Entscheidungsstichwort (Thema)
Freiwillige Mitgliedschaft in der knappschaftlichen Krankenversicherung und Beitragszahlung
Leitsatz (amtlich)
Bei der Prüfung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ist eine objektiv rechtswidrige Satzungsbestimmung einer unrichtigen Auskunft des Versicherungsträgers gleichzustellen (Anschluß an und Fortführung von BSG 1980-02-21 5 RKn 19/78 = BSGE 50, 12 = SozR 2200 § 313 Nr 6).
Leitsatz (redaktionell)
Wer auf Grund der Satzungsbestimmungen der Ruhrknappschaft seinerzeit es unterlassen hat, seine Krankenversicherung infolge der hohen Beitragsbelastung freiwillig fortzusetzen, hat nach dem Urteil des BSG vom 30.3.1977 5 RKn 19/76 = SozR 2600 § 120 Nr 1 einen sozialversicherungsrechtlichen Herstellungsanspruch. Eine Beitragsnachentrichtung ist jedoch nicht zulässig, weil eine solche gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen würde.
Normenkette
RKG § 20; RVO § 313; BKnSa
Verfahrensgang
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 27.01.1982; Aktenzeichen S 21 (8) Kn 14/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, der knappschaftlichen Krankenversicherung (KV) als freiwilliges Mitglied beizutreten.
Der Kläger, der am 31. Oktober 1969 aus dem Bergbau ausgeschieden ist und wegen des Bezugs des Knappschaftsruhegeldes der knappschaftlichen KV der Rentner (KVdR) angehört, unterließ es, bei der Beklagten die freiwillige Weiterversicherung in der knappschaftlichen KV anzuzeigen, weil er die hierfür damals vorgesehenen Beitragssätze als zu hoch empfand.
Nachdem der erkennende Senat mit Urteil vom 30. März 1977 (SozR 2600 § 120 Nr 1) entschieden hatte, daß die satzungsmäßig festgesetzten Beiträge für diejenigen Versicherten zu hoch bemessen seien, die zunächst die Leistungen der knappschaftlichen KVdR und nur für den dann noch verbleibenden Rest der Aufwendungen die freiwillige KV in Anspruch nehmen, setzte die Beklagte mit der am 1. Juli 1977 in Kraft getretenen Satzungsänderung die Beiträge für diese Versicherten herab. Des weiteren beschloß der Vorstand der Beklagten am 19. Juni 1980, daß allen Rentnern, die bei Aufgabe der Bergarbeit und Übergang zum Rentenbezug in einem Zeitpunkt nach Inkrafttreten der Satzung der Bundesknappschaft (1. Oktober 1970) auf die freiwillige Weiterführung ihrer Mitgliedschaft verzichtet haben, dann ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zusteht, wenn sie erklären, daß sie seinerzeit die Anzeige zur freiwilligen Weiterversicherung nach § 313 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) wegen der unrechtmäßigen Beitragshöhe unterlassen haben und diese Anzeige bei einem entsprechenden Hinweis auf die bevorstehende Klärung der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Beitragsgestaltung abgegeben hätten, und wenn sie außerdem die Anzeige bis zum 31. Dezember 1977 nachgeholt haben.
Der Kläger hatte sich im November 1977 bei der Beklagten erfolglos um die Weiterversicherung in der knappschaftlichen KV bemüht. Sein weiterer am 14. April 1978 gestellter "Antrag" wurde ebenfalls abgelehnt und daraufhin am 24. Juli 1980 von ihm zurückgenommen. Sein gleichzeitiges Bemühen um die Wiederaufnahme zum 1. August 1980 wurde mit der Begründung abgelehnt, daß der Kläger vor dem 1. Oktober 1970 aus der knappschaftlichen KV ausgeschieden sei und außerdem eine Antragstellung nach Rücknahme nicht möglich sei. Gegen diesen Bescheid vom 15. August 1980 legte der Kläger erfolglos Widerspruch ein (Widerspruchsbescheid vom 10. November 1980).
Das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte verurteilt, den Kläger ab 1. August 1980 als freiwilliges Mitglied aufzunehmen (Urteil vom 27. Januar 1982). Für die von der Ruhrknappschaft in ihrer Satzung zu hoch festgesetzten Beitragssätze für Versicherte, die zunächst die Leistungen der knappschaftlichen KVdR und nur für den dann noch verbleibenden Rest der Aufwendungen die freiwillige KV in Anspruch nehmen, habe die Beklagte als Rechtsnachfolgerin einzustehen. Sie habe aufgrund ihrer Betreuungspflicht den Antrag des Klägers vom November 1977 nicht zurückweisen dürfen, da ihr die Rechtswidrigkeit der Beitragsregelung ihrer Rechtsvorgängerin bekannt gewesen sein mußte. Diese Zurückweisung löse den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch aus mit der Folge, den Kläger so zu stellen, wie er ohne die rechtswidrige Satzungsbestimmung stehen würde. Auf die zeitliche Begrenzung des Wiedereintrittsrechts bis zum 1. Oktober 1970 könne sich die Beklagte nicht berufen, da diese gegen Art 3 Grundgesetz (GG) verstoße. Ein Anspruch auf freiwillige Mitgliedschaft bestehe aufgrund des entsprechenden Klägerantrags ab dem 1. August 1980, da er ihn zu diesem Zeitpunkt erst geltend gemacht habe.
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil mit Einverständnis des Klägers die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt Verletzungen des materiellen Rechts, insbesondere der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs durch das Erstgericht.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 27. Januar 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die vom SG zugelassene und mit Zustimmung des Klägers eingelegte Sprungrevision der Beklagten ist zulässig, hat aber im Ergebnis keinen Erfolg.
Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Aufnahme als freiwilliges Mitglied in der knappschaftlichen KV ist der sozialrechtliche Herstellungsanspruch. Dieses richterrechtliche Institut ist von der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für den Fall entwickelt worden, daß der Versicherungsträger eine ihm gegenüber dem Versicherten obliegende Nebenpflicht aus dem Sozialrechtsverhältnis - insbesondere zur Auskunft, Beratung und Betreuung - verletzt und dem Versicherten dadurch sozialrechtlich ein Schaden zugefügt wird. Der Anspruch ist auf Vornahme einer mit Recht und Gesetz im Einklang stehenden Amtshandlung zur Herbeiführung derjenigen Rechtsfolgen gerichtet, die eingetreten wären, wenn der Versicherungsträger die ihm obliegenden Pflichten ordnungsgemäß wahrgenommen hätte, wobei die Pflichtverletzung ursächlich für den sozialrechtlichen Schaden des Versicherten gewesen sein muß (vgl hierzu eingehend Urteil des erkennenden Senats vom 21. Februar 1980 - 5 RKn 19/78 - in BSGE 50,12 = SozR 2200 § 313 Nr 6 mwN).
Der erkennende Senat hat durch sein weiteres Urteil vom 21. Februar 1980 (5RKn27/78 = USK 8013) den Versicherten, die wegen der unrechtmäßig zu hoch festgesetzten Beiträge die nach § 20 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) iVm § 313 Abs 2 RVO notwendige Anzeige über die Fortsetzung der Mitgliedschaft in der knappschaftlichen KV innerhalb der gesetzlichen Frist zu einer Zeit unterlassen hatten, als die Klärung der Rechtmäßigkeit der satzungsmäßigen Beitragshöhe bereits zu erwarten war, einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zugebilligt. Er setzt voraus, daß sie die Fortsetzung der Mitgliedschaft fristgerecht erklärt hätten, wenn die Beklagte sie auf die zu erwartende Klärung hingewiesen hätte und beinhaltet, daß sie nach Bekanntgabe der geänderten Beitragssätze innerhalb der Frist des § 313 Abs 2 RVO die für die freiwillige Weiterversicherung erforderliche Anzeige nachholen können.
Hier liegt der Sachverhalt insoweit anders, als zu dem Zeitpunkt, in dem der Kläger die für eine freiwillige Weiterversicherung erforderliche Anzeige hätte abgeben müssen (= November 1969), noch kein Verfahren zur Klärung der Rechtmäßigkeit der satzungsmäßigen Beitragshöhe anhängig war, das die Beklagte zu einem entsprechenden Hinweis hätte veranlassen können. Vielmehr beruhte die damalige Entscheidung des Klägers, die freiwillige Weiterversicherung in der knappschaftlichen KV zu unterlassen, unmittelbar auf seiner Kenntnis von der in der Satzung hierfür vorgesehenen Beitragshöhe. Für diesen Sachverhalt kann jedoch nichts anderes gelten, als in den vom erkennenden Senat in den Urteilen vom 21. Februar 1980 aaO entschiedenen Fällen. Es kommt entscheidend darauf an, daß der unrechtmäßig zu hoch bemessene Beitragssatz zur freiwilligen Krankenversicherung für Versicherte, die zunächst Leistungen der KVdR und nur für den dann noch verbleibenden Rest der Aufwendungen die freiwillige KV in Anspruch nehmen (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 30. März 1977 - 5 RKn 19/76 - in SozR 2600 § 120 Nr 1 zur Rechtswidrigkeit der Beitragshöhe), aus der veröffentlichten Satzung der Ruhrknappschaft ersichtlich war. Diese objektiv rechtswidrige Satzungsbestimmung ist nämlich im Rahmen eines bestehenden Sozialrechtsverhältnisses bei der Prüfung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs einer unrichtigen Auskunft gleichzustellen.
Der erkennende Senat hat diese Gleichstellung bereits im Urteil vom 21. Februar 1980 - 5 RKn 19/78 - (aaO) in Erwägung gezogen, sie aber wegen des konkreten Anlasses zur Aufklärung durch die Beklagte dahingestellt gelassen. Auch nach erneuter Prüfung sieht der Senat keinen sachlich gerechtfertigten Grund, den Versicherten, dem der Versicherungsträger aufgrund einer erbetenen Auskunft die satzungsmäßig festgesetzte Beitragshöhe nennt, anders zu behandeln, als denjenigen, der sich aufgrund eigener Initiative die Kenntnisse direkt oder indirekt aus der Satzung verschafft und sodann im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit der maßgeblichen Satzungsvorschrift seine Dispositionen trifft. Damit gehen die Ausführungen der Revision über die subjektive Erkennbarkeit der Unrechtmäßigkeit fehl. Diese liegt nach der Rechtsprechung des BSG nur in den Fällen der Unterlassung einer gebotenen Beratung und Aufklärung seitens des Versicherungsträgers vor, auf die der Senat in den Urteilen vom 21. Februar 1980 (aaO) entscheidend abgestellt hat. Wenn aber - wie ausgeführt - die rechtswidrige Satzungsbestimmung einer konkret erteilten, rechtswidrigen Auskunft gleichzustellen ist, besteht der Herstellungsanspruch auch dann, wenn der Versicherte bei seiner Kenntnisnahme vom Satzungsinhalt von dessen Richtigkeit ausgehen durfte. Insoweit trägt die Beklagte für die Richtigkeit der Satzungsbestimmung über die Beitragshöhe verschuldensunabhängig ebenso das Risiko wie im Falle einer auf die Satzung gestützten Auskunft zu einer objektiv ungeklärten Rechtsfrage (vgl BSGE 49, 76, 78 und BSG SozR 3100 § 44 Nr 11 jeweils mwN).
Damit im Einklang hat die Beklagte durch Beschluß ihres Vorstandes vom 19. Juni 1980 aufgrund der Entscheidungen des Senats vom 21. Februar 1980 aaO die Einräumung eines Herstellungsanspruchs auch nicht von einer Auskunftsverpflichtung im Einzelfall, sondern davon abhängig gemacht, daß die Anzeige der freiwilligen Weiterversicherung nach § 313 Abs 2 RVO bis zum 31. Dezember 1977 nachgeholt und die Anzeige anläßlich der Aufgabe der Bergarbeit und des Überganges zum Rentenbezug wegen der unrechtmäßigen Beitragshöhe nach dem Inkrafttreten ihrer Satzung am 1. Oktober 1970 unterlassen worden ist. Diese zeitliche Begrenzung ist indes rechtlich nicht haltbar, weil die für den Herstellungsanspruch rechtlich relevanten Gründe vor und nach diesem Stichtag vorliegen können. So bestand nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil bereits beim Ausscheiden des Klägers aus dem Bergbau am 31. Oktober 1969 die satzungsmäßig festgelegte und im Urteil des Senats vom 30. März 1977 aaO als rechtswidrig beurteilte Beitragsregelung, die nach den weiteren - gemäß § 161 Abs 4 SGG mit der Sprungrevision nicht mit Verfahrensrügen angreifbaren - Feststellungen des SG den Kläger damals auch veranlaßt hatte, die bis dahin bestehende freiwillige Mitgliedschaft in der knappschaftlichen KV nicht fortzusetzen. Bei dem damaligen rechtswidrig überhöhten Beitragssatz handelte es sich aber bereits um eine Satzungsbestimmung der Beklagten. Denn aufgrund des Gesetzes zur Errichtung der Bundesknappschaft (Bundesknappschafts-Errichtungsgesetz -BKnEG-) vom 28. Juli 1969 (BGBl I 1969, 974 ff) war die Beklagte schon mit Wirkung vom 1. August 1969 Rechtsnachfolger der Ruhrknappschaft und damit Berechtigte und Verpflichtete aus der von der Ruhrknappschaft erlassenen und weitergeltenden Satzung geworden. Die Beklagte durfte deshalb den Herstellungsanspruch nicht auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der unter ihrem Namen erlassenen Satzung (1. Oktober 1970), die hinsichtlich der bisherigen - rechtswidrigen - Beitragshöhe keine Änderung gebracht hatte, begrenzen. Zu Recht hat insoweit das SG einen sachlich ausreichenden Grund für eine unterschiedliche Behandlung der vor und nach dem 1. Oktober 1970 aus dem Bergbau ausgeschiedenen Versicherten vermißt.
Da der Kläger den ihm nach alledem zustehenden Herstellungsanspruch bereits im November 1977 geltend gemacht und damit die Anzeige iS des § 313 Abs 2 RVO entsprechend dem Vorstandsbeschluß der Beklagten vom 19. Juni 1980 auch fristgerecht abgegeben hat, ist er dadurch kraft Gesetzes freiwilliges Mitglied der knappschaftlichen KV geworden. Bei der damals abgegebenen Anzeige zur Ausübung des Rechts auf freiwillige Weiterversicherung handelt es sich um eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung zur rückwirkenden Gestaltung des Versicherungsverhältnisses, die gemäß § 130 Abs 1 iVm Abs 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) mit dem Zugang wirksam geworden ist (vgl BSGE 19, 173, 177 = SozR Nr 4 zu § 313 RVO). Infolge der konstitutiven Wirkung der Anzeige steht der Wirksamkeit der Weiterversicherung auch nicht die Zurückweisung des Antrags durch die Beklagte entgegen, da sie weder über ein derartiges Recht verfügte noch die Anzeige einer Annahme bedurfte (vgl BSGE 14, 104, 107 und BSG-Urteil vom 23. Juni 1965 - 11 RA 126/64 - in SGB 1967, 76).
Auf die bestehende Mitgliedschaft des Klägers in der knappschaftlichen KV ist auch der am 14. April 1978 gestellte Wiederaufnahmeantrag sowie dessen Rücknahme vom 24. Juli 1980 ohne Einfluß. In der Rücknahme ist kein Antrag auf Beendigung der Mitgliedschaft zu sehen, denn sie ist akzessorisch zum Wiederaufnahmeantrag. Da dieser wegen der bereits bestehenden Mitgliedschaft keine rechtliche Wirkung entfaltet hatte, konnte auch die Rücknahme nicht zur Beseitigung der Mitgliedschaft führen.
Die somit bereits durch die Anzeige vom November 1977 begründete freiwillige Mitgliedschaft des Klägers kann allerdings keine rückwirkende Verpflichtung des Klägers zur Beitragsleistung auslösen. Einem derartigen Anspruch der Beklagten für die zurückliegende Zeit würde der Einwand von Treu und Glauben entgegenstehen. Der Rechtsmißbrauch (venire contra factum proprium) wäre darin zu sehen, daß die Beklagte den Kläger - wenn auch infolge Unkenntnis von der kraft Gesetzes im November 1977 begründeten freiwilligen Mitgliedschaft in der knappschaftlichen KV - als Nichtmitglied behandelt hat.Für die zurückliegende Zeit hat die für das Versicherungsverhältnis erforderliche Wechselbeziehung zwischen Beitragspflicht und Leistungsansprüchen gefehlt. Insoweit wird auf die weitere Begründung des Urteils vom heutigen Tage in der Sache 5a RKn 3/83 Bezug genommen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen