Leitsatz (redaktionell)

Zur Frage der Grenzen freier richterlicher Überzeugungsbildung, bei der Beurteilung medizinischer Fragen.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Januar 1967 wird aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 14. März 1966 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1940 geborene Kläger verlor am 1. Oktober 1963 durch einen Arbeitsunfall an der rechten Hand das End- und Mittelglied des Zeigefingers, das End-, Mittel- und zum Teil das Grundglied des Mittelfingers sowie das Endglied und 2/3 des Mittelgliedes des Ringfingers. Die Beklagte bewilligte ihm deshalb entsprechend dem Vorschlag des von ihr gutachtlich gehörten Facharztes für Chirurgie Dr. K durch Bescheid vom 12. Mai 1965 vorläufige Rente von 40 v.H. und vom 23. September 1964 an von 30 v.H. der Vollrente.

Der Kläger war mit der Rentenminderung nicht einverstanden. Mit seiner beim Sozialgericht (SG) Speyer erhobenen Klage hat er begehrt, ihm weiterhin Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. zu gewähren.

Aufgrund des Gutachtens der Chirurgischen Abteilung des Diakonissenkrankenhauses S vom 17. Juli 1965 setzte die Beklagte durch Bescheid vom 23. August 1965 die Dauerrente unter Zugrundelegung einer MdE um 30 v.H. fest.

Der vom SG als Sachverständige gehörte Facharzt für Chirurgie Dr. C ist der Ansicht, daß die MdE von der Beklagten zutreffend bewertet worden sei.

In der mündlichen Verhandlung am 7. Februar 1966 hat das SG von der verletzten Hand des Klägers Augenschein genommen und den Kläger mit dieser Hand verschiedene Gegenstände ergreifen lassen. Ein ärztlicher Sachverständiger ist bei der Einnahme des Augenscheins nicht zugegen gewesen. Auf Vorschlag des Gerichts haben sich die Beteiligten durch Prozeßvergleich geeinigt, daß die Beklagte vom 23. September 1964 an Rente nach einer MdE um 35 v.H. gewährt. Diesen Vergleich hat die Beklagte - unter Berufung auf das von ihr vorbehaltene Widerrufrecht - widerrufen.

Durch Urteil vom 14. März 1966 hat das SG - entsprechend dem geänderten Antrag des Klägers - die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 12. Mai 1965 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 23. September 1964 verurteilt, dem Kläger vom 23. September 1964 an Rente in Höhe von 35 v.H. der Vollrente zu gewähren. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:

Obwohl die ärztlichen Gutachter übereinstimmend die MdE auf 30 v.H. schätzten, sei insbesondere aufgrund des Ergebnisses der Einnahme des Augenscheins der Grad der MdE um 5. v.H. höher zu bewerten. Der Kläger sei nicht in der Lage, die Stümpfe der unfallverletzten Finger in die Innenhand einzuschlagen. Ein meßbarer Arbeitswert komme den Fingerstümpfen nicht zu. Vielmehr verdiene das Vorbringen des Klägers Glauben, daß ihm diese bei manchen Arbeiten sogar hinderlich seien. Dies beweise eine verkrustete Narbe auf dem Mittelfingerstumpf. Der Kläger habe angegeben, daß sie von einer Verletzung herrühre, die er sich - wie schon des öfteren - bei der Arbeit durch Anstoßen zugezogen habe. Die Fingerstümpfe seien auch nicht glatt, insbesondere sei der Stumpf des Ringfingers verdickt; dieser behindere mithin den Kläger bei der Arbeit in besonderem Maße. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände sei die MdE auf 35 v.H. zu schätzen. Dies sei auch gerechtfertigt, bei einem Vergleich mit den im "Rentenmann" von Liniger-Molineus vorgeschlagenen Rentensätzen. Hier werde bei Verlust der Finger 2-4 eine MdE um 40 v.H. und bei Fehlen der Finger 3-5 eine MdE um 30 v.H. angenommen. Die Verletzungen des Klägers seien derart, daß sie eine zwischen diesen beiden MdE-Graden liegende Bewertung rechtfertigten. Eine Minderbewertung vom 10 v.H. wegen der dem Kläger noch verbliebenen Stümpfe an den Fingern 2-4 erscheine nicht gerecht.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz durch Urteil vom 13. Januar 1967 die Entscheidung des Erstgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Seine Entscheidung hat das Berufungsgericht im wesentlichen wie folgt begründet:

Die Berufung sei zwar, soweit die vorläufige Rente im Streit sei, an sich nach § 145 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und, soweit die Höhe der Dauerrente streitig sei, nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen. Sie sei aber ungeachtet dessen nach § 150 Nr. 2 SGG zulässig, weil die Beklagte zu Recht einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des SG gerügt habe. Dieses habe sich über die Ansicht der ärztlichen Gutachter, obwohl diese übereinstimmend die MdE auf 30 v.H. schätzten, hinweggesetzt und damit die gesetzlichen Grenzen freier richterlicher Überzeugungsbildung überschritten. Zwar sei es dem Tatsachengericht nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei der Schätzung des Grades der MdE nicht verwehrt, aufgrund der Lebenserfahrung Umstände zu berücksichtigen, die nicht auf medizinischem Gebiet lägen. Das SG sei aber nicht aufgrund solcher Erwägungen von den ärztlichen Gutachten abgewichen, es habe vielmehr aufgrund einer Augenscheineinnahme ohne Zuziehung eines ärztlichen Sachverständigen die Unfallverletzung des Klägers aus eigener Anschauung bewertet, ohne die dazu erforderliche Sachkunde zu besitzen. Damit habe das Erstgericht § 128 Abs. 1 SGG verletzt. Die sonach zulässige Berufung sei auch begründet, denn nach ständiger Rechtsprechung seien die Gerichte in der Regel nicht befugt, die Feststellung der MdE um nur 5 v.H. zu ändern. Davon abzuweichen bestehe angesichts der von den ärztlichen Gutachtern übereinstimmend vorgenommenen Schätzung mit 30 v.H., welche mit den von Liniger-Molineus aus R aufgestellten Tabellenwerten in Einklang stünden, keine Veranlassung.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er ist der Ansicht, daß das SG die gesetzlichen Grenzen freier richterlicher Beweiswürdigung nicht überschritten habe, das LSG somit die Berufung als unzulässig hätte verwerfen müssen und nicht in der Sache hätte entscheiden dürfen.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten als unzulässig zu verwerfen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Das Rechtsmittel des Klägers hat Erfolg.

Das Berufungsgericht hat die Revision zwar nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Diese ist jedoch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.

Die Prüfung der Statthaftigkeit der Revision durch den erkennenden Senat hat sich auch darauf zu erstrecken, ob nicht bereits die Berufung unstatthaft gewesen ist (BSG 1, 126, 128). Ein solcher bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu berücksichtigender Mangel ist, wenn - wie vorliegendenfalls - die Revision nicht zugelassen worden ist, für das Revisionsgericht indessen nur beachtlich, wenn dieser Mangel formgerecht innerhalb der Revisionsbegründungsfrist gerügt worden ist (Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., Stand Mai 1968, Anm. 1 zu § 169 SGG). Dies ist hier der Fall.

Die Berufung war, wie das Berufungsgericht nicht verkannt hat, in der vorliegenden Streitsache nach § 145 Nr. 3 und 4 SGG ausgeschlossen. Die Auffassung des LSG, diese Ausschließungsgründe seien wegen § 150 Nr. 2 SGG nicht gegeben, trifft nicht zu. Das Verfahren des Berufungsgerichts leidet somit an einem wesentlichen Mangel, weil es die Berufung nicht als unzulässig verworfen, sondern in der Sache entschieden hat (BSG 2, 229, 235; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 31.7.68, Band I S. 250 v).

Das Berufungsgericht sieht die Voraussetzungen des § 150 Nr. 2 SGG als gegeben an, weil das SG die Verfahrensvorschrift des § 128 Abs. 1 SGG verletzt habe. Das Erstgericht ist bei der Schätzung des Grades der MdE allerdings von der übereinstimmenden Bewertung der ärztlichen Sachverständigen abgewichen. Allein dieser Umstand läßt im allgemeinen aber nicht den Schluß zu, daß das Gericht die gesetzlichen Grenzen freier richterlicher Überzeugungsbildung überschritten hat (SozR Nr. 25 zu § 128 SGG). Zwar ist der Senat in Übereinstimmung mit anderen Senaten des BSG grundsätzlich der Auffassung, daß § 128 SGG verletzt ist, wenn ein Gericht bei Beurteilung medizinischer Fragen ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe sich über die Äußerungen der ärztlichen Sachverständigen hinwegsetzt und an deren Stelle seine eigene Meinung vertritt. Nach der Auffassung des Senats ist das Gericht jedoch den ärztlichen Gutachtern gegenüber freier gestellt, soweit darüber zu befinden ist, in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt ist. Bei der nur aufgrund einer Schätzung zu erzielenden Ermittlung des Grades der MdE muß das Gericht auch nicht auf medizinischem Gebiet liegende Umstände des Einzelfalles aufgrund der Lebenserfahrung berücksichtigen; es hat deshalb insoweit gegenüber den Vorschlägen der ärztlichen Gutachter einen Ermessensspielraum (SozR Nr. 3 zu § 608 RVO aF, Aa 2 ff). Da die durch die Folgen eines Arbeitsunfalls verursachte MdE in jedem einzelnen Fall unter Würdigung von dessen Besonderheiten festzustellen ist, kann es insoweit keine allgemein gültigen Erfahrungssätze geben (BSG 4, 147, 149). Das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts läßt nicht im einzelnen erkennen, inwiefern das SG bei der von ihm vorgenommenen Schätzung der MdE die ihm im Rahmen des § 128 SGG gesetzten - weiten - Grenzen freier, richterlicher Überzeugungsbildung überschritten haben sollte. Das Erstgericht hat, wie den Gründen seines Urteils zu entnehmen ist, sich bei seiner Schätzung nicht allein von medizinischen, sondern auch von Erwägungen anderer Art, welche für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit Unfallverletzter bedeutsam sind, leiten lassen und sich damit innerhalb des ihm eingeräumten Ermessensspielraums bewegt.

Das SG hat allerdings die von der Beklagten getroffene Feststellung der MdE in einem geringen Ausmaß, nämlich um nur 5 v.H. geändert, wozu nach ständiger Rechtsprechung die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit grundsätzlich nicht befugt sind (BSG 5, 222, 229). Insoweit würde es sich aber, falls das SG nicht ausnahmsweise berechtigt gewesen ist, von diesem Grundsatz abzuweichen, nicht um eine Verletzung des Verfahrensrechts, sondern um eine fehlerhafte Anwendung des sachlichen Rechts handeln.

Die Revision ist somit statthaft und zugleich begründet; das LSG hätte die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Da die Sache entscheidungsreif ist, war diese Entscheidung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG durch den Senat zu treffen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2285088

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