Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeit bei "eingebrachten Leiden"
Orientierungssatz
In der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es keinen Grundsatz, ein sogenanntes eingebrachtes Leiden (hier: Taubstummheit) bei der Beurteilung des verbliebenen Leistungsvermögens im Zusammenhang mit der Feststellung des Versicherungsfalles außer Ansatz zu lassen (vgl BSG vom 1979-03-28 4 RJ 35/78). Entscheidend für den Rentenanspruch ist vielmehr, ob bei Würdigung des Gesamtzustandes des Versicherten die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.
Normenkette
RVO § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 14.10.1982; Aktenzeichen L 1 J 24/80) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 31.03.1980; Aktenzeichen S 12 J 84/79) |
Tatbestand
Der im Jahr 1931 geborene Kläger ist von Kindheit an gehörlos. Er hat keinen Beruf erlernt. Von 1944 bis Oktober 1978 arbeitete er als Buchbindergehilfe, Druckereigehilfe, Hilfsarbeiter im Betonwerk, im Parkettgeschäft, in einer Möbelfabrik sowie in einem Gipsereibetrieb, als Montierer in einer Maschinenfabrik, als Postschaffner, als Bauhelfer und als Maschinenarbeiter in einem Preßwerk. Bei Aufnahme der Erwerbstätigkeit war er in der Lage, die Tätigkeiten im wesentlichen auszuführen, das Gehörleiden hinderte ihn daran nicht wesentlich. Erst durch das Hinzutreten von orthopädischen und internistischen Leiden im Jahr 1978 sank seine Erwerbsfähigkeit herab. Er ist jetzt nur noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten in wechselnder Haltung, in geschlossenen Räumen und unter weiteren Einschränkungen vollschichtig auszuführen.
Nachdem ein im Jahr 1976 gestellter Rentenantrag abgelehnt worden war, beantragte der Kläger im November 1978 erneut Rente. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 22. Januar 1979 den Antrag ab, weil weder Berufs- noch Erwerbsunfähigkeit vorliege.
Das Sozialgericht (SG) hat auf die Klage hin mit Urteil vom 31. März 1980 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, bei dem Kläger Erwerbsunfähigkeit ab Antragstellung anzuerkennen und die entsprechende Rente zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 14. Oktober 1982 die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ua ausgeführt: Die Wartezeit von 60 Kalendermonaten sei erfüllt. Für den Kläger sei der Arbeitsmarkt verschlossen. In der Wirklichkeit der Arbeitswelt bestehe keine reale Chance für den Kläger, die verbliebene Erwerbsfähigkeit zu verwerten. Grundsätzlich sei in dem Rechtsstreit die Frage, ob ein Leiden, das bereits bei Beginn der Versicherung bestanden habe, zur Rentengewährung führen könne.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1247 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt ua vor: Das LSG habe nicht erwähnt, daß der Kläger in der Lage sei, Gesprochenes vom Munde abzulesen. Trotz der gesundheitlichen Einschränkungen sei eine ganze Reihe von Verweisungstätigkeiten denkbar. Die Gehörlosigkeit des Klägers dürfe rechtlich keine Berücksichtigung finden, da sie bereits vor Eintritt in das Erwerbsleben vorhanden gewesen und damit in die Versicherung eingebracht worden sei. Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Auf den Schriftsatz seiner Prozeßbevollmächtigten vom 28. Januar 1983 wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der Kläger hat, wie mit den Vorinstanzen zu entscheiden ist, einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gegen die Beklagte.
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhält der Versicherte, der erwerbsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist; erwerbsunfähig ist der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen ... auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht (mehr) ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (§ 1247 Abs 1 und 2 RVO).
Für die Erfüllung der Wartezeit sieht das Gesetz zwei Möglichkeiten vor (vgl dazu BSGE 49, 202 = SozR 2200 § 1247 Nr 28 und SozR 2200 § 1247 Nr 29): Für den Versicherten muß entweder vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten oder vor der Antragstellung eine Versicherungszeit von 240 Kalendermonaten zurückgelegt sein (§ 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst a und b RVO).
Das LSG hat festgestellt, daß die kleine Wartezeit erfüllt ist, Revisionsrügen sind dagegen nicht erhoben. Der Kläger ist auch seit November 1978 erwerbsunfähig. Er ist als Gehörloser nur noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten in wechselnder Haltung, in geschlossenen Räumen und unter weiteren Einschränkungen vollschichtig auszuführen. Gegen diese Feststellung des LSG wendet die Revision ein, der Kläger könne noch mittelschwere Arbeiten verrichten, er sei auch in der Lage, Gesprochenes vom Munde abzulesen. Da der Senat an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden ist, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 SGG), könnte die Revision insoweit nur Erfolg haben, wenn sie eine Verfahrensrüge iS des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG fristgemäß vorgetragen hätte. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Beklagte hat nicht, wie das erforderlich gewesen wäre, Tatsachen bezeichnet, aus denen sich ein Verfahrensmangel, also ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das gerichtliche Verfahren regelt, ergibt. Sie führt zwar aus, drei Fachgutachter hätten mittelschwere Arbeiten für zumutbar gehalten, auch sei die Fähigkeit des Klägers, Gesprochenes vom Munde abzulesen, in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG erkennbar gewesen, und deutet damit an, das LSG habe die Beweise falsch gewürdigt; damit rügt sie aber keinen Verfahrensmangel. Infolge dieser gesundheitlichen Einschränkung ist der Kläger nicht in der Lage, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Auch das hat das LSG festgestellt; es hat dazu ausgeführt: Zwar bedürfe es grundsätzlich bei der Verweisung ungelernter Versicherter keiner konkreten Benennung von Verweisungstätigkeiten. Das sei jedoch dann anders, wenn der Versicherte selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch mit vielfältigen und erheblichen Einschränkungen ausüben könne, wie das beim Kläger der Fall sei. Eine Verweisungstätigkeit für den Kläger könne nicht benannt werden. Wegen der orthopädischen Leiden kämen manuelle Tätigkeiten, bei denen bestimmte Arbeitsvorgänge häufig wiederholt werden müßten, nicht in Betracht. Auch schieden sämtliche Arbeiten im Freien aus. Infolge seiner Gehörlosigkeit sei der Kläger schließlich auch nicht in der Lage, Tätigkeiten als Pförtner, Telefonist oder Fahrstuhlführer zu verrichten. Das LSG sieht unter diesen Umständen den Arbeitsmarkt für den Kläger als verschlossen an und führt aus, an sich könne zwar für vollschichtig einsatzfähige Versicherte der Arbeitsmarkt unberücksichtigt bleiben, etwas anderes gelte aber dann, wenn der Versicherte - wie hier der Kläger - von besonders gearteten Leiden betroffen sei, die die wirtschaftliche Ausnutzung der Arbeitskraft unmöglich machten. Damit hält es sich im Rahmen der Rechtsprechung des BSG (vgl SozR 2200 § 1247 Nr 33 mwN). Es stellt zudem aufgrund einer Auskunft des Landesarbeitsamtes fest, daß diejenigen Tätigkeiten, die der geminderten Leistungsfähigkeit des Klägers entsprächen, nur "im Einzelfall für leistungsgeminderte Betriebsangehörige von dem Unternehmen eingerichtet" würden (vgl dazu BSG SozR Nr 22 zu § 46 RKG Bl Aa 26 R und Urteil vom 17. September 1981 - 4 RJ 101/80 - S 5 der Ausfertigung).
Zwar erhebt die Beklagte gegen die Feststellung des LSG, daß der Kläger bei Eintritt in das Berufsleben die von ihm ausgeübten Erwerbstätigkeiten im wesentlichen ausgefüllt hat, nunmehr keine Einwände mehr. Sie meint aber, die Taubheit dürfe, da von Anfang an vorhanden gewesen, rechtlich ... keine Berücksichtigung finden. Indessen gibt es in der gesetzlichen Rentenversicherung keinen Grundsatz, ein sog eingebrachtes Leiden bei der Beurteilung des verbliebenen Leistungsvermögens im Zusammenhang mit der Feststellung des Versicherungsfalles außer Ansatz zu lassen (BSGE 25, 227, 229 f = SozR Nr 62 zu § 1246 RVO; Urteil vom 28. März 1979 - 4 RJ 35/78 ; Zweng/Scheerer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Anm II 2 B zu § 1246 RVO, Seite 13). Die Revision beruft sich zwar auf eine angeblich gegenteilige "ständige Rechtsprechung des BSG", erläutert das aber nicht weiter und gibt insbesondere keine Belegstellen an. Was das BSG zum sog eingebrachten Leiden entschieden hat, betrifft die hier nicht vergleichbaren und auch nur für die Berufsunfähigkeitsrente bedeutsamen Fälle, daß ein Versicherter bei Eintritt in das Arbeitsleben zwar erwerbsfähig, aber durch ein eingebrachtes Leiden gehindert war, den von ihm angestrebten und ausgeübten Hauptberuf - zB einen Lehrberuf - vollständig auszufüllen; dann scheidet der Versicherungsschutz nicht etwa voll aus, es ändert sich aber der Berufsschutz, so daß bei der Prüfung der Verweisung uU nicht von dem Lehrberuf, sondern von einem geringer bewerteten Beruf auszugehen ist (vgl zB BSGE 22, 140 = SozR Nr 24 zu § 35 RKG aF).
Schließlich hat das LSG auch festgestellt, daß das Herabsinken der Leistungsfähigkeit des Klägers durch Krankheit, nämlich durch das Hinzutreten orthopädischer und internistischer Leiden im Jahr 1978, verursacht worden ist.
Da sonach die Voraussetzungen für den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 Abs 1 und 2 iVm Abs 3 Satz 1 Buchst a RVO erfüllt sind, war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen. Das vom LSG aufrechterhaltene Urteil des SG hat den Beginn der zugesprochenen Rente nicht konkret festgelegt; es war entsprechend zu ergänzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen