (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Nach den - nicht angegriffenen - Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) ist der 1927 geborene Kläger gelernter Maurer und hat in diesem Beruf auch die Wartezeit erfüllt. Er arbeitete vorwiegend als Putzer. Wegen einer Chromallergie gab er 1968 seinen Beruf auf. Die Bauberufsgenossenschaft W gewährte dem Kläger 30 v. H. der Vollrente mit der Auflage, den Beruf als Maurer und Putzer nicht wieder aufzunehmen und nur solchen Tätigkeiten nachzugehen, bei denen kein Kontakt zu den als hautschädigend erkannten Stoffen bestehe. Der Kläger unternahm sodann Arbeitsversuche als Akustikhelfer und Versandhelfer. Nachdem Hautekzeme an den Händen und Füßen aufgetreten waren, gab er seinen letzten Arbeitsplatz als Kraftfahrer im August 1970 auf. Den bereits im Dezember 1968 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 18. Juli 1969).
Die Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts - SG - Gelsenkirchen vom 24. März 1970). Der Berufung des Klägers gab das LSG statt (Urteil vom 13. Januar 1972). Es bejahte die Berufsunfähigkeit, weil der Kläger nach den Beurteilungen der gehörten ärztlichen Sachverständigen im Hinblick auf die nachgewiesene Allergie gegenüber Chromaten Maurer- sowie Putzerarbeiten nicht mehr ausüben könne und auch für berufsverwandte Tätigkeiten nicht mehr einsetzbar sei - unabhängig davon, ob solche Tätigkeiten mit Handschuhen verrichtet werden könnten oder nicht. Die allgemeine Verweisung eines Facharbeiters auf völlig berufsfremde ungelernte Tätigkeiten, die bestimmte charakterliche Eigenschaften voraussetzten und nach kurzer Einweisung verrichtet werden könnten, sei entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht zulässig.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt wesentliche Verfahrensmängel und eine Verletzung des § 1246 Abs. 2 RVO.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern und die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen ist der Kläger in seinem Beruf als gelernter Maurer für typische Maurerarbeiten nicht mehr einsetzbar. Die deswegen nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO gebotene Prüfung, auf welche andere Tätigkeiten der Kläger zumutbar verwiesen werden kann, hat das LSG zu Unrecht lediglich auf Tätigkeiten beschränkt, die ihrer Art nach dem erlernten Beruf verwandt sind. Wie der erkennende Senat mit Urteil vom heutigen Tage in der Sache 12 RJ 118/72 für den auch hier vorliegenden Fall eines gelernten Maurers entschieden hat, findet eine derartige Einschränkung im Gesetz keine Stütze. Vielmehr ist der Kläger unter Einbeziehung aller, auch berufsfremder Industriezweige und Wirtschaftsbereiche zunächst auf andere Ausbildungsberufe verweisbar (vgl. hierzu Berufsbildungsgesetz vom 14.8.1969, BGBl I 1112 und Bekanntmachung des Verzeichnisses der anerkannten Ausbildungsberufe vom 9.8.1972 - Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 153 vom 17.8.1972), wenn er die hierfür vorgeschriebene Ausbildungszeit mit Erfolg durchlaufen hat oder diese Berufe mit seinen vorhandenen beruflichen Kenntnissen ausüben kann. Daneben kann der Kläger aber auch auf Tätigkeiten verwiesen werden, die nur eine kürzere betriebliche Einweisung und Einarbeitung erfordern, sich aber aus dem allgemeinen Kreis der ungelernten Tätigkeiten - etwa im Hinblick auf ihre Bedeutung innerhalb des Betriebes und ihr Ansehen, aber auch unter Berücksichtigung ihrer tariflichen Einstufung - besonders hervorheben.
Da somit das LSG den Kreis der für den Kläger nach seinem Leistungsvermögen noch in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten zu eng gezogen hat, kann das angefochtene Urteil schon infolge dieser von der Revision zutreffend gerügten Verletzung des materiellen Rechts keinen Bestand haben, ohne daß es insoweit noch darauf ankommt, ob die von der Revision außerdem gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG vorliegen.
Bei seiner neuen Prüfung wird das LSG die im genannten Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage (Az.: 12 RJ 118/72) für die Verweisbarkeit eines gelernten Maurers im einzelnen aufgezeigten Kriterien zu beachten und dementsprechend die Beiziehung berufskundlicher und arbeitsmedizinischer Sachverständiger zu erwägen haben. Zusätzlich wird zu berücksichtigen sein, daß der Kläger nach dem Ergebnis der bisherigen ärztlichen Gutachten infolge der bei ihm bestehenden Chromallergie für zahlreiche sozial-adäquate Einweisungstätigkeiten ungeeignet ist. Das LSG wird daher - entgegen seiner bisherigen Auffassung - wohl auch der Frage nachgehen müssen, inwieweit der Kläger bei einer ihm an sich zumutbaren Verweisungstätigkeit unter Verwendung von Handschuhen den Kontakt mit schädigenden Stoffen vermeiden kann.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen