Leitsatz (amtlich)
Die Rechtsprechung des GrS des BSG 1976-12-10 GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 = BSGE 43, 75 gilt nicht für Versicherte, die noch vollschichtig arbeiten können (Anschluß an BSG 1977-05-27 5 RJ 28/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 19 und an BSG 1977-09-21 4 RJ 131/76).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 10.12.1976; Aktenzeichen L 10 J 499/76) |
SG Braunschweig (Entscheidung vom 11.05.1976; Aktenzeichen S 5 J 32/75) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Niedersächsischen Landessozialgerichts vom 10. Dezember 1976 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahr 1920 geborene Kläger ist gelernter Maschinenschlosser und arbeitete in diesem Beruf bis 1968. Von April 1969 bis September 1973 war er im Volkswagenwerk Wolfsburg als Prüfer beschäftigt; das Arbeitsverhältnis endete auf seinen Wunsch. Im Oktober und November 1973 arbeitete er bei der D GmbH in B als Mechaniker, wurde aber wegen Absatzschwierigkeiten entlassen. Seit Mai 1976 ist er 36 Stunden wöchentlich als Personalpförtner in einem Braunschweiger Betrieb tätig; der Stundenlohn betrug anfangs 8.29 DM, später 8.83 DM. Die Vermittlung in diese Stelle erfolgte unter der Zusage der Doppelanrechnung nach dem Schwerbehindertengesetz und einer Eingliederungsbeihilfe.
Der Kläger bezieht wegen Narben an der Beugeseite des linken Unterarms dicht oberhalb vom Handgelenk, Resten von einer Medianusschädigung nach Durchschuß und eines kleinen Granatsplitters im Basisbereich des 5. Mittelhandstrahles links bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v. H. Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kann er wegen verschiedener Gesundheitsstörungen nur noch leichte Arbeiten, ohne schweres Heben und Tragen, überwiegend im Sitzen, bei Vermeidung von Nässe, Kälte und Staub sowie des Umgangs mit ätzenden Dämpfen, ganztags verrichten.
Seinen Antrag auf Rente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. Januar 1975 ab. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts Braunschweig vom 11. Mai 1976 und des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. Dezember 1976). Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Kläger könne seine frühere Tätigkeit beim Volkswagenwerk, die ihm auch zumutbar sei, ohne gesundheitliches Risiko noch heute ausüben. Er könne aber auf einen solchen Arbeitsplatz wegen der "verschärften Wettbewerbssituation" auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelt werden. Das ändere zwar nichts daran, daß er noch nicht berufsunfähig sei, müsse aber zur Zulassung der Revision führen. Die Frage, ob ein Behinderter Zugang zum Arbeitsmarkt habe, wenn angesichts der Marktsituation davon auszugehen sei, daß künftig in fast allen Berufen, die Behinderte ausüben könnten, erhebliche Wiedereingliederungsschwierigkeiten auftreten würden, müsse höchstrichterlich entschieden werden.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung und trägt vor: Ein Versicherter sei auch dann berufsunfähig, wenn er wegen der bei ihm bestehenden Leistungsbeschränkungen nicht nur vorübergehend, sondern dauernd vermittlungsunfähig sei und ihm dadurch der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen bleibe. Das Risiko der Erlangung und Erhaltung des Arbeitsplatzes und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt könne nicht mehr immer und grundsätzlich der Rentenversicherung entzogen bleiben. Er beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Januar 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. April 1974 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.
Für ihre Ausführungen wird auf den Schriftsatz vom 12. Mai 1977 Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat zutreffend entschieden, daß die Beklagte dem Kläger, der weder berufsunfähig noch gar erwerbsunfähig ist, zu Recht die Rente versagt hat.
Der Kläger kann eine Tätigkeit wie die von April 1969 bis September 1973 ausgeübte als Prüfer beim Volkswagenwerk weiterhin ausüben; sie ist ihm sowohl gesundheitlich möglich als auch sozial zumutbar. Das hat das Berufungsgericht festgestellt, ohne daß in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.
Der Umstand, daß der Kläger zur Zeit wegen der verschärften Wettbewerbssituation auf dem Arbeitsmarkt eine entsprechende Tätigkeit nicht bekommt, weil das Volkswagenwerk oder entsprechend andere Arbeitgeber nicht bereit sind, ihn einzustellen, ist für die Frage der Berufsunfähigkeit ohne Bedeutung.
Ein Versicherter, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch weniger als "vollschichtig" arbeiten kann, ist nach dem Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1976 (BSGE 43, 75, 82, 83 = SozR 2200 § 1246 Nr. 13) im Ergebnis schon dann berufs- bzw. erwerbsunfähig, wenn ihm innerhalb eines Jahres kein für ihn in Betracht kommender Arbeitsplatz angeboten werden kann (Entscheidungssatz Nr. 3: praktisch verschlossener Arbeitsmarkt). Es kann dahinstehen, ob damit gesagt ist, Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit liege nicht erst dann vor, wenn geeignete Arbeitsplätze nicht vorhanden sind, sondern schon dann, wenn der Versicherte vorhandene und geeignete Arbeitsplätze wegen Vermittlungsschwierigkeiten nicht erhält; denn die Entscheidung des Großen Senats gilt wegen der besonders gestalteten Verhältnisse auf dem Teilzeitarbeitsmarkt nur für "Teilzeit-Arbeiter".
Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten, der noch ganztags arbeiten kann, hängt nicht davon ab, ob das Vorhandensein von Arbeitsplätzen für die in Betracht kommenden Erwerbstätigkeiten festgestellt ist. Es wird davon ausgegangen, daß es solche Arbeitsplätze gibt (BSG, Urteile vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 - SozR 2200 § 1246 Nr. 19 und vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76 -). Ausnahmen gelten lediglich für Versicherte, die nicht unter den üblichen Arbeitsbedingungen arbeiten oder Arbeitsplätze wegen gesundheitlicher Behinderung nicht von der Wohnung aus aufsuchen können, unter Umständen auch dann, wenn die Tätigkeiten, die der Versicherte noch verrichten kann, nicht von Tarifverträgen erfaßt sind (Urteil vom 27. Mai 1977). Umso weniger vermag, wenn Arbeitsplätze vorhanden sind, der Umstand, daß der Versicherte solche Plätze nicht erhält, seine Berufsunfähigkeit zu begründen. Denn nicht die Rentenversicherung, sondern die Arbeitslosenversicherung trägt das Risiko, daß ein noch genügend leistungsfähiger Versicherter einen für ihn geeigneten, tatsächlich vorhandenen Arbeitsplatz (z. B. wegen der besonderen Schwierigkeiten einer Arbeitsvermittlung) nicht bekommen kann.
Da nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine der erwähnten Ausnahmen beim Kläger nicht vorliegt, ist er nicht berufsunfähig. Seine Revision war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen